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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 20.03.1902
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-03-20
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19020320027
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902032002
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902032002
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1902
- Monat1902-03
- Tag1902-03-20
- Monat1902-03
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Nr. M Donnerstag den 20. März 1902. Anzeigen-Preis die 6 gespaltene Petitzrile 25 H. h Reklamen unter dem Redacttonsstrich (-gespalten) 75 H, vor den Familiennach- richten («gespalten) 50 Dobellattscher und Ziffernsatz entsprechend höher. — Gebühre« für Nachweisungen und Offertenannahme L5 H (excl. Porto). Extra.Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung 60.—, mit Postbeförderung 70.—. Annahmrschluß für Anzeigen: Abeud-AuSgab«: Bornüttag- 10 Uhr. Morgen-Au-gab«: Nachmittag- 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeige« sind stets an die Expedition zu richte«. Di« Expeditton ist Wochentag-ununterbrochen geöffnet vou früh 8 bis Abends 7 Uhr. Druck und Berlag vou E. Polz in Leipzig. 96. Jahrgang. Der Krieg in Südafrika. Englisch-australische Zeituugsstimmen über de» Krieg. Die Sydney „Evening News" scheint die einzige Tageszeitung in Australien zu sein, welche den Muth hat, sich deutlich auszusprechen über die Thorheit -er weiteren Truppensendungen von hier nach Südafrika. Die be treffende Zeitung schrieb vor einigen Tagen wie folgt: „Es wird Jahre und Jahre dauern, bis wir uns von der Wirkung dieses Krieges erholt haben werden. Biele un serer jungen Leute werden überhaupt nie wieder von Südafrika zurückkommen,' Diejenigen, welche zurückkom men, werden nie für dauernd einen festen Platz haben und werden ferner noch gesundheitlich und moralisch von den durchgemachtcn Erfahrungen zu leiden haben. Man nehme 1000 junge Leute im besten Mannesalter: man kann diese Männer nicht, ohne ihre moralische Faser total zu verderben, lehren, andere Männer mit Bajonetten auf zuspießen, Häuser niederzureißen und Farmen zu ver brennen. Der australische Menschenschlag war bis jetzt einer der gütigsten und menschensreundlichsten der Welt; wie kann er so bleiben, wo dieser Krieg solch gründliche Verachtung aller persönlichen Rechte erzeugt? Diese jungen Leute sehen zu, wie jede Art von Verwüstung von der Obrigkeit gutgeheißcn wird. Es ist dies die schlechteste Erziehung, die ein Volk haben kann, und am schlimmsten ist cs noch für ein schwach bevölkertes Land, wie Australien." Die leitende katholische Zeitung in Australien, „The Advocate", schreibt: „Die Haltung, die Präsident Krüger in Bezug auf die Beendigung des Krieges in Süd afrika cinnimmt, nennt die Mehlbvurner „Age": „Lru- ttor's obstiuaov" (Krügcr's Hartnäckigkeit). Wir denken jedoch, daß „Xruxer's oongistenc^" lKrüger's Beständig keit) der beste Ausdruck ist, der in Bezug auf das Verhalten deö tapferen Greises angebracht wäre. Herr Krüger hat nie geschwankt in seinen Bedingungen, nämlich, daß nur absolute Unabhängigkeit für die Boerenftthrer annehm bar sein wird. Krüger ist ohne Zweifel kein Wetterhahn. Sogar jetzt, wo er beinahe am Grabesrands steht, ver langt er nichts weniger wie absolute Unabhängigkeit. DicS zeigt, was für ein Mann er ist. Wenn Krüger sein Vaterland und sein Volk nicht lieben würde, würde er doch sroh sein, den Krieg unter den besten von ihm zu er langenden Bedingungen zu beenden. Wie ein echter Patriot kämpfte er jedoch für ein Princip, und dieses Princip ist sein leitender Stern in allen Unterhandlungen zur Beendigung des Krieges. Die Jingos können nicht verstehen, was ein Princip ist, und verdammen deshalb Alle, die nicht in ihren „parrot-or?" mit einstimmen wollen." Die englische Antwort auf die Freigabe Methuen'S. I. 6. London, 18. März. Nach einer zwischen Milnrr und Kitchever getroffenen Bereinbarung stellen dir außerordentlichen HochverrathS-Gerichtshöfe in Natal am 1. April ihre Thätigkeit ein und werden künftig alle „Rebellen" in Natal durch Kriegsgericht abgeurtheilt. Die HochverrathS-Gerichtshöfe hatten bisher 800 „Rebellen" zu verurtheilen, haben jedoch als höchste- Strafmaß bisher ,,nur" 10 Jahre Zwangsarbeit verhängt, waS nach Auffassung Kitchener'S nicht hiureicheud abschreckend gewirkt habe. Die geplante Voeren-Ambulanz des Grafen Btllebois- Mareutl. I. 0. London, IS. März. Nach Versicherungen von Personen, welche dem KriegSamt nahesteheo, sei keine Aussicht vorhanden, daß die englische Regierung die Entsendung des vom Grafen Villebois« Mareuil, des Bruder- de- bei Boschof gefallenen Oberst von Villebois-Mareuil, geplanten ärztlichen HilfSzugrs für die Boeren gestatten werde. politische Tagesschau. * Leipzig, 20. März. Die von Herrn vr. Friedrich Lange in Berlin herausgegebene „Deutsche Zeitung" veröffentlicht heute einen Ausruf „zur Mitwirkung im nationalen^icichs- wahlverbande". Aus einer Anzahl von deutschen Städten sind Unterschriften beigegeben. Rian wird das Bcrzeichniß der Städte nnd die Namen nicht allzu streng prüfen dürfen, denn Herr Vr. Friedrich Lange hat die Reise durch das deutsche Reich ganz allein gemacht, um Anknüpfung spimcte zu finden, damit der Reichswahlverband in Erscheinung treten könne. Es wird von hundert Zufälligkeiten ab hängig gewesen sein, wenn er in verhältnißmäßig kurzer Zeit wenigstens eine größere Zahl von Ortsgruppen zu gründen bestrebt war. Immerhin bemerkt man auf den ersten Blick, daß vom Osten Preußens nur Posen und Pommern betheiligt sind, also Ostpreußen, Westpreußen und Schlesien fehlen, und daß auch im Süden des Reiches Bayern rechts des Rheins, Württemberg und Elsaß- Lothringen noch nicht angeschlossen, also wahrscheinlich noch gar nicht bereist sind. Die parlamentarischen Parteien sind überhaupt nicht betheiligt. An der ersten Sitzung, welche Herr vr. Lange im November in Hannover abhielt, hat der Reichstagsabgeordnete Blvdau theilgenommen. Seine Unterschrift fehlt aber jetzt. An der constituirenden Sitzung am 2. März, die in Berlin abgehalten wurde, hat ein Lanbtagsabgcordneter Schmidt aus der Provinz Posen theilgenommen. Auch dessen Unterschriftsuchtman ver gebens. Ebenso fehlen Unterschriften von Mitgliedern der hessischen Kammer, obwohl aus Hessen 10 Ortsgruppen betheiligt sind, und der badischen Kammer, obwohl aus Baden 11 Ortsgruppen ihre Unterschriften abgegeben haben. Dies nur zur Feststellung. Man muß jedenfalls daraus schließen, daß die parlamentarischen Parteien, so weit sie nicht etwa absichtlich übergangen sind, zunächst jede Mitwirkung vermieden haben. Der Reichswahl- verbanü steckt sich ein ziemlich enges Ziel. Die sämmtlicken Unterschriften bedeuten, wenn man den Aufruf sorgfältig durchlieft, eigentlich nichts weiter, als daß diesen, dem Parteileben etwas ferner stehenden Persönlichkeiten der Wunsch gemein ist, daß die nationalen Parteien bei Vorbereitung ihrer Wahlarbeit das Trennende etwas mehr in den Hintergrund treten, das Einigende etwas mehr wirksam werden lasten möchten. Diesen Wunsch haben natürlich auch andere Leute. Wenn cs sich nm nichts weiter handeln würbe, als um die Bekundung eines solchen Wunsches, könnte man wohl ohne Weiteres die drei Millionen Wähler unterzeichnen, die im Jahre 1898 unter nationaler Flagge segeln wollten, vielleicht auch die übergroße Mehrzahl der vier Millionen, die damals ihre Stimmen nicht abgegeben haben. Um dieser größeren I Einigung im Vorgehen bei Wahlen zu dienen, will nun der Reichswahlverband die Rolle des Vermittlers über nehmen, wo durch -en Streit von zwei oder drei einander nahestehenden Parteien das Mandat an die gegnerische Partei verloren gehen könnte. Eigene Can- didaten will er n i ch t aufstellen. Das ist allerdings eine neue Art von Einigungsversuch. Ob sie größeren Erfolg hat, als die bisherigen Versuche in der Richtung größerer Einigung auf nationalem Boden, muß die Zu kunft lehren. Wir sind weit entfernt, den idealen Ge danken und den guten Willen, der die Unterzeichner des Aufrufes beseelt, gering anzuschlagcn. Ja, wenn heute in einigen Neichstagswahlkreiscn unter dem Einfluß dieses bekundeten guten Willens vieler achtbarer Persönlichkeiten die viele Arbeit im Sinne eines besseren Zusammen- haltenö der nationialcn Parteien vorbereitet wird, so daß es dabei einer vermittelnden Thätigkeit des Reichöwahl- verbandes gar nicht bedarf, mögen sich die Unterzeichner des Aufrufes der angenehmen Gewißheit hingeben, einem guten Zwecke uneigennützig gedient zu haben. Allerdings beobachten wir schon seit Monaten, daß im Hinblick auf die nächsten Wahle» bessere Vorbereitungen als frühergetroffen werden nnd die Parteizersplitterung ernstlich bekämpft wird. Wie es scheint, hat eben schon die Erkenntniß der größeren socialdemokratischen Gefahr ihren erzieherischen Einfluß gewonnen, ohne daß es eines persönlichen Zu thuns bedurft hätte. Dort, wo diese Einigungsbestre bungen längst im Gange sind, kommt natürlich dieser Aufruf zu spät. Aber auch dort kann er ja kräftigend wirken. Das Beste würde es jedenfalls sein, wenn der Reichswahlvcrband im nächsten Jahre überhaupt nicht in die Lage zu kommen brauchte, eine praktische Probe auf seinen guten Vermittlerwillen zu machen, denn wir fürchten, daß dort, wo die Einigung nicht aus dem eigenen Entschluß der betheiligten Parteien und aus der ernsten politischen Einsicht in die Tragweite der fortdauernden Uneinigkeit gegenüber den Socialdemokraten sich voll ziehen läßt, auch das Vermitteln des nationalen Reichs- wahlvcrbandes vergebliche Mühe sein wird. Ob die vor handenen Parteiverbände nach reiflicher Prüfung des Vermittler-Mandates, welches dieser neue Verband sich selbst gegeben hat, zu einer Anerkennung dieses Mandates gelangen werden, ist uns mindestens zweifelhaft. Aber — cs muß auf die Probe ankommen. Der Verband will keine Partei sein, mehr noch, er muthet auch keinem seiner Mit glieder zu, aus dem bisherigen Verhältnis; zu einer wtrth- schaftlichen Interessengruppe auszuscheiden. Also er ver folgt lediglich einen wahltactischen Zweck. Dann muß eben die Leitung des Verbandes bei Zeiten diejenigen Wahl kreise sich auf's Korn nehmen, wo größere Einigung noth- thut, damit die Socialdemokratie wirksam bekänrpft werden kann, und muß dort an die vorhandenen Parteien nnt der Mahnung herantrcten: Denkt an die nationale Auf gabe und einigt Euch! Das wird sofort zu der Schwierig keit führen, die überall in der Auswahl derjenigen Per sonen liegt, die als Einigungscandidaten gelten können, nnd hier werden dann auch für den Reichswahlverband Schwierigkeiten sich ergeben, über deren Lösung er selbst sich kaum bereits klar geworden sein wird. Warten wir in Ruhe ab, wie das sich weiter entwickelt. Die Gefahr läßt sich nicht verkennen, daß stellenweise statt der größeren Einigung gerade das Gegenthcil bewirkt werden kann, wenn der Vermittler kraft eines Mandates, das er sich selber gegeben hat, nicht mit äußerstem Geschick und größter Vorsicht seines Amtes waltet. Im preußischen Abgeordnetenhause wird der conservativ-klerikale Antrag, der die preußische Regie rung dazu drängen möchte, sich bezüglich der Minimal sätze für Getreide im Zolltarif in Gegensatz zu sich selbst, zur Krone, zum Reichskanzler und zu den übrigen Negierungen zu setzen, vor Ostern nicht mehr zur Beratbung kommen. Das ist insofern zu begrüßen, als die Unterzeichner des Antrags bis zu seiner Berathung noch Gelegenheit er halten werden, sich über die im Kreise ibrer Wähler herr schende Stimmung zu unterrichten. Und da wird gar mancher von ihnen die Erfahrung machen, daß er nicht im Sinne der Mehrheit seiner Wähler handeln würde, wenn er noch weiter auf der Bahn ginge, auf die er sich von den „Ueberagrariern" hat drängen lassen. Dies gilt besonders von den conservativen Unterzeichnern. Jedenfalls begegnen diese in ihren Wahlkreisen nicht wesentlich anderen Auffassungen als ihre ReicbStagScollegen in den ihrigen. Und diese haben soeben eine lehrreiche Erfahrung in dem ReichstagSwahlkreise Nastcnburg-Gerpanen gemacht. Hier bat allerdings der conservative Candidat gesiegt, aber er darf mit Recht sagen: «Noch ein solcher Sieg, und ich bin verloren." Bei den letzten allgemeinen Wadlen siegte der conservative Bewerber mit 9lLl Stimmen gegen 2845 freisinnige und 3313 socia- listische Stimmen, sodaß seine Mehrheit fast genau 3000 Stimmen betrug. Diesmal sind die conservativen Stimmen zwar um etwa 500 gestiegen, aber die frei sinnigen und die socialistischen zusammen sind um 2300 gewachsen, so daß die conservative Mehrheit nur noch etwa 1100 beträgt, mithin seit den letzten Wahlen um zwei Drittel zurückgegangen ist. Dieser AuSgang aber ist für die Conservativen um so bedenklicher, als einmal der conservative Bewerber sich wohl gehütet hat, einen extrem-agrarischen Standpunct herauszukehren und dadurch die gemäßigt- cvnservativen Stimmen abzustoßen, und als zweitens ter Wahlkreis ein so typisch ländlicher ist, wie er sich in solcher Vollkommenheit selten findet. Den« von den 122 000 Bewohnern des Wahlkreises wohnen volle 100 000, also nahezu in Ortschaften von weniger als 2000 Einwohnern, also in Gemeinden von aus gesprochen ländlichen Interessen; die noch übrigen 22 000 wohnen in Orten von weniger atS 10 000 Einwohnern, also in Landstädten, die ebenfalls vorwiegend ländliche Interessen haben. Wenn in einem solchen Wahlkreise die ausgesprochenen Gegner jeder Erhöhung deS Zolltarifs von noch nicht 20 000 abgegebenen Stimmen weit über 8000 erhalten, so darf man wohl fragen, mit welcher Besugniß die extremen Agrarier die Forderungen der gesammten Landwirthschaft zu vertreten behaupten. Noch merkwürdiger ist eS, wenn angesichts dieses Wahlergebnisses die „Deutsche Tageszeitung" zu sagen wagt, die Verfechter einer strammen agrarischen WirthschaftSpolitik könnten den nächsten allgemeinen Wahlen mit ruhiger Gelassenheit entgegengehen. Die Conservativen haben eine ganze Reihe von Reichstags- Wahlkreisen inne, in denen sie bei den letzten allgemeinen Wahlen mit einer sehr viel geringeren Mehrheit gesiegt haben, als in Gerdauen. Wenn die Gegner überall ebensolche Fort schritte machen würden — und die „Deutsche Tagdsztg." be zeichnet selbst die Gerdauener Wahl als „einigermaßen vor bildlich für die nächsten allgemeinen Wahlen" — so würden die Conservativen sicherlich ein gutes Drittel ihrer ReichStagS- manvate einbüßen. Und das könnte doch den conservative» Mitgliedern deS preußischen Abgeordnetenhauses nicht gleich- giltig fein. Sie werden ja ihren Antrag schon aus Rücksicht Feuilleton. ,71 Die -rei Freunde. Roman von Robert Misch. Nachdruck vrrdorrn. So regnete es also beständig Mahnungen, Weisheiten, milde und strenge Unterweisungen. Wollte sie aber einmal zeigen, was sie konnte, wollte sie resolut im Hause herumhantiren, so gab es ein entschiedenes Veto von Seiten der Tante. In ihre Rechte durfte Niemand ein greifen, und hatte sie nun dreißig Jahre lang gekocht und den Haushalt geleitet, so wollte sie es auch ferner und bis zu ihrem Tode thun. Und das sollte nun so fortgehen, noch viele Jahre lang. Paula seufzte schwer und drückte angstvoll die beiden Hände an die Schläfen. Immer hier sitzen, zweck los, planlos, die Jugend verlieren, alt werden, ohne sich auSgelebt, ohne seine Kräfte entfaltet zu haben?! Ein ödes, freudloses Dasein. Die Kinder, daS liebe Kleeblättchen, das hatte sie freilich; und Mutterglück sollte das Höchste sein. Woher dann aber die Leere in ihrem Herzen, die unbestimmte Sehnsucht nach Glück?! Meingart und die gestrige, häßliche Scene fiel ihr ein. In fieberhafter Aufregung hatte sie die halbe Nacht nicht geschlafen, aber heute fand sie seine wilde Leiden schaft beinahe komisch und konnte milde darüber lächeln. Schließlich war eS ja eigentlich schmeichelhaft für sie, solche Gluthen angefacht zu haben. Und mit welcher Sicherheit glaubte er, der alternde Mann, der sich dem dumpfen und stumpfen Geiste hier angepaßt hatte, sie glücklich machen zu können! Er, der nichts wußte von dem heißen Sehnen nach einem Leben in Schönheit und Freiheit und Heiterkeit, nichts wußte von einer vergeistigten Existenz, von dem LoSlösen auS der Alltäglichkeit, dem sonnigen Frohsinn der Künstler. Brauchte sie doch nur einen einzigen Blick in die Briefe Leue'S zu werfen, um den Unterschied zu bemerken. DaS war Jugend, Begeisterung, Hoffnungsfreudigkett. Der Eine stumpf, von seiner Zukunft nichts mehr erhoffend, der Andere nach der Sonne langend, den Ruhm er strebend, voll Feuer und Kraft. Mochte er sich selbst überschätzen, vielleicht nie da» gesteckte Ziel erreichen, schon da» Streben danach war herrlich. Vielleicht schon morgen stand er vor ihr, der in dieser Wüste Verschmachtenden, und brachte ihr einen Athem- zug der frischen Großstadtluft, nach der sie sich so ver zehrend sehnte. Unwillkürlich breitete sie die Arme weit aus und warf den Kopf zurück mit einem glücklichen Lächeln, daß die zwei Reihen ihrer blitzenden Zähne sicht bar wurden. Der Bürgermeister Breitinger war indeß heim gekommen. Wenn er mehrere Stunden von Haufe fort gewesen, pflegte er meist vom Obstgarten aus durch die Hinterthür das Haus zu betreten. Diese Art Ucber- raschungen liebte er anßeror-entlich. Besonders seit Paula und die Kinder dem Hausstand angehörten, schnüffelte er gern heimlich herum, um zu sehen, was sie trieben, wenn sie sich nicht beobachtet wähnten. So leise wie möglich war er an ihre Thür geschlichen und hatte die Klinke niedergedrückt. So stand ihm plötz liche Paula mit ausgebreiteten Armen gegenüber, als wolle sie ihn zum Empfang zärtlich umarmen. „Hoho!" sagte der Bürgermeister. Und als sie be schämt zurücktrat, fragte er, sardonisch lächelnd: „Ihr spielt wohl Theater hier, Frau? In was für einer Roll' habt Ihr Euch grad' geübt?" Als sie schweigend sich den Kindern zuwendete, ging der Bürgermeister an den Ofen und schnüffelte auch da hinein. „Aepfel, hm, hm!" Dann lehnte er sich an die grünen Kacheln und rieb sich behaglich die Hände; offen bar gefiel eS ihm heute in Paula's Stube. Eigentlich war er gekommen, sie zu schelten und ihr ordentlich die Meinung zu sagen. Aber der stille Frieden hier beruhigte seine erregten Nerven und ließ die Sache, die ihm Meingart jetzt eben in so giftiger Weise bei- gebracht, milder anschaucn. Schließlich konnte sie doch nicht» dafür, wenn der Haderlump auS Berlin in seinen HeimathSort zurückkam. Und wenn die Schwiegertochter seinen Befehlen, die er ihr jetzt gleich geben würde, be scheiden gehorchte, so brauchte er es ihr nicht weiter nach zutragen. Paula hatte ihr Strickzeug vom Tisch genommen und sich auf da» Sopha gesetzt. Ihr Herz klopfte stürmisch. Jetzt kam gleich ein Sündenregister; denn nur au» solchem Anlaß betrat der Schwiegervater ihre Zimmer. „Wisset Ihr, Frau, daß der Schustcrssohn kommt?" Richtig, -a war eS schon! „Ja!" „Zeig' mir 'mal den Brief, in dem er'» schreibt!" „Ich ... ich hab' ihn nicht mehr." „In mein Haus braucht er keinen Schritt 'nein zu thun, das könnt Ihr ihm sag'n, dem Atheisten. Wie lang' beehrt er denn die Rohrbacher mit seiner unange nehmen Gegenwart?" „Ich weiß es nicht", sagte Paula gereizt. Nun war ihr schon die erste Freude wieder verdorben. — „Aber woher wissen denn Sie, daß Herr Leue kommt?" „Der Toctor hat mir's eben g'steckt. Und dann meint er" — der Alte schaute sie scharf an — „daß Ihr was habt mit dem gottlosen Menschen oder verschossen in ihn seid. Das glaub' ich ihm aber nct, daß Ihr Euch so etwas untersteht, wo mein Bruno erst so kurze Zeit todt ist." Paula schluckte gewaltsam die aussteigenden Thränen hinunter. Von was für Leuten war sie denn jetzt um geben, die ihr das Geheimste, Keuscheste, Schönste, ihre reinste Freundschaft, profanirten und mit ihrem Klatsch besudelten! Wie sie ihn haßte, diesen Mcingart, der bei jeder Begegnung herumspionirte, sie aushorchte bis in ihr Innerstes, um cs dann dem Schwiegervater entstellt und vergrößert zuzutragen. Jetzt gerade, gerade jetzt, wollte sie Leue als das empfangen, was er ihr war, als ihren liebsten, besten, einzigen Freund. „Wer eine bettelarme Wittib mit drei Kindern nimmt", sagte -er Alte spöttisch, „muß Geld haben, muß ein ge machter Mann sein, ein Hausbesitzer, mit einem aus kömmlichen Beruf." Da Paula nichts erwiderte, obwohl sie ihn wohl ver stand, wurde er deutlicher. „Der Doctor Mcingart, der doch gewiß gescheidt ist, meint dasselbe. Eine Wittwe, sagte er erst heut' zu mir, muß einen Wittwer heirathen. Dann haben sie einander nichts vorzuwerfcn; das Eine oder das Andere braucht nicht auf Vergangenes eifersüchtig zu sein. Ein Lediger macht sich oft später Gedanken und glaubt, irgend was versäumt zu haben." Paula crrvthete tief, stand auf und beschäftigte sich mit den Kindern. Der Bürgermeister zündete sich eine Pfeife an und rieb sich behaglich den Rücken an dem warmen Ofen. „Den Mcingart möchte überhaupt jede in der ganzen Gegend, und hier am Ort erst recht. Der ist angesehen von aller Welt. Der füllt seinen Beruf auv und ist ein Ehrenmann durch und durch. Dem kann Keiner wa» BöseS nachsagen!" „Vielleicht macht er'» nur so heimlich!" murmelte Paula, noch in der Erinnerung an die gestrige Scene erröthend. Der Schwiegervater paffte wüthenb. Es kostete ihm ohnedies eine heillose Anstrengung, so freundlich zu thun, ihm, der gewöhnt war, barsch und kurz zu be fehlen: „Das will ich, basta!" Und jetzt mußte er da auf deS DoctorS Wunsch so hintenherum schleichen, wie die Katze nm den heißen Brei. „In Rohrbach gtcbt's das nicht!" eiividertc er kurz. „Da kann man nichts heimlich thun, wie in Berlin. Hier paßt Eins aufs Andere; und wenn etwas net in Ordnung is, dann is der Herr Pfarrer da, der's von der Kanzel wettert. Und gar der Meingart! Was redet Ihr für Unsinn, Frau?! Jeden Schritt kennt man, den der Mann macht. Ihr könnet froh sein, wenn er . . . Und alt ist er auch noch net, vielleicht Fünfzig. Hat ein eigen Haus und sein Vermögen. Blos hineinsctzcn dürft' sich Eine, die er zur Frau nimmt. Ein g'fundcncs Fressen wär' daS für ein Frauenzimmer, die nichts hat als Kinder." „Ich möchte ihn nicht, und wenn er in Gold schwämme!" „He?" Der Schwiegervater hielt die Hand an das Ohr. Hatte er recht gehört? Hatte das Frauenzimmer was gesagt? „Und Einen, der sich hinter den Schwiegervater steckt", lachte Paula nervös, so Einen möcht' ich schon gar nicht." „He?" Herr Breitinger riß Mund, Augen und Ohren auf. — „Ich weiß schon, daß er mich will, der brave Herr Doctor; er läuft mir ja auf Schritt und Tritt nach. Aber ich will ihn nicht. Ich liebe ihn nicht." Zum ersten Mal im Leben war der Bürgermeister so baff, daß er nichts mehr zu sagen wußte. Am liebsten hätte er laut aufgelacht. Eiuc Wittwe mit drei Kindern, die einen reichen Arzt und Hausbesitzer haben konnte, wollte ihn auch noch lieben. Plötzlich fiel ihm Leue ein. Nun konnte er ihr eins versetzen. „Auf den Schusterssohn könnt Ihr aber nicht warten, wißt Ihr. Der ist froh, wenn er selber was zu beißen hat; der kann kein Weib ernähren, der Lump. Und in mein Haus", schrie er plötzlich in Heller Wuth, „kommt der Mensch mit keinem Fuß herein, und Ihr kommt mit keinem Fuß hinaus, so lang' er da ist. Ich lcid's nicht. Ich bin der Vormund; Ihr eßt mein Brod, und ich bin hier der Herr. Ich verbiet'» Such, daß Ihr mit dem
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