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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 24.12.1901
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1901-12-24
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19011224022
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1901122402
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1901122402
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1901
- Monat1901-12
- Tag1901-12-24
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Der Krieg in Südafrika. -p Der KampfeSmutb der Boeren sollte wieder einmal erloschen sein, Botba solle beabsichtigen, seine Capitulation anzudieten, die BuraherS, hieß rS, kämen zusammen, um über ihre Unterwerfung zu berathen, zahlreiche Boeren desertirten und traten in die Reihen der Engländer ein rc.rc. Die heute vorliegenden Meldungen zeigen doch, daß sich auf Seite der Boeren noch nichts geändert hat, sie sind im Gegen- theil energischer drauf und dran als in den letzten Wochen trotz Blockhaus und Stachelzaun und haben den Engländern eine ganze Reihe Gefechte geliefert, über die heute folgende Nachrichten eingegangen sind: * London, 23. December. Lord Kitchcner meldet vom 21. De- cembrr au» Johannesburg: De Wet griff mit etwa 800 Mann am 18. d. M. General Dartnell bei Landberg im Bethlehem-District an. Ter Feind kam bis auf 150 Uards heran, wurde aber nach mehr stündigem Kampfe zurückgetrieben; er verlor etwa 20 Mann; auf unserer Seite wurde ein Mann getödtet, 2 Osficirre und 10 Mann wurden verwundet. — General Svens berichtet: 200 Mann berittene Infanterie, die in getrennten Abtheilungen Farmen im Begenderlya-District in Transvaal akffucht«n, wurden von 300 Boeren und 40 bewaff neten Eingeborenen (?) unter Britz angegriffen; ein Theil wurde überwältigt, ehe General Svens ihnen Beistand leisten konnte. Die Verloste find schwer, Einzelheiten fehlen noch; zwei Officieresindschwervrrwundet. — In LerOranje-Colonie erreichten die Obersten Damant und Rimington, die parallel marschiren, Tafelkop. Bei Tagesanbruch am 20. d. M. über fielen plötzlich 800 Boeren unter M. Botha Damant's Borhut und besetzten trotz tapferen Widerstandes ein Kopfe, welches die Hauptmacht und die Geschütze beherrschte. Sie hielten den Punkt jedoch nur kurze Zeit besetzt; Damant vertrieb sie aus der Stellung, bevor Rimington hinzu kam; die Verluste sind jedoch schwer. Damant ist schwer verwundet,' zwei Officiere und 20 Mann sind todt, drei Osficirre und 17 Mann verwundet. Rimington nahm die Beriolgung der Boeren mit Nachdruck aus und trieb sie über den Wilge-Fluß. Die Boeren ließen 6 ToLte zurück. Rimington nahm den Comman- danten Keyler und 4 Mann gefangen. Später kam ein Boer unter dem Schutz der Parlamentärflagge und bat um die Erlaubnis, die Todten mitzunehmen; dies wurde gestattet. — Eine Depesche Kitchener's ans Johannes burg vom 22. December meldet: Oberst Mackenzie griff das Eommando von Barend Smits im District Carolina am 19. December an. 6 Boeren wurden getödtet und 16 ge fangen genommen. Die Colonue des Oberst Parks wurde im Nylstroom-District in der Nacht vom 19. December von Müller Trichaardt, der ein schwere» Geschütz mit sich führte, angegriffen. Der Feind wurde zurückgeworfen und ließ 6 Todte und 3 Ber- wundete zurück. Auf britischer Seite wurden 7 Mann getödtet, 6 Officiere und 18 Mann wurden verwundet. So viel wenigstens geht au» diesen sicherlich vom Londoner KriegSamt nä usnm popnli gefärbten Telegrammen hervor, daß die „dcmoralisirten" Boeren auch jetzt noch ihren Mann stellen und den Engländern erheblich zu schaffen macken. In zwei Gefechten waren die englischen Verluste schwer, im übrigen dielten sich die auf beiden Seiten die Waage oder lassen eS die Berichte zwischen den Zeilen erkennen, daß es sich nickt um Netto-Erfolge der Engländer handelt. Auch Major Macwicking's Schlappe im Vaalthale wird heute amt lich bestätigt. Jedenfalls liegen die Dinge nickt so, daß man von einer naben Beendigung des Verzweislungskampfes der Boeren reden könnte. Politische Tagesschau. * Leipzig, 24. December. Den gewissenhaften Parlamentarier — leider haben wir deren im Reicke nicht allzuviel — verläßt auch unter den Kerzen des WcihnacktSbaumes der Gedanke an die Politik nicht; und da selbst die „Wilden" unter ihnen mehr ober weniger an eine Partei sich gebunden fühlen, so wird auch heute Abend gar mancher Volksvertreter im Stillen von parteipolitischen Betrachtungen sich nickt losreißen können. Am beklommensten mag es dabei den Mitgliedern der „aus schlaggebenden" Partei, des bcntrnmS, werden, dem die „neue Richtung" im katboliscken Lager äußerst unbequem ist. Und gerade jetztbereitetihmderneuesten einer,Prof. Spahn, wieder trübe Stunden. Wie hatte man sich gefreut, als man erfuhr, Professor Max Lenz in Berlin habe seiner Zeil den jungen Spahn bei seinem Anträge auf Zulassung zur Habilitation auf den Gegensatz zwischen dem Princip der freienForjchung und der dogmatische» Gebundenheit aufmerksam gemacht, da er leicht in eine schwere innere Krisis hineingerathen könne; welche er wünschte Gelegenheit batte das gegeben, das Augenmerk von Spahn ab- und auf Lenz binzulcnken, den man beschuldigte, einen verwerflichen Gewissensdruck auf den jungen Gelehrten ausgeübt zu haben. Und nun kommt Spahn, spricht sich selbst über diesen angeblichen Gewissensbruck aus und äußert dabei Ansichten, die einem Centrumsmanne die Galle erregen müssen. Die Auslassung liegt im „Tag" vor, wo Spahn das Ebrhardt'scke Werk über den KaiboliciSmus im 20. Jahrhundert bespricht und den Verfasser folgendermaßen ckarakterisirt: „Albert Ebrbardt, o. ö. Professor der Kirchen geschichte an der k. k. Universität in Wien, ein Mann, de> noch in den Dreißigern steht, Elsässer von Geburt, ist — vielleicht darf man ihn so charakterisiren — der Ge'ckichts- philosopb unter seinen Freunden, nicht eigentlich eine Führer natur wie der warmblütige, ins Feuer gebende Schell oder der ausgezeichnete Taktiker Hertling." Zum Schluß macht Spahn folgende Bemerkungen: „Jin öffentlichen Leben unserer Nation schon nahezu aus geschaltete Parteirichtungen haben an den Universitäten noch eine nicht unwesentliche Vertretung. Mit jener ist der Vnlaärliberalismus gemeint, der in der Politik bereits seit zwanzig und mehr Jahren von den national und social durchgebildeten Elementen des Libera lismus abgeschüttelt worden ist. Die andere Gruppe bilden die Herren, die, grundsätzlich freiheitlich gesinnt, noch mit ihrem ganzen Herzen am alten confessionen Protestantismus hängen und z. B Preußen katholikenrein halten möchten — ich sage aus drücklich „möchten" — denn sie werden es nie über sich bringen, einen Katholiken thatsächlich zu vergewal tigen, sie werden im Gegentheil vornehm und auf richtig mit ihm Zusammenarbeiten, wenn er da ist — aber cs thut ihnen weh, wenn einer kommt. Ich denke da vor Allem zurück an einen sonnigen Maientag des Jahres 1897 — mein Lehrer Lenz und ich, sein junger Schüler, gingen im Borgarten der Berliner Universität auf und nieder, Bücher unterm Arm, und das Helmholtz-Denkmal war noch nicht errichtet. Wir plauderten von Schell, der eben erschienen war, und von Johanne- CochläuS, der noch ge schrieben werden sollte, von Politik und Wissenschaft, vom Centrum, von Getrcidepreisen und von Rom — und darüber auch von meiner Habilitation in Berlin, Wenns abeimals Frühjahr würde. Wir sprachen sehr offen miteinander, so wie es Lenz gewohnt ist und wie er es auch andern nicht übel nimmt. Einen Zwang auf seinen Schüler auszuüben, lag ihm mehr als ferne, und er wäre auch nickt weit damit gekommen. Und dann sagte er mir unter Vielem sonst ungefähr die folgenden Worte: „Lieber Freund, gehen Sie doch an irgend eine andere Universität als Privatdocent, nach Bonn oder nach Straßburg zum Beispiel? Warum gerade hier? Sie sind qualisicirt, Sie werden überall gern ausgenommen werden, und wir können Ihnen als Menschen und Gelehrten nur Empfehlungen mitgeben. Aber nur nicht in Berlin! Sehen Sie, wir sind gewohnt, Berlin als Hochburg des freien Pro- tesiantismus zu betrachten. Es ist uns schmerzlich, das geändert zu sehen." Als ich aber in der Sache fest blieb und nach einem Jahre ihn doch um seine Zustimmung sür Berlin zu bitten ging, kam er mir in seiner Wohnung auf der Augsburgerstraße entgegen — er hatte gerade meinen mittlerweile entstandenen Cochläus erhalten und gelesen — schüttelte mir beide Hände und sagte (ich werde das nie vergessen): „Das ist eine andere Weltanschauung, aber dieselbe Wissenschaft, die wir haben." lieber Eon- sejsionalismus wurde nichts weiter mehr gesprochen. Und er hielt Wort. Man kann sich keinen Ordinarius denken, der im Verkehr freundschaftlicher, in den amtlichen Beziehungen rücksichts voller ist als er — aber seinem Herzen blieb ein Leid geschehen! Und so hat wohl in dem letzten Streite vielfach das Herz ge sprochen, man hat geurtheilt nach alten, jedoch lieb und selbstver ständlich gewordenen protestantischen Anschauungen. Vielleicht trägt das Buch Ehrhard's inehr noch als andere Erklärungen dazu bei manche dieser Männer zu überzeugen, daß die Katholiken, die neben ihnen an Len Universitäten lehren, von solchen Geschossen nicht mehr berührt werden; diese Geschosse wurden gegen kirchliche Meinungen gezielt, die zum Einsturz eines solchenAn- pralls hoffentlich überhaupt nicht mehr bedurften. Der letzte Satz stürzt auch die Hoffnung um, daß Spahn in sich wieder aufbauen werde, was umgesunken. Freilich bleibt den Centrumsfanatikern der nicht geringe Trost, Rom mit seinen Machtmitteln hinter und die Reichsregierung wenigstens nicht gegen sich zu Haden. Und so werden sich denn unter den Weihnachtsbäumen in die Gedanken an Spahn und die übrigen „Neuen" Erwägungen über die geeignetsten Mittel mischen, Rom zum Einschreiten zu bewegen, damit Friede werde — im Cenlrum. Eine ganz eigenartige Weihnachtsfreude bereitet der Cen trumspartei ein württembergisches demokratisches Or gan, indem es dieUeberzeugung ausspricht, daß esvomStandpuncte der liberalen Principien aus nichts Unsinnigeres geben könne, als sich mit dem Centrum zu verbrüdern und dadurch dessen Macht zu steigern. Das Blatt meint, wenn die Demokratie künftighin vor die Wahl gestellt werde, ob sie sich für den Mili tarismus oder den Ultramontanismus entscheiden wolle, so müsse sie dem ersteren den Vorzug geben, denn der Ultramonta nismus bedeute die größte Gefahr für Deutschland und die Ent Wickelung der Menschheit überhaupt. Die „Köln. Bolksztg." glaubt über ein« etwaige Abkehr von der bisherigen Taktik der süddeutschen Demokratie mit der spöttischen Bemerkung hinweg kommen zu können: „Selbst wenn die Voltspartei diesen Purzel bäum mitmachte, würde die Regierung ihr entgegenhalten: was kannst du armer Tropf mir bieten?" Das ist doch nicht so gan; richtig. Bei den zersplitterten und verworrenen Parteiverhält niffen im deutschen Parlamente können manchmal auch wenige Stimmen von entscheidender Bedeutung sein. Wenn beispiels weise bei der Abstimmung über die Heercsvorlage von 1892/93 am 6. Mai 1893 die süddeutschen Demokraten Mann für Mann für den „Militarismus" eingetreten wären, statt dem Centrum als Anhängsel zu dienen, so wäre die Auflösung und die damit verbundene Aufregung des Voltes unnöthig gewesen. Ebenso ist die Haltung der süddeutschen Volkspartei nicht ganz gleichgiltig, wenn die Polenfrage im Reichstag zur Erörterung gebracht wird. Denn die Cartellparteien in Gemeinschaft mit den beiden freisinnigen Fractionen und den Antisemiten halten dem Cen trum, den Polen und den Socialdemokraten gerade noch die Waagschale und die Haltung der süddeutschen Demokratie ist deshalb nicht so ganz gleichgiltig. Abgesehen aber davon, daß es für die Machtstellung des Centrums nicht bedeutungslos ist, ob es wie bisher jedes Mal, wenn es ihm beliebt, Opposition zu machen, gewiß ist, die süddeutsche Volkspartei in seiner Gefolg schäft zu haben, oder ob es diese Partei in solchen Fällen bei den Gegnern findet, kann der radicale Liberalismus in Süddeutsch land auch manchen Centrumssitz ins Wanken bringen. Geht er beispielsweise in Forchheim-Kulmbach und Kempten-Immen stadt geschloffen mit den Nationalliberalen zusammen, so können diese Sitze dem Centrum wohl abgrnommen werden. Auch mancher Wahlkreis im südlichen und im mittleren Baden könnte erobert werden, wenn der Liberalismus aller Schattirungen in der gemeinsamen Erkenntniß, daß der Ultramontanismus der sicherste Hort jeglicher Reaction ist, geschlossen zusammenginge. Wenn es dem Centrum in den süddeutschen Staaten, vor Allem in Baden, in den L a n d t a g e n gelungen ist, eine immer macht vollere Stellung zu erlangen und dadurch auch auf die Re gierung einen immer größeren Einfluß zu gewinnen, so ist dies dem unnatürlichen Bündnisse zu verdanken, das seit mehr als einem Jahrzehnt der radicale Liberalismus mit d«m Ultra montanismus geschlossen hat. Für das Centrum wäre also eine Umkehr und Einkehr der bürgerlichen Demokratie keineswegs so gleichgiltig, wie die „Köln. Volksztg." sich den Anschein giebt. Eine andere Frage ist es freilich, ob diese Umkehr auch wirklich erfolgen wird. Und da sind die stärksten Zweifel durchaus am Platze. Die süddeutsche Demokratie hat schon mehr als einmal, beispielsweise bei der Bewegung gegen die lex Heinze, bekundet, daß es ihr durchaus nicht an Derständniß dafür fehlt, welche Ge fahren für die liberalen Grundanschauungen der ultramontane Geist in sich birgt, aber trotz dieser Erkenntniß ist sie erst vor einigen Monaten wieder bei den badischen Landtagswahlen gut Freund mit dem Centrum gewesen. So lange die süddeutschen Demokraten Männer wie die Brüder Haußmann, die für die Gelegenheit, «in paar schlechte Witze anbringen zu können, mit Wonne die ganze deutsche Marine dreingeben, als Führer dulden, wird ein sicheres Zusammengehen aller liberalen Schattirungen in Süddeutschland unmöglich sein. Aber die Stunde dieser Herren wird schlagen und dann wird der Centrumspresse das Spötteln wohl vergehen. Frnilletsir. Gräfin Leszek. 8j Roman von Heinrich Lee. Nachdruck vcrbotm. Sechstes Catzite l. Es war am frühen Nachmittag. Sisi hatte ihr Schläfchen gemacht, und nun lag sie wieder in ihrer Lieblingsposition, die Hände unter den Kopf gefaltet, auf dem Sopha und starrte mit weitgeöffneten Augen zur Decke. Camilla saß am Fenster und war ausnahmsweise mit irgend einer weiblichen Handarbeit beschäftigt- Es war genau so, wie zu der Zeit, als Sisi noch unver- heirathet gewesen und sie von einem Hotelzimmer ins andere reisten. Noch immer rieselten vor den Fenstern die Flocken hernieder, im Kamin hatte der Kellner frische Kohlen aufgelegt, und ge dämpft scholl der Lärm des Boulevard herauf. Sisi gähnte laut. „Wie langweilig es ist, wenn Misko nicht da ist", sagte sie. Frau Camilla erwiderte nichts. „Camilla", begann Sisi von Neuem, „Du bist vorhin wieder fort gewesen. Vorhin, als ich schlief. Wo bist Du gewesen?" „Rathe mal", sagte Camilla. „Ich waiß er nicht." „In einem Caf6 bin ich gewesen." „In was für einem Cafe?" „In einem CafK, wo ich Leonard getroffen habe." Sisi reckt« sich auf. Sie sckh nicht mehr zur Decke, st« sah jetzt auf Camilla, aber Frau Camillo führte ihre Nadel ruhig weiter. „War sagst Du — Leonard?" „Ja." „Betroffen hast Du ihn?" -Ja-" Kein überflüssiges Wort wollt« sich von Tamtilla'S Lippen ringen. Sisi wurde ungeduldig. „Erzähle doch", sagte fle. „Was soll ick Dir erzählen — ts geht ihm schlecht, viel schl«Lker noch, aN man gedacht hat. Ich bin sdm zufällig auf der Straß« dtB-net, Da bat er »«vor wir »bretsen, daß er mich noch einmal sprechen könnte — natürlich Deinet halben." „Meinethalben?" „Ja." Frau Camilla nähte weiter. Oder war es eine Stickerei, was sie auf dem Schooße hatte? Don Sisi's Knieen war die Decke abgeglitten, aber sie merkt« es nicht. „Was will er von mir?" „Von Dir will er überhaupt nichts. An Dich wagt er sich gar nicht heran. Nur erzählen mußte ich ihm vor Dir. Er hat eben Unglück gehabt. Auch sein damaliges, plötzliches Ver schwinden bat er mir erklärt. Seine Mutter war todtirank, sie wollte ihn vor ihrem Tode noch «inmal sehen. Er bekam aber keinen Urlaub, darum ist er contractbrüchig geworden, und uns wollte er in den Contractbruch nicht mit hineinziehen. Das war die ganze Geschichte." In Sisi's .Augen standen zwei Thränen. „Seine Mutter?" „Jo." „Und sie ist gestorben?" „Selbstverständlich." Sisi stand auf. „Was hat «r Dich über mich gefragt?" „Nun, wie es Dir geht, wie Dir daS Derheirathetsein gefällt." „Er weiß also, daß ich verheirathet bin?" „Ich habe es ihm gesagt. Du kannst Dir denken, wie über rascht er war." „War er böse?" „Böse? Tas sollte er sich erlauben. Sein einziger Wunsch war, Dich noch einmal in seinem Leben zu sehen. Ich hab« ihm natürlich erklärt, daß daS nicht möglich ist, denn morgen reisen wir ab." Im Kamin summt« daS Feuer, aus dem Stms« darüber kickte die kleine, in einem gelben Lederfuttrral steckende Reiseuhr, und allgemach wurde es dunkler und dunkler. - Sisi stand jetzt Camilla, die immer noch, trotz der arrbrechen- den Dämmerung, eifrig mit ihrer Arbeit beschäftigt war, gegen über. „Das ist daS Einzige, was er will", sagt« sie, „nur mich sehen?" „DaS Einzige!" „Schlecht, sagst Du, geht eS ihm?" „Sehr schlecht! Seitdem er damalr Dich verlassen hat, hat er Unglück." Sisi's Herz wurde von einem überquellendeu Mitleid er füllt. Und nur „sehen" wollte er sie. Wenn sie auch Misto's Frau war, das war keine Sünde. Aber wo und wie? Wenn Misko dagcwesen wäre, dann wäre man eben heute Abend noch einmal in den Circus gegangen: Misko hätte Alles erfahren dürfen, er wäre gewiß nicht darüber böse gewesen, und sie hätte Leonard aus der Loge mit dem Taschentuche zugewinkt. Aber Misko kam vielleicht erst, wenn es längst Nacht und zu spät war. Camilla zu ihm hinschicken und ihn Herkommen lassen? Nein, das paßte sich nicht. „Ich habe ihm gesagt, daß es nicht möglich ist", bemerkte Camilla, als hätte sie Sisi's Gedanken ganz genau errathen — „wir wollen nicht mehr von ihm sprechen." Sisi fühlt« sich sehr traurig. Plötzlich stand Camilla auf. „Meine Medicin", rief sie, „jetzt hab' ich keine Medicin mehr, und morgen ist dazu keine Zeit. Ich will doch schnell in die Apotheke." Es war die Medicin, di« ihr ein Arzt hier in Paris für ihr Asthma verschrieben hatte. „Dann will ich mit Dir gehen", sagte Sisi. Sie fürchtete sich, in einer fremden Stadt allein im Hotel zu bleiben, und das wußte Camilla. „So mach' schnell! Zieh' Dich an!" Camilla eilte in ihr Zimmer. Ab«r sür den kurzen Gang dauerte ihre Toilette merkwürdig lange. Endlich war sie fertig. Sie hatte ihre Pelzsachen angelegt. Auch Sisi hieß sie ihre Pelzsachen anlegen, sie brachte ste ihr selbst aus dem Schrank und außerdem nahm sie noch ein Tuch mit. Sisi lachte. „Aber Camilla, das ist gerade, als ob wir verreisen wollten." Zuletzt schloß Camilla noch einen Koffer auf und nahm eine kleine stählerne Cassette heraus. „Mein Schmuckkasten!" rief Sisi verwundert. „Er ist ohn« Aufsicht in einem Hotel nicht sicher", sagte Ca milla — „nun komm'!" Dann verließen beide Damen dos Hotel. Der Schnee hatte über die Boulevards unten sein blendend weißes Tuch gebreitet, und mit seinem Glanze wcttoiferte derjenige der Laternen, der Cafss, der KioSke und der großen Magazine mit ihren strahlenden Schaufenstern. Dichte Menschenmaflen drängten sich vorüber, und auf dem Fahrdamm rollten in unüber sehbaren Reihen die Equipagen, Fiaker mit kleinrn klingenden Klöckch«n und überladene, mit drei starten Pferden bespannte Omnibusse. Meistens tvaren es Schimmel. Noch niemals hatte Sisi soviel Schimm«! gesehen, wie hier in Paris. Noch immer rieselten die Flocken und fingen sich in den dürren Arsten der an 'den Trottoirs entlang gepflanzten Akazien und Platanen. Je weiter man auf den Boulevards nach Osten kommt, desto mehr verliert sich ihre Eleganz, desto volksihümlicher werden sie. Der Boden steigt allmählich an, und mit einem Male sieht man auf dem FahrDamm «in dunkles, großes, dickes Thor — die Porte St. Martin. In der Nähe dieses Thores liegt, seine Frcmt dem Boulevard zugewendet, das Cast' Mazarin. Es befindet sich in einem Eckhause, an dem vorbei man in «ine enge, dunkl,', wenig belebte, mit alten hohen, sechs- und siebenstöckigen Häusern besetzte Seitenstraße kommt. Das ist hier das alte Paris. In dem an das Eckhaus stoßenden Nachbarhaus« in dieser Straße sieht man einen kleinen Laden, hinter dessen Scheiben zwei große und Abends beleuchtet« bunte Glaskugeln glänzen, und Saran ein Schild mit der Aufschrift „Pharmacie". Zwischen den beiden Häusern befindet sich ein auf die Straße führender, von einem Holzgitter abgeschlossener Hof, der zu dem Eckhause und dem Cafe gehört und über dem di« Aufschrift steht: „Dntrßc? ^.rtiskes". Unter den Artisten, die nach Paris kommen, ist das Cast' Mazarin wohlbekannt. Was zum Bau gehört, das findet sich hier zusammen — ausgenommen natürlich die großen Kory phäen, die sich zu gut dazu dünken. Inhaber des Cast' Mazarin ist Monsieur Lusiznan, ein bekannter früherer Clown, der sich vom Geschäft zurückgezogen, jedoch ihm immer noch seine An hänglichkcit bewahrt hat. In einem mäßig großen, an den Wänden überall mit bunten Lithographien beklebten Hinter z>immer, findet der Artist hier feine Fachblätter, die Agenten kommen hierher, Händstr, welche Pferde, dressirte Thiere, Ju welen und sonstige Requisiten kaufen und verkaufen, und was sonst noch mit der Kunst Fühlung sucht. Am belebtesten ist dieses Hinterztmmer in den späten Nachmittagsstunden, kurz vor der Zeit, wenn die Vorstellungen beginnen. An das Hinterzimmer stößt noch ein anderes, kleineres, in dem es an manchen Abenden intime Feste giebt, wobei der Champagner eifrig fließt, und das in den dunklen, engen Hof mündet. ES darf nicht verschwiegen werden, daß di«seS kleine, versteckte Zimmer Monsieur Lusignan schon einmal mit der Polizei zu schaffen gemacht hat und'ihm bei dieser Gelegenheit sogar fast um seine Concession gebracht hätte. ES war trotz der schon hereingebrochenen Dunkelheit Lei Winterlager noch früh bei Tage und in dem ganzen Hinterzimmer befand sich erst rin einziger Bast. S» war Ü«onard.
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