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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 06.03.1903
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1903-03-06
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19030306023
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1903030602
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1903030602
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
- Monat1903-03
- Tag1903-03-06
- Monat1903-03
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Vezufl-.Prei- w d« Ha»pt«rp«dttim> oder der« Aosgab«. pelle» «bgeholt: vtertrljähtttch ».—, bet ^oetmaltger täglicher Z» stell «ag tu» Han» S.7S. D»rch dt« Post be»oy,a für Deottch- laod ». Oesterreich vierteljährlich 4.SV, für dt« übrig« Länder laut Zetttmg-pret-liste. Redaktion und Lrveditionr Johanntügaffe 8. Fernsprecher 1KS aud L2L Fiii«U«p»dittonen r Alfred Pah», vuchhaodlg, lintversitätrstr.8, L.Lbsche, Kathartseustr. le, ». L»atg»pl. 7. HlMvt-Filiale Dresden: Strehleuer Straße S. Fernsprecher Amt l Nr. 1718. Haupt-Filiale Serlin: Carl vuncker, Her^l. Bayr. Hosbvchhandlg, Lützowstraße 10. Fernsprecher Amt VI Nr LSOS. Nr. IlS. Mend-Ausgabe. Anzeiger. Imtslitatt des Königlichen Land- und des Königlichen Amtsgerichtes Leipzig, des Rates und des Rotizeiamtes der Stadt Leipzig. Freitag den 6. März 1903. Anzeigen.Preis di» «gespaltene PcMzeile Ld L,. Rekleme» unter dem RedakttonSstrich (»gespall«) 7K vor den yamUtennach- richt« (S gespalten) KO L,. Tabellarischer and Ziffernsatz enNprechend höher. — Gebühren für Nachweisungen und Offertenannahm« Lk H (exel. Porto). Ertra-Beilagen gesalzt), -rar mit der Morgea-Ansgabe, ohne 'Sostbrtorderung öv.—, mit postb'fürdermig X 70.—» Annahmeschluß nir Anzeigen: Ab« ad-Ausgabe: Sormittag» 10 Uhr. Morgen-Auögab«: Nachmittag» 4 Uhr. Anzeigen find stet» an die Expedition zu richten. Die Expedition ist Wochentag» ununterbrochen geöffnet von früh 8 bi» abend» 7 Uhr. Druck oud Verlag von L. Polz in Leipzig. 97. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 6. März. A«S dem Reichstage. Der Reichstag kommt allmählich, obwohl die Präsenz -er Abgeordneten alles zu wünschen übrig läßt, in ein etwas flotteres Tempo hinein. Gestern wurde der ganze Etat des Reichst» st izamts erledigt. Zunächst rollte der Abg. Lenzmann die weitschichtigen Fragen der Strafrechtsreform auf. Nachdem er sich über bedingte Begnadigung, groben Unfug, Strafvollzug, Todesstrafe, Gesindeordnung und ein Dutzend anderer juristischer Streitfragen ausgelassen, ergriff er zum Schluß die Ge legenheit zu einer beschwichtigenden Auslegung seiner un längst getanen Aeutzerung über die Richter im preußischen Osten. Gr habe die Richter nicht als „parteiisch", sondern als „politisch" bezeichnet und ihnen keine Parteilichkeit vorwerfen wollen. Staatssekretär Nieberding gab ihm darauf zu verstehen, daß seine ursprüngliche Aeuße- rung, die auch durch die neue Erklärung nicht bester ge macht würbe, bester unterblieben märe. Auf die Reform fragen ging der Leiter des Reichsjustizamts nicht näher ein) wie bekannt, unterliegen sie ja zur Zeit einer sehr eingehenden Prüfung durch staatlich geförderte Kommis sionen von Männern der Wissenschaft und der Praxis, ^iur bezüglich der bedingten Begnadigung pflichtete vr. Nieberding der Ansicht bei, daß wir darin noch einmal zu einer gesetzlichen Regelung kommen müßten. Mit Rück sicht auf die voraussichtlich sehr langwierigen Arbeiten der Kommissionen sprach Abg. vr. Esche den Wunsch aus, daß gewisse Materien schon vor der allgemeinen Straf rechtsreform geregelt werden möchten, besonders die Heraufsetzung der Strafmündigkeit auf das 14. Lebens jahr. Der Staatssekretär erinnerte jedoch an seine vor zwei Jahren abgegebene Erklärung, daß bei den Regie rungen für diese Reform keine Stimmung sei. Abgeord neter l>. Spahn wies auS seiner Erfahrung die Herab setzung der Richter im Osten durch den Abg. Lenzmann zurück und beklagte sich über die Ueberlastmig der Richter am Reichsgerichte, die vom Staatssekretär zugegeben wurde. Weiterhin kam Abg. H ei n e auf die in letzter Zeit vorgekommenen unberechtigten Verhaftungen zurück. Ein von den Polen gestellter Antrag, die Eintragung weiblicher Namen mit der vom Namen des Mannes abweichenden Endung „a" in die Standesregister allgemein zuzulasien, wurde vom Abg. v. Chrzanowski begründet, der außerdem unter energischem Protest des Staatssekretärs den Richtern ungerechte Handhabung der Justiz gegen über den Polen vorwarf. Neues Material zum Kapitel der unberechtigten Verhaftungen brachte lDr. Müller- Meiningen vor,- er behauptete ferner, daß der im Duell- Prozeß Bennigsen-Falkenhagen verurteilte Falkenhagen von der Strafvollzugsbehörde so bevorzugt behandelt werde, daß darüber vielfach Empörung herrsche, vr. Nieberding teilte schließlich noch mit, daß eine daS KahlpfändungSrecht der Vermieter wieder ein führende Reichsgerichtsentscheidung zu schweren Bedenken Anlaß gegeben habe und daß über die Fesselung von Ge fangenen demnächst überall einheitliche Bestimmungen durchgeführt werden sollen. Das Gehalt deS Staatssekre tärs wurde bewilligt, ebenso ohne Debatte der Rest deS Justizetats, dagegen der polnische Antrag abgelehnt. Heute wird die EtatSberatung Seim ReichSschatzamte fort gesetzt. Auf dem Wege nach Kanossa. Die in unserer gestrigen Abendausgabe mitgeteilte Nach richt auS Halle, der Vorsitzende des Evangelischen Bundes, Graf v. Wintzingerode, habe dort am 3. d. M. einigen anderen Mitgliedern des Zentralvorstandes Kenntnis gegeben von einem Briefwechsel, der zwischen ihm und dem Reichskanzler über die geplante Aufhebung des tz 2 des Iesuitenge setzeS geführt worden sei und grelle Schlaglichker auf die schwierige Situation werfe, bat begreiflick-rweise zu allerlei Vermutungen und Gerückten Veranlassung gegeben. Hoffentlich wird in der in Aussicht genommenen Beratung des Gesamtvorstandes des Bundes diesen Gerüchten und Vermutungen durch Ver öffentlichung jenes Briefwechsels ein Ende bereitet. Schon jetzt aber wird man Wohl berechtigt sein, dem Ge rüchte entgegenzuirelen, der Reichskanzler habe sich dem vom Grafen von Wintzingerode gegen die Abbröcke lung des Jesuikengesetzes gerichteten Vorstellungen gegen über auf ein vom Kaiser der römischen Kurie gegebenes Versprechen berufen. Es kann ja leider keinem Zweifel unter liegen, daß Graf Bülow sich nicht bereit erklärt haben könnte, die preußischen Stimmen im Bundesrate für die Aufhebung des 8 2 desJesuilengesetzes abgeben zu lassen, wenn nicht der Kaiser in seiner Eigenschaft als König von Preußen mit dieser Auf hebung einverstanden wäre. Daß aber der Kaiser dem Papste diese Aufhebung versprochen hätte, können wir schon deshalb nicht glauben, weil in einem solchen Ver sprechen eine Nichtbeachtung der Rechte der nichtpreußischen Regierungen resp. ibrer Oberhäupter läge. Man braucht auch zu einer so unwahrscheinlichen Annabme gar nicht zu greifen, um sich eine Vorstellung von dem Inhalte der Briefe des Grasen Bülow zu machen, die ein grelles Streiflicht auf die schwierige Situation werfen. WaS den Bülow und den Lenker seiner Politik treibt, dem Zentrum Konzessionen zu machen, geht klar auS einer offiziösen Auslassung hervor, in der heute die „Berl. Polit. Nachr." alle „entschieden national und staatserhaltend ge sinnten Wähler" beschwört, sich durch den Fall Ko rum nicht vom gemeinsamen Kampfe gegen die Sozialdemo kratie ablenken zu lassen. Diese Auslassung lautet: „Angesichts de» leidenschaftlichen Eifer», mit dem sowohl die Redner als die Presse der Freisinnigen Vereinigung aus Anlaß deS Falles Korum die Regierung der Schwäche gegenüber der katholischen Kirche und dem Zentrum beschuldigen, wird man unwillkürlich an den Ausspruch deS Fürsten Bismarck erinnert, daß die volle Durchführung deS Kulturkampfs schon auS dem Grunde für die Regierung unmöglich geworden sei, weil ein beträchtlicher Teil der Parteien in der Volksver tretung sie dabei nicht nur im Stiche gelassen habe, sondern ihr durch heftige Opposition geradezu in den Rücken gefallen sei. Er hatte dabei die leidenschaftliche Opposition im Auge, welche der freihändlerische Freisinn seit der Zoll- und Steuerreform der Regierung, sowie ihm persönlich machte. Wenn man nach den Beweggründen der scharfen Stellungnahme gerade derjenigen frei- händlerischen Richtung forscht, welche gegenüber der Sozialdemo kratie selbst da» Bild der kläglichsten Schwäche darbietet, so wird man in der Annahme nicht fehlgehen, daß die scharfe Kritik der Regierung von dem Bestreben diktiert ist, die in der evan gelischen Bevölkerung oder wenigstens in einigen Kreisen derselben auS Anlaß der Trierer Borgänge hervorgetretene Bewegung in oppositionelle Bahnen zu leiten und sie dazu zu beuotzen, um den etwas schlaffen Segeln der eigenen Partei frischen Wind zuzuführen. Dieses Bestreben ist ja erklärlich, aber angesichts der ent- schieden« Stellungnahme der Regierung gegenüber dem Vorgehen des streitbaren Bischofs von Trier liegt für die evangelische Bevölkerung nicht der mindeste Anlaß zur Besorgnis oder zur Beunruhigung vor, insbesondere werden die Protestanten staats- erhaltender Richtung sicher daraus keinen Anlaß nehmen können, einer Partei ihre Gunst zuzuwenden, die sich in der Vergangenheit als der eifrigste Bundesgenosse der Sozialdemokratie betätigt Hai und auch jetzt noch für die bevorstehenden Reichstagswahlen die Parole des Zusammengehens mit der Sozialdemokratie gegen die rechtsstehenden Parteien ausgegeben hat. Für die bevorstehenden Reichstagswahlen muß viel mehr für alle entschieden national und staatserhaltend gesinnten Wähler nach wie vor die Parole bleiben, die kleinen trennenden Momente zurückzustellen und mit voller Entschiedenheit geschlossen die Sozialdemokratie und ihre Helfershelfer zu bekämpfen." DaS beißt mit kurzen Worten, Gras Bülow hält es auS Bangen vor dem Anwachsen der Sozialdemokratie für nölig, nicht nur selbst mit dem Zentrum so glimpflich wie möglich zu verfahren, sondern auch allen „national und staatserhaltend gesinnten" Wählern ein friedliches Zusammen gehen mit dem staatlich gehätschelten Ultramontanis- mus wärmstens zu empfehlen. DaS Zentrum tut nun einmal für das Reich nichts ohne Bezahlung, und da muß denn eben gezahlt werden, wie die geplante Aufhebung des § 2 deS Jesuitengesetzes zeigt. Und trotz dieser Zahlung werden die „national- und staatserhaltend gesinnten" Wähler ermahnt, doch ja Vertrauen zu der Regierung zu haben, die schon dafür sorgen werde, daß die ultramontanen Bäume nicht in den Himmel wachsen! Und damit die protestantischen Wähler hübsch folgsam Arm in Arm nut den ultramontanen gegen die Sozialdemokraten marschieren, werden sie auf den Fürsten Bismarck hingewiesen, der ja erklärt habe, die volle Durchführung des Kulturkampfes sei ihm durch die freihändlerische Opposition unmöglich gemacht worden. Das ist ja leider richtig. Wann aber hat Bismarck geraten, die letzten Waffen, die aus der Kulturkampfzeit übrig geblieben sind, auch noch abzustumpfen oder gar weg- zuwersen? Hat er nicht in seinen letzten Jahren in zahlreichen Reden auf die ultramontane Gefahr warnend und mahnend hingewiesen und die deutsche Nation aus gefordert, vor dieser Gefahr die Augen allzeit offen zu halten? Er würde sich im Grabe herumdrehen, wenn er sähe, daß sein Name gemißbraucht wird,um den „nationalen und staatser haltend gesinnten" Wählern einzureden, es sei ihre erste und haupt sächlichste Pflicht,doch ja weder den Kuhhandel mit dem Zentrum zu stören, noch einem ultramontanen Kandidaten aus Sorge vor weiterer Machtentfaliung deS Zentrums die freundliche Unterstützung zu versagen! Und wenn nun alle „national und staatserhaltend" gesinnten Wähler so folgsam sind und daS Zentrum so stark machen helfen, daß c» im künftigen Reichstage dem Bundesrathe die volle Aufhebung deS Jesuitengesetze- und Gott weiß welche Konzessionen noch abdrückl? Wa» dann? Nein, noch hat der deutsche Protrstanti-mu« seinen Bi«marck zu gut im Kopfe, al» daß er sich mit Hülfe der Furcht vor der Sozialdemokratie in die volle Abhängigkeit vom UltramontaniSmuS hineintreiben ließe. Wir vertrauen daher jedenfalls mit Recht dem Gesamtvorstande des Evangelischen Bundes, daß er sich durch keinerlei Schwarzmalereien dazu bewegen lasse, schweigend zuzusehen, wenn die deutsche Politik immer weiter auf dem Wege nach Kanossa geführt wird. Die Besorgnis vor einer Aushungerung Englands im Kriegsfälle. Seitdem die englische Landwirtschaft nicht mehr im stände ist, den heimische» Bedarf an Lebensmitteln auch nur annähernd zu decken, besteht in England die Besorgnis vor einer Aushungerung im Kriegsfälle, insbesondere bei einer Koalition verschiedener Mächte. Von Jahr zu Jahr steigt diese Besorgnis, und kürzlich hat sich unter Führung von 83 Parlamentariern, 40 Admiralen usw. eine neue Vereinigung mit der Aufgabe gebildet, auf eine amtliche Untersuchung der Frage, wie die Nah- rungsmittelvcrsorgung Großbritanniens im Kriegsfälle sicher zu stellen sei, hinzuwirkcn. Großbritannien bezieht gegenwärtig mehr als Dreioiertel seines Bedarfes an Lebensmitteln vom Auslande, und zwar zum größten Teil aus der nordamerikanischen Union (1902 für 454 Millionen Mark allein an Weizen und Mehl). Wird diese unentbehrliche Gctreidezufuhr, die nur auf dem Seewege erfolgen kann, abgeschnitten oder auch nur er schwert, so müssen die Brotpreise in England rasch auf eine für die Mehrzahl der Bevölkerung unerträgliche Höhe steigen. Schon wiederholt ist der Vorschlag gemacht worden, große befestigte Gctreidemagazine in England zu errichten und darin Getreidevorräte zur Deckung des Bedarfes auf ein Jahr anzusammeln. Die einmaligen Kosten für den Ankauf von 7 Millionen Tonneu Weizen sind auf 600 Millionen Mark, die jährlichen Unter haltungskosten auf 40 Millionen Mark veranschlagt worden. Bisher hat sich die Negierung dagegen ab lehnend verhalten und war in erster Reihe bestrebt, die Kriegsflotte derart zu verstärken, daß sie auch gegenüber einer Koalition verschiedener Mächte mehr durch eine unbestrittene Oberherrschaft über die Meere die Lebens mittelzufuhr Englands zu schützen im stände ist. In dieser Hinsicht tauchen aber immer wieder neue Zweifel auf. Im neuesten Hefte von Julius Lohmeyers „Deutscher Monatsschrift" hat Paul Dehn alle die inter essanten Erörterungen über die Frage der britischen Brotversorgung im Kriegsfälle in gedrängter Kürze dar gelegt und auch die Besorgnisse der neuen Vereinigung zusammengefaßt. Es fragt sich nun, ob die englische Re gierung von ihrer bisherigen Haltung abgehen und zu nächst Untersuchungen anordncn wird über die Ge fährdung der Getreidcversorgung Englands im Kriegs fälle. Man wird sich entscheiden müssen, ob man eine ausreichende Sicherstellung der britischen Volks ernährung durch Anlage staatlicher Kornmagazine größten Umfanges zu bewirken oder aber eine weitere sehr erhebliche Verstärkung der Kriegsflotte vorzu nehmen hat. Die Streiks i« Spanien nnd der Anarchismus. Daß bei den unausgesetzten Generalstreiks einzelner Branchen in Spanien die Anarchisten ihre Hände im Spiele haben, ist bekannt, die Mehrzahl der Gewalttätig keiten dürfte auf das Konto der Anarchisten zu setzen sein. Charakteristisch ist, daß die deutschen anarchistischen Blätter fortwährend sich mit dem folgenden Thema beschäftigen: „WaS sollten die deutschen Genossen von der anarchistischen Bewegung in Spanien lernen?" Zweifellos besieht ein sehr inniger Zusammenhang zwischen den deutschen und spanischen Anarchisten, was SS Feuilleton. " Miß Rachel Laltonn. Nsman von Florence Marry »t. Nachdruck verbot««. ErsteS Kapitel. Sie »ar das einzige Kind und die Erbin Lord Edgar LaltonnS, des jüngsten Sohnes deS Herzogs von Craig- MorriS. Ihre Ellern waren früh gestorben. Bon ihrer Mutter hatte sie eine Herrschaft in Surrey und ein großes Gut in Sussex geerbt, während ihr Vater ihr ein Haus an der Portland Place hinterlassen, daß ihr jedoch so sehr verhaßt war, daß sie sich entschieden darin zu wohnen weigerte. Sie hatte ungefähr ein halbes Dutzend mut maßliche Erben, die die Nachricht ihres Todes mit großem Gleichmut ausgenommen haben würden, aber sie war jung, gesund und tatkräftig und hatte den ausgesprochenen Willen, zu leben und ihr Leben zu genießen, was vielleicht daS beste Borkehrungsmittel gegen einen frühen Tod ist. Sie war jetzt eine junge Dame von dreiundzwanzig Jahren, frei von der gesetzlichen Aufficht ihrer Vormünder und Bermögensverwalter — die ihr Onkel Sir Henry Mordaunt und der ehemalige Rechtsanwalt ihres Vaters, Mr. Robert Vyse, gewesen waren, — und im vollen Besitze ihres großen Vermögens, aber sie machte den beiden Her ren noch immer ziemlich viel Sorge. Zwar beging sie gerade keine Tollheiten und führte auch kein, wie man zu sagen pflegt, flottes Leben, aber sie hatte merkwürdig selb ständige Ansichten für ein so junges weibliches Wesen, und wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann ließ sie sich durch nicht- auf der Welt davon abbringen. Str Henry Mordaunt, der noch den altmodischen Grundsatz aufrecht hielt, daß eine Frau nicht selbständig denken dürfe, schüttelte bedenklich den Kopf bei gewissen Einfällen seiner Nichte und sehnte die Zeit herbei, wo sie glücklich verheiratet sein würde und er seine selbstgewählte Verantwortlichkeit auf die Schultern eines andern schiebe^ könnte. Aber daS Schlimmste war, daß Rachel gar nicht geneigt schien, sich bald zu verheiraten. Sie hatte eine Menge Bewerber — die allerdings meist von dem hohen Betrage ihre» Einkommen» angezogen wurden —, aber st« hatte dit jetzt keinem einzigen aestattet, sich ihr soweit M hat «r sich a»«r ihr« wirklichen Erfühle -egen ihn klar «erden konnte. Diese junge Dame de» aus gehenden neunzehnten Jahrhunderts war viel zu schlau und aufgeklärt, um sich in die Arme de» ersten hübschen Jünglings zu werfen, der sie bat, seine Frau zu werden, oder um alles zu glauben, was er ihr von seiner Liebe zu ihr vorrcdete. Außerdem befand sie sich auch zu wohl in ihrer augenblicklichen Lage, als daß sie sich leicht zu einem Wechsel hätte überreden lassen. So lebte sie denn in Catherstone, ihrer Besitzung in Surrey, von wo man leicht nach London hineingelangen konnte, und ließ das düstere alte HauS an der Portland Place in den Händen ihrer Bevollmächtigten, die eS vermieten oder leer stehen lassen konnten, wie eS ihnen gefiel. Auch dies bekümmerte Sir Henry. Warum konnte daS junge Mädchen nicht wie an dere Menschen in der Saison nach London kommen und sich in der Gesellschaft zeigen? Tie war ja nicht häßlich. Aber Miß Saltonn machte sich nichts au» Bällen und ver abscheute Nachmittagstüces — ^.ktornoon tor» — und ähn liche gesellige Zusammenkünfte als Zeitverschwendung. „WaS soll nur einmal mit ihr werden?" sprach Sir Henry Mordaunt mit sich selbst, al» er an einem schönen Apriltagc langsam dem Eingänge von Catherstone zu schritt. Er war aus der Stadt gekommen, um das Luncheon bei seiner Nichte einzunehmen und etwas Wichtiges mit ihr zu besprechen, und den ganzen Weg über hatte er sich mit ihren Aussichten beschäftigt. „Sie kann doch nicht die Absicht haben, unverheiratet zu bleiben und eines jener eigensinnigen, halb männlichen, halb weiblichen Geschöpfe zu werden. Aber Rachel ist von eigentümlichem, sogar sehr eigentümlichem Wesen. Ihre letzte Grille ist ebenso unverständlich, wie alle übrigen." Sein Blick traf die Pracht und Fülle von Laub und Blumen, die ihn umgab, und daS große alte HauS im roten Ziegelbau, das vor ihm lag, mit der langen Reihe von Ställen und Schuppen und den Parkanlagen, die sich weithin erstreckten — und er stampfte ungeduldig mit dem Fuße auf den kiesbestreuten Weg. „Wie kann ein Mädchen von dreiundzwanzig Jahren, ein wahres Kind, was geschäftliche Angelegenheiten be trifft, einen solchen Besitz ordentlich verwalten, von ihrem Gut in Sussex noch ganz zu schweigen? ES ist lächerlich! Dazu ist unbedingt ein Mann erforderlich. Es war sehr töricht von ihrem Vater, es ihr nicht vorenthalten zu haben, bis sie verheiratet war. Dann würde sie nicht über jeden die Nase rümpfen, der sich ihr nähert!" In diesem Augenblicke kam eine schwarzgekleidete Dame mittleren Alter» «ine« Seitenweg Herunter. Sie war klein und rundlich, batte unbedeutende Züge, aber mit einem gutmütigen, freundlichen Ausdruck. Man sah ihr an, daß sie eben Tränen vergossen hatte. „Hallo, Miß Montrie!" ries Sir Henry und zog den Hut. „Wohin gehen Sie denn gerade zur Luncheon-Zeit? Läutet nicht eben die Glocke?" „Oh, Sir Henry, ich bin nicht zum Luncheon aufgelegt, wahrhaftig nicht, und ich weiß auch nicht, ob ich noch viele Mahlzeiten in Catherstvne einnehmen werde. Miß Dal- tonn hat mir zu deutlich gezeigt, daß sie meine Gesellschaft und meinen Rat entbehren kann." „Wirklich? DaS überrascht und betrübt mich. Miß Montrie. WaS ist denn vorgefallen? Habt ihr euch ge zankt?" „ES würde mir nicht zukommen, mit Miß Saltonn zu zanken: sie hat mit mir gezankt, Dir Henry. Ich — ich weiß wirklich nicht, wie das enden soll", sagte die alte Dame, in Tränen auSbrechend. „Ich dachte nicht ent fernt, daß ich meine Pflicht überschritt, aber Rachel — Miß Saltonn wollte ich sagen, nahm eS sehr übel auf. Sie nannte mich — mich! — „impertinent" und befahl mir, mich nie wieder in ihre Privatangelegenheiten zu mischen. Und ich glaube, eS ist besser, daß ich gehe, Dir Henry. Denn ich kann mich nach dem, was vorgefallen ist, nie wieder heimisch in Catherstone fühlen." „Ruhig, ruhig!" erwiderte der Baronet freundlich. „In ein paar Tagen ist alles vorbei. Ray bellt auch mehr, alS sie beißt. Darf ich fragen, worüber ihr so in Meinungsverschiedenheit geraten seid?" „Es handelte sich nicht um eine Meinungsverschieden heit, wenigsten» nicht von meiner Seite, Sir Henry. Ich überbrachte Miß Saltonn nur den Auftrag eines Herrn. Ich dachte, es läge kein Unrecht darin, aber sie faßte e» al» eine Beleidigung auf." „Und der Herr war?" „Lord Vivian." „Das dachte ich mir. Miß Montrie. N»n, ich finde, sie ist schlecht mit Ihnen umgegangen: aber Sie müssen nach- gerade Rachels Wesen kennen. Stolz ist ihr größter Fehler und in ihren eigenen Angelegenheiten ist sie stet- sehr zu rückhaltend. Ich bin heute mit der bestimmten Absicht herauSgckommen, über Lord Vivian mit ihr zu sprechen: aber ich werde wohl ebenso hinetnfallen wie Sie selbst. Sie ist doch zu Hause?" „Jawohl, Str Henry: aLer ich hbrte, baß sie den vagen auf drei Uhr bestellte. Ich glaube, sie hat eine Verab redung für den Nachmittag mit Mr». Ommaney." „Sehr gut, dann kann sie mich zurückfahren und ich habe noch länger Zeit, mit ihr zu reden. Sie müssen sich aber zusammeunehmen, Miß Montrie, und eine heitere Miene aufsctzen. Ich fürchte, Ray macht sich nicht viel au» Tränen. Sie ist selbst über solche Art von Schwäche er haben." „Sie hat auch nicht viel Grund zum Weinen", ant wortete die Miß schluchzend. „DaS sollte gerade ihr Mit gefühl für andere reger machen." „Mag sein: aber sie bat nun einmal den Ball in der Hand, und wir alle sind mehr oder weniger in ihrer Se- walt. Ich möchte jedoch nicht, daß Sie sie gerade jetzt »er lassen. ES ist gewiß nicht leicht, mit ihr fertig zu werden, aber Sie besitzen große Geduld. Ueberlassen Sie eS mir, die Sache wieder in Ordnung zu bringen, und seien Sie überzeugt, -aß sich alles machen wird." „Ich danke Ihnen, Sir Henry", sagte Miß Montrie, alS er mit einer Verbeugung seinen Weg fortsetzte. Die Glocke hörte eben auf zu läuten, als Dir Henry daS HauS erreichte, und er begab sich gcradeSweg» in da» Speisezimmer. Rachel Saltonn stand rasch auf, ihn zu begrüßen. Die war von hohem Wüchse und schlanker, biegsamer Gestalt. Sie hatte eine ziemlich lange Nase und einen großen Mund, aber gute Zähne und einen schönen Teint. Schön war sie nicht, aber wie viele Frauen sind eS wirklich? Die Rosen- und Lilienwangen, die strahlenden Augen un griechischen Nasen gibt es meist nur in der Einbildungs kraft von Romanschriftstellern. Warum soll aber eine Romanheldin nur dann unsere Teilnahme erwecken, wen» sie wie die gemalte Puppe eines Modejournals auSsiebt? Etwa» in Rachel Saltonns Erscheinung hob sie entschieden über die Allgemeinheit hinaus. Sie würde auch in Lumpen als eine vornehme Dame erschienen sein. Als sie Sir Henry entgegenkam, den kleinen Kopf mit dem rötlich, braunen Haar stolz aus dem schlanken weißen Halse tragend, dachte er unwillkürlich, was für eine stolze Fürstin sie abgegeben hätte, wenn sie für einen Thron ge boren worden wäre. Ihre Kleidung tri»i nicht» zu diesem Eindrücke bei: denn diese war höchst einfach und bestand auö einem schwarz besetzten grauen Mohairkleide. „Nun, Onkel Henry, wa» bringt dich heute nach Esther» stone?" rief sie fröhlich au». „Der Wunsch, dich zu sehen, liebe» Kind", ,rwt»«rt<
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