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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 09.03.1903
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1903-03-09
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19030309015
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1903030901
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1903030901
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
- Monat1903-03
- Tag1903-03-09
- Monat1903-03
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Vezuffs-PretS d« Ha»pr»xp«dttw» oder deren «»-gab» PAle» «bgehalt: vterlrljLhrltch S —, bet zvetmaltger täglich», ZuÜellong tu- Heu- S.75 Durch dt» Post oeiogeo für Deutsch- laud u. Desterretch oterleljährlich -.50, für di» übrige» Länder laut Zeituug-pretSllp«. Lrdaktiou vnd Erveditiou: JohanntSgaffe 8. Fernsprecher tkii und SLL FUtnl evprdttisne«, Alfred Hahn, vuchhaadlg, UntversstSt-str.S, ii. Lösch«, «ath-riluaftr. I«» u. tkSnlglpt. 7. jyaupt-FUiale vresden: vtrehleuer Straße S. Fernsprecher Smt I Skr. 1718. H«mpt-Filiale Serlin: T«l Duruker, Herzgl Bayr. Hosbuchhaublg, Lützowstraße IS. Fernsprecher Amt VI Nr. 4SSA Morgen-Ausgabe. WpMcr Tageblatt Anzeiger. ÄmtsAatt des Äönigsichen Land- und des Königlichen Amtsgerichtes Leipzig, -es Rates und des Volizeiaintes der Ltadt Leipzig. Anzeigen-PrelS die 6 gespaltene Petüzctlr LS «etlame» aut», den, RebaNioa-strtch st gespalten) 7b ovi den FamUtennnch» richte» (6 gespalten) bO Tabellarischer and Nisserusatz eotiprechend höher. — Gebühren für Nachweisungen und Offerteaanuahm» LL (»xck. Porto). Srtra-Beilagen (gefalzt^ nnr «N der Morgen-Äa-gab«, ohne Postdesördernug «0^—, mit Postbesärdenlug 7Ü-—» Ännahmeschlaß fLr innigem Adend-An-gader Vornritiog- 10 llhr. Morgen-An-gaber Nachmittag- t Uhr. Anzeige» find stet« an dt» Erpedtttoa zu richten. Die Expedition ist wochentags ununterbrochen geöffnet oou früh 8 bi» abend- 7 Uhr. Druck und Verlag oou E. Pol» tu Leipzig Nr. 123. Montag den 9. März 1903. 37. Jahrgang. Amtlicher Teil. Die Sparkasse Paunsdorf qpedkrt täglich »an S-12 Uhr Vor- und 2—5 Uhr Nach mittags und verzinst Einlagen mit Letzte Nachrichten. * Berlin, 8. März. (Telegramm.) Der Kaiser nahm gestern abend die Huldigungsfahrt des Deutschen Automobtlverbandes entgegen. Er war um 7 Uhr auf deut Lehrter Bahnhofe von der Kaiserin empfangen worden und hatte sich unter lebhaften Zurufen der gewaltigen, Unter den Linden und am Lust garten bereits versammelten Menschenmassen nach dem Königl. Schlosse begeben. Hier erschienen alsbald die Majestäten, Prinz und Prinzessin Heinrich, Prinz Joachim und Prinzessin Viktoria Luise auf dem Balkon über Portal IV, und während vor diesem Portal eine Militär kapelle mit einem Marsche einsetzte, sauste der Zug der Automobilen von den Linden her heran. Voran die Motorzweiräder, bann die Wagen des Ausschusses, des Präsidiums des Verbandes und der Präsidien der Klubs, in einem derselben Prinz Joachim Albrecht, darauf die langen Rethen der gegen vierhundert Automobile der KlubS und Vereine. Die meisten Wagen waren reich mit Blumen und Guirlanden geschmückt, sehr viele zeigten glänzende Arrangements elektrischer Glühkörper: Adler, Kronen, Baldachine. Die Auffahrt der flimmernden Ge fährte, die außerdem sämtlich Magncsiumfackeln mit führten, gab ein farbenreiches Bild. General a. D. Becker brachte auf den Kaiser und sein HauS ein Hurrah aus, in baS die Automobilisten und das Publikum begeistert ein stimmten. Die Musik spielte die Nationalhymne. Dann ging der Zug der Gefährte über die Kaiser Wilhelm- Brücke, die Burgstratze, den Tchloßplatz und vorbei am Kaiser Wilhelm-Denkmal, das von Scheinwerfern be leuchtet war und wo wiederum eine Kapelle spielte, wieder die Linden hinauf. Als der Lustgarten frei geworben, hatte die Menge im Umsehen den ganzen Platz gefüllt und brachte andauernde Hochrufe aus, für die die Majestäten immer von neuem dankten. * Berlin, 8. März. Der Kaiser empfing gestern während der Auffahrt des deutschen Automobil-Ver bandes den Herzog von Natibor. An der Abendtafel nahmen Prinz und Prinzessin Heinrich teil. Heute morgen unternahm der Kaiser einen Spaziergang im Tiergarten. Nm 12 Uhr wohnten beide Majestäten, Prinz und Prin zessin Heinrich, Prinz Joachim und Prinzessin Victoria Luise und die Prinzessinnen Nichten von SchleSwig-Hol- stein-Sondcrburg-Glücksburg im Zirkus Busch, wo u. a. auch Kultusminister Studt zugegen war, einer Wieder holung der Gesangsaufführung Berliner Schulen bei. * Berlin, 8. März. Dem „Berl. Tagebl." wir- vom 7. d. M. aus Rom telegraphiert: „Die Krage bezüglich des Schulerlasses des Trierer Bischofs Korum i st g e l ö st. Auf Vor stellungen, welche Kardinal Kopp im Namen des deut schen Kaisers erhob, erklärte sich derBatika n soeben bereit, den Bischof Korum zur Zurücknahme oder Modifizierung seines Erlasses zu bestimmen." Da in der gestrigen Sitznng des Abgeordnetenhauses der Kultusminister von einer Lösung der Frage noch nichts wußte, so wird man der Meldung des „Berl. Tageblattes" Zweifel cntgegcnbringen dürfen. Uebrigens ist von der Negierung nicht Modifizierung, sondern Zu rücknahme seines Erlasses verlangt worden. — Weiter meldet man dem genannten Blatte aus der römischen Hauptstadt: „Der in vatikanischen Angelegenheiten immer gut unterrichtete „Eorriere della Sera" widmet dem Kar dinal Kopp und dessen Einflüsse in Rom wie in Berlin eine eingehende Studie. Dem Kardinal Kopp hauptsächlich sei es zu danken, wenn der Kaiser über den Kopf des widerstrebenden Kardinals Rampolla hin weg den Vatikan für Deutschland und die Tripelallianz zu gewinnen vermochte, wenn im Vatikan Deutschland immer mehr an die Stelle Frankreichs trete und das heilige Kollegium heute im deutschen Kaiser eine der Haupt st ützen des katholischen Einflusses in der Welt erblicke. Der Artikel schließt mit einem beredten Hinweis auf die bedeutende Rolle, die Kardinal Kopp als Vertreter der deutschen Politik im Konklave zweifellos spielen werde." Dazu bemerkt mit Recht die „Post": „TaS ist ja fast zu viel des Guten. So viel verlangen wir gar nicht. Die Hauptsache für uns ist, daß wir von Uebergriffcn a I» Korum verschont bleiben und in einem friedlichen Verhältnis zum Vatikan stehen. Als Schutzmacht der Kurie aufzntreün, hat das Deutsche Reich keinerlei Beruf." * Trier, 8. März. Bonden hiesigen Kanzeln ist soeben verkündigt worden, daß das bekannte Publikandum des Bischofs Korum als nicht geschehen zu betrachten sei. * Berlin, 8. März. (Außerordentlicher deut scher Aerztetag.) Im weiteren Verlaufe der Tagung verwies Hofrat Or. Mayer (Fürth) auf die Verschlechterung der sozialen Lage der Aerzte durch die Krankenkassen. Tas schlimmste sei aber, daß das Ansehen der Aerzte dadurch Ein buße erlitten habe. (Zustimmung.) Die Kassen hätten im Geiste der Botticherschcn Anschauungen fortge^ahren und diese Anschauungen bisher zur Richtschnur ihres Handelns gcmachr. Teilweise sei wenigstens jetzt die Stimmung in der öffentlichen Meinung zu gunsten der Aerzte umgcschlagen. Man hört jetzt zum ersten Male von einer Acrztefrage, aber auch, daß sie noch nicht spruchreif seil (Stürmische Heiterkeit.) Auch im Reichstag finden sich jetzt Stimmen zu gunsten der Aerzte. Hoffentlich gelingt es noch in letzter Stunde, in den parlamentarischen Kreisen, beim Bundesrat und der Reichsregierung die Ueber- zeugung zu festigen, daß ein Stand, wie der Aerztestand, eine andere Berücksichtigung erfordert. (Stürmischer Beifall.) Auf ehernen Tafeln steht unsere Forderung der freien Aerztewahl geschieben! Mir ist, so schloß Redner, zur Linderung der Not meines Standes jeder Weg recht, der nicht unstandesgemätz ist oder schädlich wirkt. (Anhaltende Zustimmung.) Ich empfehle daher die Vereinigung zu lokalen Verbänden, die sich wieder zu größeren Zentralstellen zusammenschließcn. Daß die Einigung nicht ganz leicht sein wird, daß viele sich, namentlich aus pe kuniären Rücksichten, bedenken werden, darf man sich nicht verhehlen. Schließlich wird aber die Einsicht von der Not- Wendigkeit einmütigen Vorgehens entscheidend sein. (Lebhafter Beifall.) Geh. Hofrat vr. Pfeiffer (Weimar) legte dar, welche Schädigung dem Aerzlestande durch die Krankenkassen gesetzgebung erwachsen sei. Er brachte dabei ein ausgedehntes Zahlenmaterial vor und wies nach, daß die Vergütungen bis zu 50 Pfg. pro Kopf hcrabgehen, das siird 10,8 mW 6 Pfg. für die Einzelleistung. Was die Aerzte heute mehr fordern, haben sie bisher geschenkt als humanitäre Leistung, die früher freiwillig gegeben, jetzt gefordert werde. Die 8000 Gemcindekasscn hatten in einem Jahre 7,5 Millionen Zuschüsse nölig. Daran sind die Aerzte dreifach beteiligt: als freiwillig Beisteuernde, als Steuerzahler und als Arbeitgeber. Wenn die Aerzte stier erklären: wir tun nicht mehr mit, so sind die Kassen unfähig. Redner empfiehlt die Einrichtung eines eigenen slatist. Bureaus, da pcy m den galiinschen Nachwegen insgemein ,eyr viele Fehler befinden. (Lebhaftes Bravo I) Sanitätsrat vr. Alexander (Berlin) verwies auf die bedenkliche Macht, die den Organisationen der Krankenkasse plötzlich durch das Gesetz gegeben seien. Wer habe nicht die Macht der Kassenvorstände gefühlt? Stellenschacher, Nepotismus, politische Begünsti gung usw. seien die Folge Es sei eine Alltäglichkeit, daß die Kassen in ärztliche Tinge hineinreden. Tie Folge sei eine dauernde moralische Depression. (Anhaltender Beifall.) Geh. Sanitätsrat Prof. Lent (Köln) erkannte an, daß an sich die Feuilleton. Dir Spielerin. Skizze von H. Waldemar. -.achvruck verkoken. Stumm gingen sie nebeneinander hin durch die Pracht deS Frühlingsmorgens. Aber sie hatten kein Auge für daS erste frische Grün, das wie ein Hauch sich über dem Gesträuch ausbreitete, nicht für die Schneeglöckchen, die schüchtern ihre Köpfchen erhoben, und kein Ohr für der Lerche jubelnden Klang und der Kinder Frohlocken, wenn sie im Moose versteckt ein Veilchen fanden. Mit finster gefurchter Stirn schritt der junge Mann dahin, nur zuweilen schaute er von der Seite seine Ge fährtin an, deren rosiges Gesichtchen kaum erkennen ließ, daß sie vor wenigen Minuten noch herbe, ja harte Worte gesprochen. „Bist du sicher, daß du deine Ansicht nie ändern wirst?" fragte er endlich, um der immer drückender werdenden Pause ein Ende zu machen. Sie lachte sorglos. „So sicher und überzeugt, als wie von meiner eigenen Existenz bin ich, daß ich nie, nie anders denken werde." „Und das soll das Ende sein aller Wünsche und Hoff nungen? Hast du nicht das Gefühl, frevelhaft an mir ge sündigt zu haben?" meinte er düster. Nun lachte sie wieder, aber nicht sorglos, sondern ver legen, ja betreten. Sie mochte die ganze unerquickliche Sache von dieser Seite noch gar nicht betrachtet haben. Aber lange hielt der Ernst nicht vor. „Werde nur nicht tragisch, mein guter Ralph", rief sie spöttisch, „und vergiß nicht, daß wir damals Kinder waren, du zwanzig, ich vierzehn Jahre. Und was die versprechen, hat nicht viel Wert." „Sprich nicht so, Gretel, dn tust mir weh, ich weiß auch, daß du viel besser bist, als du dich jetzt gibst. Wenn ich dich nur überzeugen könnte!" „Wovon denn?" fuhr das Mädchen auf und verbarg unter dem rauhen Tone, daß seine guten Worte sie ergriffen hatten. „Daß es besser ist, meine Klavierstunben abzubrechcn und als Stütze oder Kinderfräulein in Stellung zu gehen und zu warten, bis du als Kaufmann so viel verdienst, daß wir heiraten können? Möchtest du dir und mir solches Dasein wünschen? Ich ginge ja an Heimweh nach meiner Kunst zu Grunde. Du verlangst mehr, als ich zugcstehen kann." Nun ward auch Ralph Mühlberg erregt. Vielleicht klang cs spöttischer als er selbst wollte, als er schnell sagte: „Ich verstehe zwar nicht viel von Musik, aber das weiß ich doch, daß du mit deinem harten Anschläge niemals die Stufe erreichen wirst, die dir vorschwebt. Jst'S dann nicht besser, die Frau eines kleinen Kaufmannes, in dessen Haus die Erste, als draußen unter der Menge der Pianisten die Letzte zu sein?" Als er die Wirkung seiner Worte gewahrte, bereute er, sie ausgesprochen zu haben. Mit totenblassem Gesicht wendete sich Grete Arndt ihm zu. Ihre Lippen zitterten und sekundenlang rang sie nach Fassung. Dann sagce sie mit beinahe unheim licher Ruhe: „Genug. Es hat keinen Zweck, weiter zu reden. Hier trennen sich unsere Wege — für immer!" Ralph streckte ihr mit bittender Gebärde die Hand entgegen. „Vergib mir, Gretel, ich war rauh, taktlos, der Acrger trieb mich —" „Laß nur", wehrte das Mädchen matt. „Du hast mir mehr genommen, als du ahnst. Leb' wohl, Ralph." „Willst du mir nicht dann und wann Nachricht geben, willst du nicht, wenn —" Er verstummte vor ihrem sprühenden Blick. „Almosen sollte ich annehmen, von dir?" schrie sie auf. „Nie, nie! Entweder mein Weg führt mich aufwärts zum Ruhm, dann sollst du von mir hören, oder — ab wärts, dann bin ich für immer verschollen für dich!" Sie drückte seine ihr gereichte Hand, tauschte noch einen letzten Blick mit dem Jugendgcliebten, dann eilte sie schnell Len Weg zurück, den sie gekommen waren. Ralph Mühlberg blieb stehen und sah der schlanken, elastischen Gestalt nach, bis eine Wegbicgung sie seinen Blicken entzog. Aufseufzend schickte auch er sich an, nach Hause zurückzukehren. Ihm ging die Trennung viel näher als ihr. Sechs Jahre lang hatte er nur den einen Gedanken gehabt, so schnell wie möglich einen eigenen Herd zu gründen, um Gretel, die in rascher Folge beide Eltern verloren hatte, heimführen zu können. Wohl hatte sie als Kind schon davon gesprochen, ihr Talent zum Klavier- spiel auSzubtlden und auszunützen. Nachdem sie dann einmal in einem Konzerte eine jugendliche Pianistin ge hört hatte, gab's kein Halten mehr. Das kleine Ver mögen, das einen ganz hübschen Notgroschen repräsen tierte, reichte kaum dazu, ihre Ausbildung zu bestreiten, und Grete hatte sich bereits seit einem Jahre gezwungen gesehen, Klavierunterricht zu erteilen, um ohne Schulden durchzukvmmcn. Drei Jahre weilte sie bereits dort, und noch war keine Aussicht vorhanden, daß sie bald fertig würde. Sie besaß ein schweres Handgelenk und trotz aller Mühe, die sie sich gab, konnte sie ihren Anschlag nicht sehr viel weicher, elastischer gestalten. Sie besaß große Fingerfertigkeit und viel Verständnis, worauf sie alle Hoffnungen baute, aber der harte Anschlag ließ dies nicht zur Geltung ge langen, und so ahnte sie nicht, daß sie aus Sand baute. Ralph wußte es, hatte er doch mit einem ihrer Lehrer, den er zufällig bei Gelegenheit eines Konzertes kennen gelernt, über sie und ihr Talent gesprochen und dabei erfahren, daß sic über eine Mittelstufe, wenn sie die über haupt erreichte, nie hinanskommcn würde. Um ihr diese bittere Erkenntnis zu ersparen, hatte er ihr heute den Vorschlag gemacht, eine Stellung anzunchmcn und in zwei Jahren sein Weib zu werden. Bis dahin konnte er es wagen, sich eine Familie zu gründen. Aber, ver blendet wie sie war, schlug sie sein Anerbieten rund ab. Wenn in den Großstädten und auch großen Städten die Saison zu Ende geht, dann ist cS besonders eine Klasse von Menschen, die mit Schrecken und Angst jeden Abend herankommen und damit das schreckliche Ziel sich nähern sehen. Es sind die Klavierspieler, solche, die ent weder in Restaurants und Kneipen zur Belustigung der Gäste oder in Privathäusern zum Tanze ausspielen. Wenn der Frühling naht und Ossern herankommt, bann hört wenigstens der Letzteren Tätigkeit ganz auf nnd die der Anderen wird sehr beschränkt. Nun aber ist ihr Ver dienst im Winter doch nicht so reichlich, daß sie mährend des ganzen Sommers davon leben könnten. Dann führen sie ein kümmerliches Dasein, über das auch die Er innerung an einstige bessere Tage nicht hinweghilft. Denn bessere Tage haben fast alle gesehen und ihr Leben, wenn erzählt, würde Stoff geben zu manchem er schütternden Roman, wahrheitsgetreuer als solche, die allein der Phantasie eines Schriftstellers ihr Dasein ver danken. Zu dieser Klasse von Künstlern — als solche fühlen sich zumeist diese Klavierspieler — gehörte auch Fräulein Arano, die ein bescheidenes Stübchen in der Elsasser- straße in Berlin inne hatte. Es lag in der vierten Etage, im Hinterhaus, und so ungünstig, daß der Giebel des gegenüberliegenden Flügels der Mietskaserne ihr jeden Lonnenvlick streitig machte. Aber das Zimmer war billig, und das war die Hauptsache. Beschäftigt, ihre Barschaft zu zählen, überhörte das Fräulein ein Klopfen. Erst nach einer Weile wurde eü wiederholt. Der scharfe Klang riß die Bewohnerin aus dem schmerzlichen Sinnen, was sie wohl Sommers über beginnen, ob sie nicht doch auch den letzten Stolz ab legen und in den sommerlichen Vergnügungslokalen zum öftentlichen Tanz spielen sollte. Was nützte ihr der Stolz? Davon ward sie nicht satt und warm. Auf ihre Aufforderung trat eine Dame ein. In ihrem eleganten Kostüm, mit den Veilchen, die sie im Gürtel trug und deren Duft sofort das Stübchen erfüllte, trug sie den Frühling hinein zu der einsamen, verbitterten Klavierspielerin. „Fräulein Arano ?" fragte sie und sah verwundert das blonde, blauäugige Mädchen an, als wolle sie sagen: Wie paßt dieser südliche Name zu der Germanengestalt? Eine dunkle Welle überflutete das blasse, hagere Ant litz der Spielerin. Sie hatte die unausgesprochene Frage wohl verstanden. „Ties war einst mein Künstlername, den ich agch dann beibchielt, als — Womit kann ich dienen?" Sie stellte die Frage mit heiserer Stimme und starrer Miene. „Verschiedene Damen haben Sie mir empfohlen. Wir haben Montag nächster Woche die letzte Tanz gesellschaft dieser Saison und da unser Klavierspieler er krankte, möchte ich Sie bitten, — Sie sind doch srei zn dem Tage?" Ein bitteres Lächeln huschte über der Gefragten Ant litz. „In dieser Zeit leider immer frei. Ich stelle nur eine Bedingung —" „Ah -!" „Daß ich von keinem der Gäste gesehen werden kann, cs konnte jemand darunter sein, der mich früher —" „Seien Sie unbesorgt, es soll Sie niemand belästigen", fiel die Dame ein und schickte sich zum Gehen an. Tann entnahm sie der Gürtcltasche ihre Visitenkarte, löste den duftigen Veilchenslrauß von ihrem Gürtel nnd legte beides auf den kleinen Tisch, ans dem noch immer die ge ringen Silberstückc ausgebrcitet lagen. „Ich erwarte Sie um sieben Uhr. Heber das Honorar sollen Sie nicht zu klagen haben", bemerkte die Tarne beiläufig und ging, ehe Fräulein Arano sich von ihrem Erstaunen zn erholen vermochte. Auf den Stuhl vor dem Tische nicdersinkcnb, nahm die Spielerin den Veilchenstranß und begrnb ihr zuckendes Antlitz darin. Veilchen! Ihr Duft zauberte ihr die Heimat vor Augen und ihre Jugendzeit. Aber auch er, der Jugend gespiele, trat vor sie hin mit schmerzlichem Blick nnd bittender Miene, so wie damals.... Vorbei, vorbei! Zehn endlose lange Jahre waren vorübergegangcn. Jahre der rastlosen Arbeit, der Enttäuschung und Ent mutigung, Jahre der Verzweiflung, der Not, der Rene, Jahre der Selbstverleugnung nnd — Sclbstvcrachtnng. Und trotz alledem lebte sie noch und bei ihrer guten Natur war kein Ende dieses trostlosen Daseins abzusehcn. Tie Dame hatte nicht zu viel versprochen. Kein Gast konnte die Klavierspielerin hinter dem dichten Lorbeer- gcbifich sehen. Ein Parterre herrlich duftender Blumen schloß die Ecke ab, in die man den Flügel geschoben batte. Wie der Hau-Herr meint«, nicht zu Gunsten der Gäste, weil das dichte vlättergewirr die Töne zu sehr ab schwächte,- aber er fügte sich, als seine Hausdame ihm den Wunsch der Spielerin kund gab. Vielleicht Härte er ohne diesen kein Verlangen danach getragen, diejenige zu sehen, die zur Erheiterung seiner Gaste behülftich war. Aber ihr Wunsch, weil ungewöhn lich, reizte ihn, sie kennen zu lernen, und so trat er kurz vor dem Souper durch die Garderobe in das künstlich er zeugte Versteck. Fräulein Arano hatte den Ellbogen auf das Noten pult gestützt, ihr Kopf ruhte in der erhobenen Hand. Eine elektrische Lampe beleuchtete hell und klar das schmale, blasse Gesicht, dessen Linien von Gram und Sorgen erzählten, nur der Blick der wunderbar er strahlenden Blauaugen spiegelte wieder, was die Sinnende jetzt beschäftigte. ES mußten lichte Buder sein, die ihr wahrscheinlich die Vergangenheit aufrollte. Ter Eindringling, nachdem er schnell einen Ausruf des Schmerzes und Glückes zugleich unterdrückt hatte, be trachtete das Fräulein lange. Endlich flüsterte er, während außerhalb dieses Winkels Lachen und Scherz herrschte und das verworrene Geräusch lebhafter Unter haltung herübertönte: „Gretel!" Ein Lächeln huschte um der Spielerin Lippen. Wort und Stimme mochten wohl in ihren Traum passen. Als er aber näher trat und den Namen wieder holte, fuhr sie in die Höhe und streckte ihre Hände ab wehrend aus. „Ralph!" rief sie, sank zurück und schlug beide Hände vor ihr blutübergvssenes Gesicht. „Ja, Ralph, der dich jahrelang gesucht und nie ge funden. Wie konntest du mir das antnn, Gretel, dachtest du nie an meine Liebe und meinen Schmerz'? Doch komm, hier ist nicht der Ort und die Zeit, drüben, im gemütlichen Wohnzimmer stehe mir Rede!" „Nein, nein, ich habe Pflichten übernommen und sic lächelte bitter — „ich muß sie erfüllen, der Kundschaft wegen. Tie Musik, sie geht nach Brot!" „Arme Gretel!" entschlüpfte cS ihm. Sie zuckte zu sammen, dann bat sie hastig: „Geh, geh, damit dich die Dame des Hauses nicht sieht und ihre Gäste, es würde ein schlechtes Licht auf dich fallen —!" „Und wer hindert mich, dich all meinen Gästen vor- zussellen als meine geliebte Braut — ?" „Deinen — Gästen?" stammelte Grete. „Du . . bist hier. .?" „Hausherr, jawohl. Der verachtete Kaufmann ist manche Sprosse aus der Leiter enipvrgcsticgen, nicht wahr? Aber ist's nicht ein Glück, Gretel? Nun kann ich dir alles schaffen, wonach deine Seele früher gedürstet: Reichtum, Rang und Stellung: nur den Ruhm vermag ich dir nicht zu geben —" „O, schweige, schweige, ich bin längst von meiner Ver blendung geheilt", schluchzte sic leise. Die Zeit drängte, man vermißte den Gastgeber. Grete beharrte dabei, ihre Pflicht zn crftillcn bis zur letzten Minute. Ralph Mühlberg mußte ihr nachgrben. Aber nie ward ihm ein Fest so lang, als an diesem Abend. Er konnte cs kaum erwarten, daß die Gäste sich verabschiedeten. Und als der letzte gegangen war, eilte er in das improvisierte Musikzimmer. Doch es war leer, Grete war nach Hanse geflohen. Daß er sie zu finden und zu halten gewußt, bewiesen die Nachrichten, die wenige Wochen später den Teil nehmern der Gesellschaft zngingen. Niemand ahnte, daß die glückliche Braut einst ihnen mm Tanze gespielt, aber früher, viel früher noch den Traum von Ruhm und künstl-rtschen Ehren zu Grabe getragen batte.
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