02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 17.02.1903
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1903-02-17
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19030217025
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1903021702
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- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1903021702
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
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- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
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- Tag1903-02-17
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Tabellarischer und Zifferusatz entsprechend Häher. — Gebühren für Nachweisungen und Osfertenanuahmr LS H (excl. Porto). Ertra-Beilagen gefalzt), rar mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbetörderung 40.—. irrt ßostbesSrdrrung 70.—. Auuahmeschluß Ar Anzeigen: Abend-Ausgab«: Sormtttag« IO Uhr. Marge»-Ausgabe: Nachmittag- 4 Uhr. Anzeigen find stets an die Expedition zu richten. Die Spedition ist wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 6 bis abends 7 Uhr. Druck und Verlag von L. Pol» in Leipzig. 97. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 17. Februar. Der Rücktritt des Oberpräsidenten v. Bitter, der zu erwarten stand, ist zur Tatsache geworden. Nach dem „Berliner Lok.-Anz." hat der Oberpräsident von Posen in einem Schreiben an seine vorgesetzte Behörde darauf hin gewiesen, daß seine Gesundheit durch die Vorgänge der letzten Zeit untergraben sei und ihn ,u der Bitte um Enthebung von seinem Posten nötige. Die „Post", die AebnlicheS berichtet, scheint an die erschütterte Gesundhert des Herrn v. Bitter nicht recht zu glauben, wenigstens deutet sie einen anderen Grund seiner Amtsmüdigkeit an, indem sie schreibt: „Man geht wohl nicht fehl, wenn man diesen Entschluß des Posener Oberpräsidenten mit den vielfachen Angriffen, denen er tu der letzten Zeit in der liberalen Presse wie im Paria- mente ausgesetzt war, in Zusammenhang bringt. Sowohl im Falle Löhning wie in der Affäre deS Majors a. D. Endell und bei dem tragischen Tode des Landrats v. Willich suchte die Opposition sein Verhalten zu bemängeln, vr. v. Bitter trat sein jetzige» Amt am 1. Oktober 1899 an. Vorher war er Ministerial direktor Im Ministerium des Innern. In Posen wurde er Nachfolger des Oberpräsidenten v. Wilamowitz-Möllendorff, gegen den die Deutschen wegen seines zu wenig entschiedenen Austreten» gegen den Polonismus Klage führten, v. Bitter, der den Verhältnissen des Ostens als langjähriger Präsident der Königlichen Regierung zu Oppeln näher getreten war, galt bei seinem Ein- zugr in Posen als entschiedener Vertreter der schär feren Tonart in der Polenpolitik." Die letzten Worte lasten erkennen, daß man sich auch in den der „Post" nahe stehenden Kreisen in den Erwartungen, die mau an die Ernennung des Herrn v. Bitter zum Ober präsidenten von Posen geknüpft hatte, enttäuscht gesehen und damit nicht hinter dem Berge gehalten Hal. Gau; unfrei willig ist also der Rücktritt wohl nicht, obwohl Herr v. Bitter gegen die wider ibn gerichteten parlamentarischen Angriffe vom Ministertische auS möglichst verteidigt worben war. Trotz dieser Verteidigung blieb als unwiderleg liche Tatsache bestehen, daß im Falle Löhning Herr v. Bitter die alte Gegnerschaft LöhningS gegen die Pvlenpolitik des Ministeriums erst dann tadelnswert fand, als die Verlobung des Provinzial-Sleuerdirektors mit einer Feldwebelstochier bekannt wurde, und daß im Falle v. Willich der unglückliche Landrat beim Oberpräsidenten gegen die Anfeindungen der bündlerischen Freunde des Herrn Majors a. D. Endell nicht die Deckung fand, die er hätte finden müssen. Man könnte also im Interesse einer energischen Polen politik den Rücktritt des Herrn v. Bitter nur begrüßen, wenn man nicht befürchten müßte, daß sein Weggang nicht eine Aeodrrung des Systems, sondern nur einen Personal wechsel bedeute. Dieselben bündlerischen Elemente, die sich einer kräftigen Polenpolink eukgegenstemmcn und deshalb den Lanvrat v. Willich anfeinbeten, würden auch Herrn v. Bitter angeftzindet und zum Sturze gebracht haben, wenn er sich bei ihnen mißliebig gemacht hätte, denn sie erfreuen sich, obwohl Herr v. Podbielski zwischen sich und ihnen das Tischtuch zerschnitten hat, böberer Protektion; in Posen noch mehr als anderwärts. Und sie werden auch den Nachfolger des Herrn v. Bitter entweder amtSmüde oder nachgiebig machen, so lange sie jener Protektion sick er freuen. Und daS kann bei der beklagenswerten Schwäche, die den wundesten Punkt der ganzen inneren Regierungs politik Preußens bildet und leider auch auf die Politik der übrigen deutschen Regierungen einen lähmenden Einfluß auS- übt, noch lange dauern. Herr v. Bitter ist ein Opfer dieser Schwäche und wird nicht das letzte sein. Bischof Korum von Trier ist dieser Tage in Rom eingetroffen und bei seinen Freunden, den Jesuiten, im Lollogium gorwauioum» abgestiegen. Ueber den Zweck seiner Reise wird der „Tägl. Rndsch." von einem Deutichen auS Rom geschrieben: „Wie verlautet, soll er hierher gekommen sein, um die Aufmerk samkeit des Vatikans auf die Schulfrage in Deutschland zu lenken. Den ihm widerwärtigen Resormkatholizismus sowie die Ausbreitung liberaler Ideen schreibt er unserer nach seiner Auf. fasfung verkehrten und gefährlichen höheren Bildungsmethode zu. Sein Ziel geht darum auf eine größere Konfessionalisierung unserer mikkleren und höheren Bildungsanstalten. Beim Papste will er darob vorstellig werden und ihn auf die große Gefahr der paritätischen Anstalten aufmerksam machen, da er als richtiger Jesuitenzögling schon das Zusammensitzen mit Anders- gläubigen aus denselben Schulbänken für eine Seelen gefahr hält. Im Vatikan wird man ihm sicherlich für diese An regung Dank wissen, da dem Zentrum dadurch ein neuer Agitations stoff zugeführt werden könnte. Von dem Verhältnisse des Papstes zu Teuschland hat dieser Bischof einen recht eigeniümtichen Begriff. Vorgestern ermahnte er nach dem „Osservatore Romano" die Mitglieder des deutsch - katholischen Vereins in Rom, neben der Anhänglichkeit an das Vaterland auch die Treue für Rom und de« Papst zu wahren, der schon jo viel für Deutschland (siel getan habe II Herr Korum wird bald, wenn er so fortsährt, bei Rampolka noch besser angeschrieben sein als sein Kollege Bitchos Keppler, von dem man hier erzählt, daß er, um dem Papste zu schmeicheln und seine Orthodoxie in Helles Licht zu setzen, absichtlich die Ernennung eines Mitgliedes der Tübinger katholischen Fakultät in die Bibelkommission hintertrieben hat." Inzwischen hat bekanntlich Bischof Korum seinen bereits durch die Streitschrift „Unerbauliches aus der Diözese Trier" eingeleiteten Kampf gegen die paritätischen Schulen auch dies seits der großen Berge begonnen: am Sonntag wurve in allen Kirchen der Diözese ein bischöflicher Erlaß verlesen, durch den der Besuch der paritätischen staatlichen höheren Töchterschule den katboluchen Kindern bei Strafe der Absolutionsverweigerung verboten wirb. Und diesem Eilasse ist folgende Eiklärung der Pfarrer aller katho lischen Psarrkirchen Triers gcsolgt: Die heiligste Pflicht der Eltern ist die gute Erziehung ihrer Kinder. Die Religion muß aber die Grundlage der Erziehung bilden. Nach wiederholten Entscheidungen der Kirche ist es katholischen Elteru nicht erlaubt, ihre Kinder in nicht katholische oder konfessionslose Schulen zu schicken, besonders wenn an demselben Orte katholische Schulen vor handen sind. Dieser Grundsatz gilt auch für Trier und sür die hiesige konfessionslose höhere Töchterschule und kann nicht abgeändert werden. Daher erklären die Pfarrer der Stadt Trier im Anschluß an den Erlaß deS hoch würdigsten Herrn Bischofs: Wenn katholische Eltern ihre Kinder ohne die wichtigsten, von der Küche anerkannten Gründe, welche für schulpflichtige Kinder höchst selten gelten können, und ohne die notwendigen Vorsichtsmaßregeln, dieser Schule überweisen, so versündigen sie sich schwer und können im Sakra mente der Buße nicht losgesprochen werden. Demnach bitten und beschwüren die Pfarrer der Stadt Trier die katholischen Eltern, dieser ihrer heiligen Pflicht und ihrer Verantwortung vor Gott doch eingedenk zu sein. Sehr erbaut wird man im Zentrum von diesem Vor gehen deS streitbaren Bischofs nicht sein, denn man batte sich auf ein anderes, weniger aggressives und deshalb größeren Erfolg versprechendes Vergeben im preußischen Ab- georbnetenbause präpariert. Der „Franks. Ztg." wird darüber Folgendes mitzeleilt: Bekanntlich werden in dem KultuSetat für Erweiterungsbauten der Trierischen höheren Mädchenschule 75 OOO gefordert. Bei Be ratung dieses Postens wird nun der kampfeSfrohe Kaplan DaSba ch die Hetzartikel seiner „LandeSzeitung" zu einer Rede zusammen- schmieden und vom Kultusminister energisch sür die in Trier angeblich am UltramontanismuS verübten Greueltaten Rechenschaft verlangen. Das Zentrum will auf sein Betreiben hin den Posten ablehnen. ... In Berliner Zentrumskreisen ist man übrigens über das plötzliche Vorgehen des Bischofs Korum in dieser Frage keineswegs erbaut. Man war gerade in eifrigen Unterhandlungen mit dem Kultusminister begriffen über die Frage, ob den OrdrnSschwesteru nicht dir Erlaubnis gegeben w.rden sollte, ihre Zöglinge auf das Lehrrrinnen- examen vorzubereiten. Als nun die Kunde von den Plänen deS Bischofs Korum nach Berlin drang, riet man diesem, den geplanten Streich zu verschieben, da man mit Rechl befürchtete, der Minister werde durch einen solchen schroffen Vor stoß zu früh über die Tragweite einer solchen Konzession auf- geklärt werden und die Verhandlungen abbiechen. In Bischof Korum war aber die Kampfeslust zu mächtig, al» daß er sie noch länger häite zurückvrängen können, er setzte sich über das „noli turbars oireulos meo»" des Zentrums hinweg und gab daS Signal zum lange vorbereiteten Kampfe gegen die Töchterschule. Allzulebr wird sich aber daS Zentrum über den Vorstoß deS Bl chofs Korum nicht zu ärgern brauchen. Tie Be>liner, die so viel von jesuitischen Eu flössen in DreSve n fabeln, baden viel mehr Grund, solche Einflüsse in ihrer nächsten Nähe zu suchen. Und Liese Einflüsse, die sich jüngst erst in der Erklärung deS Grasen Bulow über den tz 2 ves Iesuiiengejetzes bemerklich gemacht haben, werden schon dafür soigen, dag der Kultusminister vr. Stuvt den Vor stoß deS Bischof« Korum nicht zu tragisch nimmt und sich von ihm nicht davon abballen laßt, im Interesse der Toleranz und des konfessionellen Friedens Schritte zur Beseitigung deS „Unerbaulichen* in der Diözese Trier und im ganzen preußischen Staate in Aussicht zu stellen. Die Beilegung des venezuelaftrrite». Die jetzt aufgehobene Blockade der venezolanischen Häfen, an der die deutschen Schiffe vor Puerto Cabello und Maracaibo beteiligt waren, wird unserer ost amerikanischen Kreuzerdivision endlich eine gewisse Unterbrechung in ihrer, die letzten Monate währenden anstrengenden Tätigkeit bringen. Nach den mit der venewlanischen Regierung vereinbarten Maßregeln über die Einstellung der Blockade bat der Kreuzer „Restau rador" die deutsche Krieg»flagge nunmehr wieder zu streichen. Es bleiben dann einstweilen noch dem Kommodore Schever die Schiffe „Vineta", „Falke", „Gazelle", „Sperber" und „Panlder" unterstellt. Der „Sperber" indessen nur noch vor übergehend, da das Schiff nur zur Beistärlung der Blockade nach Westindien entsendet worven war und nunmehr nach Ostafrika in See zu geben bat. Mit der Aufhebung der Blockade werden jetzt endlich auch wieder die amilichen Mel dungen von Venezuela nach der Heimat keine zeitraubenden Verzögerungen mehr erleiden, wie dies seit dem Inkrafttreten derselben so sehr zum Nachteil sür den ganzen Meldedienst und für eine richtige Beurteilung der Sachlage der Fall war; denn unseren Schiffskommandos sieben jetzt wieder die Kabelstationen in den venezolaniichen Häfen felvst zur Ver tilgung, so daß Curatzao als Basis für den Meldedienst auS- geschaltet weiden kann. Sobald die weitere Regelung deS ganzen leidigen Zwischenfalles mit Venezuela Foitichntte gemacht, vor allem die zunächst fälligen deutichen Forderungen von ter Re publik beglichen sind, sollen sich unsere Kreuzer auch wieder auf die weitere ostamenkanNche Station verteilen und Vie regel mäßigen Kieuzsabrlen in den ostamerikanischen Gewässern ihren Anfang nehmen; bat der Venezuela-Zwiichenfall doch nun sckon seit langen Monaten die Gesamitäiigkeit aller in Weslindien stationierten deutschen Kriegsschiffe erfordert, und dies gewiß nicht im Interesse unseres Handels mit den übrigen amerikanischen Staaten. Staat und Kirche in Frankreich. Während die Opposition.Parteien in Frankreich vor den jüngsten Erneuerungswahlen für den Senat gehofft kalten, daß dem Konseilpräsiventen Combes wegen seines Vei haltens in der Angelegenbeil der geistlichen Genossen schaften eine Lektion erteilt werden würde, ist der Minister präsident sogar rweimal gewallt worden. Auch bei der vor gestern vollzogenen Nachwahl ist ein ent'chierener Anhänger des VereiiiS-esetzes, sowie energischer Maßnahmen gegen die Kongregationen als Sieger auS dem Wahlkampfe hervor gegangen. Hierüber wird telegraphiert: * Ajaccio, 15. Februar. Hier fand beute Nachwahl zum Senat statt zum Ersatz für den Ministerpräsidenten Combes, der gleich zeitig in Corsica und Charente Jnjerieure gewählt war und die Wahl in letzterem Departement angenommen hat. Gewählt wurde Feuilletsn. i4i Dunkle Wege. Roman von I. v. Conring. Nachdruck »erdete». „Du weißt doch, daß das nicht geht. Wir kriegen dafür beide unsere Hiebe. Sic hat mir nur erlaubt, so weit mitzugehen, daß ich dir die Pforte aufschließeu kann. Du weißt ja doch, wie sie ist. Komme ich nicht gleich wieder, dann sagt sie es dem Alten und dann können wir uns freuen. Geh man zu, Kurt, ich kann dir nicht helfen. Hörst du wohl?" Vom Hause her klang eine scharfe Frauenstimme: „Rasch, Paul, beeile dich! Laß die Pforte auf, daß Kurt wieder hinein kann, ohne zu klingeln." „Na also", sagte Paul, der Kurt hinausschob und ihn ermunternd auf die Schulter schlug. „Sieh zu, wie du hinkommst. Weit ist es ja nicht. Herrgott, das Wetter, man sieht wahrhaftig nicht drei Schritte weit." Damit lief er im Trabe zurück. Konstanze stand schon neben ihrem Kinde. Sie legte den Arm um seine Schultern. „Sei still, Kind! Ich bin es! Gib her!" Sie schob den Korb in den Garten und faßte Kurts Hand. „Komm schnell. Sage kein Wort. Ich habe einen Wagen hier. Still, damit uns niemand hört!" Das Kind gehorchte, wie im Traum. Es hatte noch keinen Laut von sich gegeben. Sein eisiges Händchen umklammerte Konstanzens Finger so fest, daß es ihr fast wehe tat. Sic fand nicht gleich die kleine Straße, in der der Wagen hielt, und lief in Todesangst in Schnee und Wind hin und her. Endlich blitzten die Hellen Laternen des Wagens vor ihr auf. Sie ließ das Kind einsteigen. „Zum Bahnhof, Kutscher, schnell!" Drinnen im Wagen zog sie Kurt auf den Schoß und drückte ihre Lippen immer wieder auf sein mageres Ge sichtchen. „Liebling, Liebling, hast du sehr gelitten?'Weine nicht, Kurt. Du bist bei mir und ich lasse dich nicht wieder fort." Er schmiegte sich zitternd an sie, immer enger und fester. „Ach, Mutter, es war schrecklich! Ich habe mich so furchtbar nach dir gesehnt. Warum hast du mir nicht ge schrieben? Nicht ein einziges Mal. Hattest du mich ganz vergessen?" „Ach, Ktnb, wa» du denkst. Ueber alle« sprechen wir später/ Und bann, in wildem Jubel auSbrechend: Erruft du dich bran nicht, Kurt, baß du wieder bet mir „Ich weiß nicht, Mutter. Es ist ja gar nicht wie wirklich. Mir ist, als wenn ich nun gleich aufwachen müßte und es wäre alles nicht wahr." Konstanze nahm ein Tuch ab und wickelte den zittern den Knaben hinein. „Kind, so läufst du umher? Ohne Mütze und Mantel, bei dem Wetter! Sind wir denn noch nicht am Bahnhof? Es ist, als kämen wir gar nicht vorwärts. Friert dich auch nicht, Liebling?" „Nein, Mutter. Es ist so schön bei dir. Ach, laß mich doch nicht wieder weg! Sage 'mal, Mutter, fahre» wir — zu Papa?" „Nein, Kurt. Das ganz gewiß nicht!" „Wohin denn, Mutter?" Ja, wohin? Sie hatte noch eben in bangem Zweifel die gleiche Frage erwogen. Da geschah etwas Seltsames. Vor ihren geistigen Augen wurde es plötzlich klar, als wäre ein dunkler Vorhang niedergesunken. Wie hatte Sticher gesagt? „Rooneck ist in Gerdringen bei Münster." Zu ihm wollte sie, ihm das Kind anvertrauen! Nicht einen Augenblick kam ihr ein Zweifel an seiner Freundes treue. Es war undenkbar, daß Rooneck einen Hülse suchenden von seiner Schwelle wies — selbst wenn dieser wcgemüde Flüchtling die Krau sein sollte, die ihn einst verlassen hatte. Es lebte ein felsenfestes Vertrauen auf seine Güte und Großmut in Konstanze. Die gequälte, mißhandelte, unter dem lastenden Druck ihrer Umgebung von jeher leidende Frau, die nie zu wollen, immer nur zu dulden verstanden hatte, gedachte in dieser Stunde weh mütig und dankbar des einzigen Mannes, der ihr gegen über, ohne 'Härte und Roheit, einen unbeugsamen Willen behauptet hatte. Ihm durfte sie ohne Scheu die Wunden zeigen, die das unbarmherzige Leben ihr und dem Kinde geschlagen hatte. Er würde Hülse, Rat und Trost haben — es war ja undenkbar, daß Klemens von Rooneck, wie die anderen, feige oder mitleidlos geworden sein konnte. Und laut, mit fester Stimme sagte sie: „Wir fahren nach Münster, Kurt." In dem Augenblick, als sich der Zug, der Mutter und Kind südwärts trug, in Bewegung setzte, trat der Tele graphenbote mit der rotlackierten Tasche in das Haus deS Doktor Theophil Schmidt. Es begann da ein großes Rufen und Schelten. Das ganze Haus ward durchsucht, bei den Nachbarn angefragt, und schließlich machte sich der Doktor fluchend auf den Weg zum Polizetbureau. Seine armen kleinen Zöglinge, auf die sich der ganze Zorn deS Ehepaares entlud, suchten wieder einmal an diesem Abend unter Tränen ihr Lager auf, obgleich sie doch alle nicht dafür konnten, daß Kurt van Harpen nirgend« zu finden «ar. Fünfzehntes Kapitel. In Münster erkundigte sich Kvnstanze bei dem freund lichen Beamten Mach dem Wege nach Gerdringen. Sie er fuhr, -aß man etwa eine Stunde Fahrt bis dahin habe, nahm am Bahnhofe eine Droschke und bat den Kutscher, sich möglichst zu beeilen. Es war eine fieberhafte Unruhe in ihr — die Angst vor etwas Schrecklichem, dem sie und Kurt nur durch eilige Flucht entgehen konnten. Geerts zornige Stimme klang ihr fortwährend in den Ohren, und sie fuhr dann erschreckt zusammen, obgleich sie sich immer wieder sagte, daß er unmöglich so schnell ihre Spur ge funden haben könne. Kurt lag schlafend auf dem Rücksitz. Wenn der Wagen an einer Laterne vorüberfuhr, fiel sekundenlang der grelle Lichtschein auf sein schmales, weißes Gesicht. Wie erschöpft und krank das Kind aussah, so durchsichtig blaß! An den Schläfen traten die blauen Adern scharf hervor. Die blutlosen, mageren Händchen zuckten bisweilen im Schlafe, als wollten sie einen Schlag abwchren. Kon stanz« sah ihn traurig und verzagt an. Sie handelte wie im Fieber, instinktmäßig. Die Frage, was werden sollte, wenn Rooneck nicht daheim war, wenn er ablehnte, ihr zu helfen, schob sie weit von sich. Mit brennender Un geduld spähte sie aus dem Fenster, dem ersten Schimmer non Gerdringen entgegen. Endlich waren sie da. Es kam eine lange Dorfstraße und nach scharfer RcchtSwendung ein gepflasterter Hof, an dem ein große«, altmodisches Herrenhaus lag. Der Wagen hielt. Ein Diener in ein facher Livree kam die Stufen herab und half Kvnstanze aus dem Wagen. Kurt war aufgewacht und sah schlaf trunken um sich. „Ist Herr von Rooneck zu Hause?" „Jawohl, gnädige Frau. Wen darf ich melden?" Sie machte ein paar Schritte vorwärts und faßte Kurts Hand, als müßte sie bei ihm den Mut, dessen sie so sehr bedurfte, suchen: „Krau van Harpen, in einer dringenden Angelegen heit." Da war eine große, weite Halle, mit flackerndem Kaminfeucr — doppelt behaglich nach dem Schnccsturm da draußen. Bärenfelle lagen vor den altmodischen, be quemen L nistühlen, die im Halbkreise um den Kamin standen, ttober ihnen hing eine große Lampe von der eichengetäfelten Decke herab. Die Fenster waren mit schweren, dunklen Vorhängen verhüllt. Ein dicker Teppich bedeckte den Fußboden. Am Kamin lagen zwei große Hunde, die sich schwerfällig erhoben und die Etntretcnden schweifwedelnd begrüßten. Konstanze sah mit fieberhaft brennenden Augen «ach ter Tür. Nun mußte e« sich entscheiden, ob Ne zu kühn gewesen war! Wa« würbe Rooneck tun. wie tyr Ver langen, da« in diesem LugenLltck ihr selbst ungeheuerlich erschien, aufnehmen? Sic hörte draußen seinen festen, raschen Schritt, seine Stimme, deren sonoren Klang ihr Gedächtnis getreu bewahrt hatte. Dann kam er herein und ging mit ausgestreckten Händen auf sie zu: „Seien Sic mir willkommen, von Herzen willkommen!" Da sank die dumpfe Angst von ihrer Seele! Sic konnte ruhig und überlegen sprechen. Schon nach den ersten Worten unterbrach er sie freundlich: „Ich bitte einen Augenblick zu verzeihen, gnädige Frau." Er drückte ans die Klingel nnd rief dem eintretcn- den Diener zu: „Ich lasse Frau Hindebcrg bitten! Tie Dame führte lange Zeit den Haushalt meines verstorbenen Onkels. Ich glaube, es ist besser, wenn wir ihr die Sorge für den Knaben übertragen, bevor wir unsere Unterredung fort setzen." Und zu Kurt gewandt, sprach er freundlich: „Komm her, wir müssen doch auch miteinander be kannt werden. Nicht wahr, vor mir hast du keine Furcht? Gib mir deine Hand, mein Junge." Der scheue, nervöse Knabe gehorchte sofort. Er schmiegte sich furchtlos in den starken Arm, der seine Schulter um faßte. Doch fuhr er bei der Berührung schmerzhaft zu sammen. „Was ist dir, Kind? Habe ich dir weh getan?" „Es tut mir immer so weh, wenn mich jemand anrührt", murmelte der Knabe. Auf einen Wink Noonccks öffnete die Mutter Kurts Jäckchen. Da zogen sich quer über den Rücken deS KindeS dunkelblaue, blutunterlaufene Schwielen, unter denen die kaum vernarbten Spuren älterer Mißhandlungen sicht bar wurden. Ueber Rovnecks Stirn lief eine dunkle Nöte: „Was hattest du getan, um solche Straß zu verdienen?" „Ich hatte gar nichts getan", sagte Kurt. „Bloß daß ich immer weinte. Daun wurde der Doktor wütend nnd schlug mich. Er schlug uns alle mit einem dicken Spazier stock, beim Lernen, beim Essen, nnd immer, wenn es ihm gerade einfiel. Als Papa fortgereist war und ich nach Mama rief, hat er mich so geschlagen, daß ich liegen blieb und drei Tage im Bett bleiben mußte. Aber sie war bei nahe noch schlimmer", schloß er schaudernd und hielt sich mit beiden Händen an Rooneck fest. „Um GottcSwillen", sagte Rooneck halblaut, „das ist ja entsetzlich. Und so etwas geschieht ungestraft unter den Augen der Behörde! Fürchtest du dich, daß du so zitterst? Du bist ja hier in Sicherheit. Oder glaubst du, daß jemand es wagen würde, dich jetzt noch zu mißhandeln?" Kurt lächelte ein wenig: „Ach nein. Bet Ihnen werbe ich mich nicht fürchten. Sie sind gewiß sehr, sehr gut." (Schluß folgt.)
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