02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 24.02.1903
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1903-02-24
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
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- Public Domain Mark 1.0
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- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19030224022
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1903022402
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- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1903022402
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- LDP: Zeitungen
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
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Ve-ug-.Pret- W d« HmlprrxpedMoi, oder derer, «usgab» stell« «dgeholt: vterteliührlich S.—, bet zweimaliger tüglicher Znnelluag tu« Hau« 8.78. Durch die Post br»oa« für Deutsch- l«md «. Oesterreich vterteljährlich 4.80, für dt« übrig« Länder laut Zeitnug«prriSüste. Ledaktton und Ervedittour Iohanutügaffe 8. Ferusprecher 188 uud L2L FUtaleupeditioue« r Alfred Hahn, vuchhaudlg, llotversitStsstr.S, L Lösch«, Luchartueuftr. 1«, n. LüutgSpl. 7. Haupt-Filiale Vresdeu: Strehleuer Straße 8. Fernsprecher Smt I Nr. 1718. Haupt-Filiale Serlin: Carl Lmuker, Herzgl. Bayr. Hosbvchhandlg, Lützowstraße IS. Fernsprecher Amt VI Nr 4808. Abend-Ausgabe. Weiger TllMatt Anzeiger. Amtsblatt des Äönigtichen Land- und des Lönigtichen Amtsgerichtes Leipzig, des Rates und des Rotizeiamtes der Ltadt Leipzig. Anzeigen Pret- dte Sgespattene Penizecke Sb Reklamen uuter dem RedaMonsstrtch («gespalleu) 78 vor deu Familtrouach- richt« (6 gespult«) 80 H. Dabellarischer und Ztffe«sah «tsprech«d höher. — Gebühr« für Nachweisung« uud Osferteuauuohme 28 (exck. Porto). Extra-Verlagen gesalzt^ rar mit der Morg«.Ausgabe, oha« 'Üostbeiörderuag -4l 80.—, ritt ßostbesürderuog 70.—. Lunahmrschluß nir Luzeige«: Abeud« Au«gab«: Sormittag« 10 Uhr. Morgeu-Ausgab«: Nachmittag« 4 Uhr. Anzeige» find stet« -u di« Expedition zu richt«. Die Expedition ist wocheutagS ununterbrochen geöffnet von früh 8 bi« abeudS 7 Uhr. Druck und Verlag von L Polz i» Leipzig. Nr. M. Dienstag den 24. Februar 1903. 87. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 24. Februar. Die „angrisfslnstigen" Nationalliberalen. Wenn im politischen Leben irreführende Behaup tungen immer wieder erhoben werden, so ist es wichtig, ihnen bei Zeiten entgegenzutreten, weil sie sonst als unwidersprochene Tatsachen proklamiert werden. So ist es mit der in letzter Zeit so oft auftauchenden Behaup tung, die Nationalliberalen gingen angriffsweisc gegen die Freisinnigen vor. Betrachtet man sich dann den Fall, von dem dies behauptet wird, genauer, so er gibt sich regelmäßig aus der Geschichte des betreffenden Wahlkreises, daß das selbständige Auftreten der National liberalen durchaus kein Novum für den Wahlkreis dar stellt. So schreibt eben wieder eins der ruhigsten frei sinnigen Blätter: „Im Wahlkreise Eisenach greifen die Nationalliberalen den Besitzstand der Freisinnigen Bolkspartei an und haben den Oberförster in Marksuhl als Kandidaten aufgestellt." Die Geschichte des Wahlkreises ergiht, daß die National liberalen auch bei den letzten allgemeinen Wahlen einen eigenen Kandidaten aufgestellt hatten, der gegen 2000Stim- men erhielt. Ist diese Stimmenziffer an sich schon nicht gering, so erscheint sic besonders stattlich, wenn man be rücksichtigt, daß derjenige Kandidat, der die meisten Stimmen in der Hauptwahl erhielt, es auf noch nicht 3800 Stimmen brachte. Bei den Wahlen von 1893 stand der nationalliberale Kan didat in der Hauptwahl sogar dem freisinnigen Bewerber erheblich voran und er unterlag in der Stichwahl seinem freisinnigen Gegner nur mit einer Minorität von 10 Stimmen. Unter solchen Umständen ist die Auf stellung einer eigenen nationalliberalen Kandidatur doch wahrlich berechtigt, und es erscheint korrekter, nicht zu sagen, daß die Nationallibcralen den freisinnigen Besitz stand angreifen, sondern sich positiv dahin auszNdrücken, daß sie versuchen wollen, den Wahlkreis, der beiläufig von 1874—1880 und von 1887—1890 nationallibcral vertreten gewesen ist, für sich wieder zu erobern. Würde die na- tionalliberale Partei in einem solchen Wahlkreise von vornherein auf die Aufstellung einer eigenen Kandidatur verzichten, so würde sic sich damit selbst die Existenz berechtigung absprechen. Ehe die Freisinnigen behaupten, die Nationalliberalen gingen bei ihrer diesmaligen Wahl agitation besonders gehässig gegen die Freisinnigen vor, sollten sie doch einmal die Gesamtsituation im Deutschen Reiche nachprüfen. In den Provinzen östlich der Elbe, also Ostpreußen, Wcstpreußen, Pommern, der Mark, Schlesien und Posen überwiegen mit wenigen Ausnahmen die extremen Richtungen von rechts und links, und so hat auch, sobald der Liberalismus in Frage kommt, die radi kalere Richtung desselben die besseren Chancen — von einzelnen Ausnahmen, wie erwähnt, abgesehen. Mittel und Südbayern und der größte Teil des Rheinlandes be finden sich in den Händen des Zentrums. Für die National- libcralenbleibt somit der-Sauptsache nach nur Mitteldeutsch land, Nordwestdeutschland und Südwestdeutschland, sowie der Norden von Bauern. Innerhalb dieses begrenzten Gebietes ihre Agitation auf alle Wahlkreise, die irgend welche Aussichten bieten, auszudehnen, ist gewiß ihr gutes Recht, auch da, wo es sich nm freisinnigen Besitzstand han delt. Greift denn die freisinnige Partei den national liberalen Besitzstand nicht an? In dem Eisenach benach barten Wahlkreise Neustadt a. d. Orla hat bet den letzten allgemeinen Wahlen der Kandidat der freisinnigen Volks partei noch nicht 900 Stimmen erhalten gegenüber nahezu 7000 Stimmen, die dem nationalliberalen Bewerber zu fielen. Obwohl hier also die Chancen des Freisinnes sehr viel ungünstiger sind, als die der Nationalliberalen in Eisenach, dürften auch diesmal wieder die Freisinnigen den „Besitzstand" des rechten liberalen Flügels „an greifen". Auch sonst dürften in Thüringen die Frei sinnigen wenig Rücksicht auf nationallibcralen Besitzstand nehmen: beispielsweise werden sie sicherlich in den beiden Fürstentümern Schwarzburg eigene Bewerber aufstellen. Dagegen wird von nationalliberaler Seite nichts einge wendet, und es soll nur der Wunsch ausgesprochen werden, daß man auf freisinniger Seite ebenso wenig nervös sein möge. Durch Klagen und Beschwerden über „Angriffs lust" des anderen liberalen Flügels wird an den Tat sachen doch nichts geändert, hingegen wird eine etwa mög liche Verständigung für die Stichwahlen erschwert. Eisenbahnminister Budde. „Ich bin kein Freund von Programmrcden: ich halte sie sogar zum Teil für gefährlich. Aber da man nun ein mal eine von mir erwartet, so will ich eine halten, um nur ganz kurz zu sein: Ich werde mein Ressort leiten nach den alten bewährten Grundsätzen, wie meine Vor gänger, das ist meine Programmrede!" Mit diesen Worten stellte sich Excellenz Budde gestern zum ersten Male dem Plenum des Abgeordnetenhauses in seiner Eigenschaft als neuer Eisenbahnminister vor. Aber die Ansprüche des Hauses, welches seine Bescheidenheit zurllckwies, erfüllten seine Darlegungen dennoch, — er hielt eine wirkliche Programmrcde, deren frischer Ton auf das gesamte Haus den besten Eindruck machte,' seine gegen die Sozialdemokraten gerichteten Aeußerungen glaubten indes die freisinnigen Abgg. Roscnow und Gold schmidt mit Zischen begleiten zu müssen. Minister Budde besitzt eine gewisse Porträtähnlichkeit mit seinem landwirtschaftlichen Ministerkollegen v. Podbielski, und auch ein ähnliches frisches Temperament wie letzterer. Aber den Fallstricken, welche dieser Charakterzug dem landwirtschaftlichen Minister in seinen parlamentarischen Reden legt, weiß Minister Budde durch vollständige Be herrschung seines Materials und klare, ungcsuchte Aus drucksweise zu entgehen, um nichtsdestoweniger seinen Ausführungen das Gepräge einer wohltuenden und er frischenden Ursprünglichkeit aufzudrückcn. Besonders sympathisch berührte auch die unumwundene Anerken nung, welche Minister Budde sowohl seinen verdienst vollen Vorgängern im Amt, wie auch den ratgebenden Beamten seines Ministeriums und überhaupt den ge samten Beamten seines Ressorts zollte: seine eigene Tätig keit während der kurzen Zeit seiner Verwaltung ließ er bescheiden zurücktreten. Die Darstellung der Genesis des Etats der Eisenbahnverwaltung für 1903 enthielt das Programm des Ministers, das im wesentlichen folgende drei Hauptpunkte umfaßte: keinen Optimismus in Ver anschlagung der Einnahmen: Schutz dieser Einnahmen vor allem durch eine verständige Tarifpolitik, und endlich möglichste Sparsamkeit, aber nicht am unrechten Ort. — Hinsichtlich der Tarifpolitik will Minister Budde sich nicht in gewagte Experimente einlassen, aber sich auch den drin genden Bedürfnissen nicht verschließen. Welche Erspar nisse mit Leichtigkeit gemacht werden können, gaben einige drastische, mit großer Heiterkeit und lebhafter Befriedi ¬ gung aufgenommene Beispiele, die der Minister vorführte, zu erkennen. Im Zusammenhang mit dieser Frage zog der Minister auch die Personalverhältnisse seines Ressorts in den Kreis seiner Betrachtungen. Unter seinem Be amtenheer will er, wie seine Vorgänger, keine Umsturz bestrebungen dulden und wird energisch gegen die Sozialdemokratie Front machen. Dieser Abwehr steht aber die weitestgehende Fürsorge der Eisenbahnverwal tung für ihre Beamten und Arbeiter gegenüber, die hoffentlich die Sozialdemokratie unter ihnen nicht festen Fuß fassen lassen wird. Nach diesem ersten Eindruck des Auftretens des Ministers Budde im Abgeordnetenhause darf letzteres dem neuen Eisenbahnminister das Ver trauen und die freudige Mitarbeit entgegenbringen, um welche Ercellenz Budde das Haus ersuchte.— Der Ein druck, den das Auftreten des Ministers im preußischen Ab geordnetenhause auf einen preußischen Staatsbürger und Steuerzahler Hervorrufen mußte, ist hier von einem solchen sicher richtig wiedergegeben worden. Für uns in Sachsen spielen freilich noch viele andere bekannte Dinge bei der Beurteilung des neuen Herrn eine Rolle. Wir wollen hoffen, daß wir in das dem Minister erteilte Lob später auch von unserem Standpunkte aus einstimmen können. Italien «nd die Balkanunruhen. * Rom, 23. Februar. In der gestrigen Sitzung der italienischen Deputiertenkammer führte Minister Morin aus: Die vorgeschlagcnen Reformen beziehen sich auf die Vilajets Kossowo, Monastir und Saloniki, wo die Agita tion eine außerordentlich lebhafte ist, während man be züglich der politischen Lage in Albanien in dem zwischen Wien und Nom getroffenen Abkommen eine sichere Garantie für die Aufrechterhaltung des Status guo erblickt. Die nächste Zeit i st sicher von ent scheidender Bedeutung für den türkischen Ost en, und wir wolle «wünschen, daß es glücklich abläuft. Wenn, wie man hofft, die bul garische Regierung in der Lage ist, ihren Entschluß, den Herd der Agitation mit fester Hand im Fürstentum zu unterdrücken, welche, indem sie das Werk der Diplomatie hemmt, das Land den ernstesten Verwickelungen auSsetzen könnte, und wenn, woran wir nicht zweifeln, die Pforte in angemessener Zeit die von ihr in aller Form gegenüber Europa übernommenen Verpflichtungen erfüllt, so wird die augenblickliche Krisis zu einer Lösung gebracht werden können, welche der Bevölkerung des Balkans Ruhe und Frieden wiedergeben könnte. Dieses Ziel erstreben alle Mächte. Es handelt sich um ein Werk weiser Politik, und gleichzeitig um ein Werk im Sinne hoher Humanität und Civilisation, vom dem Italien sich unmöglich trennen kann. Sollte aber wider Erwarten die gemeinsame Aktion der Mächte trotz ihrer entschiedenen Entschlossenheit zur Aufrechterhaltung des Friedens einen ungünstigen AuS- gang der Ereignisse nicht verhindern können und sollte der Brand, den die Mächte zu ersticken sich bemühen, nicht zu löschen sein, so würde Italien sich gewiß nicht ans die passive Rolle eines einfachen Zuschauers beschränken. Wir würden uns in unserer Haltung von den Ratschlägen der Klugheit leiten lassen, gleichzeitig aber auch unsere Entschlüsse mit aller derjenigen Bestimmtheit fassen, welche die Umstände erfordern könnten. So würde die italienische Regierung unter sorgfältiger Rücksicht auf ihre eigenen Verpflichtungen und unter Achtung der be rechtigten Interessen der anderen Mächte nichts fehlen lassen, um darüber zu wachen, daß die Rechte und Inter essen Italiens in keiner Weise angetastet werden. lLeb- hafter Beifall.) Türkische Rechtspflege. Gegen Ende vorigen Jahres wurde ein Mord- ansallaufdenHotelbesitzerHeselschwerdt in Nazareth verübt. Hierzu gehen uns von den Ber- wandten des Herrn Heselschwerdt aus Nazareth unter dem 27. Januar einige Mitteilungen zu, die deswegen von Interesse sind, weil sie dartun, wie die türkische Rechtspflege zum Schutze fremder Staatsangehöriger nur dann in Aktion tritt, wenn die diplomatische Vertretung der jeweils interessierten Staaten energisch nachhilft. Am 9. November fand der Angriff auf Herrn Hesel schwerdt statt. Zwölf Tage konnte der allerseits bekannte Mordbube frei Herumlaufen, bis von dem durch die An gehörigen Heselschwerdts benachrichtigten deutschen Vize- konsul in Haifsa eine sehr energische Ermahnung an die türkischen Behörden in Nazareth einlief. Erst daraufhin machte die Nazarether Polizei den Attentäter dingfest. Zunächst erfreute sich freilich der Missetäter eines sehr „fidelen Gefängnisses", bis ein zweites, sehr nachdrückliches Telegramm des deutschen Bizekonsuls eintraf, das eine strengere Haft bewirkte. Am 11. Januar kam dann der deutsche Vizekonsul persönlich nach Nazareth und konnte sich dabei Überzeugen, mit welcher Voreingenommenheit zu gunsten des Angeklagten die Untersuchung geführt wurde. Der Bizekonsul machte darauf dem deutschen Generalkonsul Mitteilung, und dieser setzte es durch, daß die Boruntersuchuna in Acca und die Hauptverhandlung in Beirut, dem Sitze des Generalgouverneurs rvnd zu gleich des deutschen Generalkonsulats, stattfindet. Nach dem entschiedenen Eingreifen der deutschen Vertretung ist wohl auch eine nachdrückliche Strafe zu erwarten. So dankenswert das Eingreifen der deutschen Vertretung für den deutschen Landsmann ist, so bedauerlich ist es, daß die türkischen Behörden nicht auS freien Stücken fremden Staatsangehörigen, die sich in redlicher Weise ihr Brot verdienen, Schutz angedeihen lassen, bezw. ihnen zuge fügte Missetaten nachdrücklich sühnen. Deutsches Reich. A Berlin, 23. Februar. lD er Kampf nm die preußische Wasser bauverwaltung.) Die „B. P. N." schreiben: Wenn in der Budgetkommifsion des Ab- geordnetenhauses für die Banabteilung des Ministeriums der öffentlichen Arbeiten zwar eine zweite Dircktorstellc bewilligt, die Umwandlung einer Direktorstelle in die eines Unterstaaissekretärs aber abgelchnt worden ist, so scheint man nicht ausreichend erwogen zu haben, daß man die Mängel, deren Vorhandensein man durch die Bewilligung einer zweiten Direktorstelle voll anerkannt hat, nur nach einer Seite beseitigt, nach der anderen dagegen in ver stärktem Maße bestehen läßt. Durch die Zweiteilung der Abteilung wird der bisherige Direktor entlastet und eine Erleichterung in der Leitung der l^eschäste herbcigesühxt- Aber es ist in keiner Weise für die Einheitlichkeit dieser Leitung gesorgt. Ohne Bestallung eines Unterstaatssekre tärs würde diese Aufgabe dem Minister selbst zufallen und zwar sogar bei Angelegenheiten von minderer Be deutung. Damit ist für den Minister geradezu eine Ver mehrung der Belastung geschaffen, während umgekehrt der große Umfang der Geschäfte der Bauabteilung auch für den Minister eine Entlastung nötig erscheinen läßt. Eine Feuilleton. Feierstunden. Kj Ei« Jahr aus einem Leben Von Emil Roland. Nachdruck vervoien. „Gut, ich will von Höherem reden. Gestern also, wie Ich in die Pension herunterkomme, ist die Platzmajorin in größter Aufregung. Es hatte nämlich ein Fremder an der Klingel gezogen, der Einlaß begehrte. Ein Zimmer war zwar nicht mehr frei, aber selbstverständlich sagte sie Ja und komplimentierte ihn hinein. Ich kam zu folgender Sentenz: eine Frau wie die Platzmajorin nimmt L touL prix alles, was ihr in den Weg kommt. Ist kein Zimmer mehr krei, so gibt sic das ihre und zieht nachts in die Bade wanne. Kommt noch einer, so opfert sie sogar die Bade wanne und schläft stehend im Flur. Keine Gelegenheit wird versäumt. Ein Leutnant war's aus Zittau, mit mehrmonatigem Urlaub in der Tasche, sollte eigentlich nach Arco, bleibt aber einstweilen hier hängen, sieht auch ganz gesund aus, durstet enorm nach geistiger Anregung. Er will viel ins Theater gehen und berühmte Leute kennen lernen. Ich saß bei ihm, solange die Playmajvrin ihren Umzug in die Badewanne bewerkstelligte. Ich glaube, ich kam ihm sehr sonderbar vor, denn er sah mich mehrfach schaudernd an. Da aber Schaudern ja der Menschheit bestes Teil ist, spricht das ja bloß für ihn. Ob man in München leicht an die Berühmtheiten herankämc? fragte er. „Je, nachdem! Sie müssen die Subskriptionsbälle mitmachcn." „Treffe ich da alle?" inguirierte er eindringlich. „Das kann ich nicht wissen. Ich bin sehr abgehärtet gegen Berühmtheiten und laufe keiner nach. Ich inter essiere mich lediglich für mich selbst." „Wohnen Sie ständig hier?" „Treppe höher, im oberen Stockwerk des Lebens." „Sie gehören wohl einer Sekte an? Sic sind so eigentümlich kostümiert?" „Allerdings." „Wie heißt denn Ihre Sekte?" „Struggla kor likore", sagte ich. »LS imponiert« ihm sichtlich, obwohl «r'S nicht ver stand. Währenddessen hatte er aus seinem Notizbuch einen Zettel genommen, lang und schmal wie ein Rezept. Dar auf standen die Namen aller derer, die er kennen lernen wollte. Eine geistige Größe von Zittau hatte ihm mit Hülfe des Konversationslexikons das Verzeichnis gemacht. Obenan stand Hausmann. „Wie komme ich an den heran?" fragte er. „Gar nicht. Der lebt unnahbar, wie der Gott in der Wolke." „Geht nicht aus?" „Horstet in seiner Villa in Schwabing und läßt nur geistige Kapazitäten, die so klug sind wie er, zu sich herein — ich weiß nicht, ob Sie —" und ich besah ihn etwas malitiös. ... Er guckte mich scharf an. „So dumm, verehrtes Fräulein, wie Sic mich zu taxieren scheinen, bin ich gott lob nicht!" Dabei sah er allerliebst aus. Wirklich ein netter Mensch. Die Platzmajorin kam, und ich ließ sie mit der neuen Trouvaille allein. Sie strahlte. Einer zufällig! Er hatte ihre Adresse in der Eisenbahnzeitung gelesen, die man ihm in Treuchtlingen in den Zug warf. Sie segnete sichtlich die Bahncinrichtungen und Treuchtlingen. „Die Pension wird nachgerade Ihr Steckenpferd", sagte Helene. „Ja, und warum auch nicht? Etwas wünschen, hoffen und sorgen mutz der Mensch! Das wäre sonst ja alles so stagnierend in unserm Dasein! Immer nähen und malen, das geht doch nicht! Solche Pension ist ein so lebendiges Moment — solch' ergötzliche Menschcnmosaik. Da sitzen sie so familiär nebeneinander, die aus Man chester und Görlitz, aus Göttingen und Lyon, die Dummen und die Schlauen, die Alten und die Jungen. Alle gleich sam auf Gastrolle. Was und woher sie sind — die ge naue Wahrheit, meine ich — bleibt dunkel. Sic lügen und renommieren, und es entwickelt sich so ein gewisses Pensionslatein, das niemand kontrollieren kann. Die Platzmajorin glaubt alles — oder tut so — und rackert sich ab den ganzen Tag und flattert wie ein scheuer Vogel von hinten nach vorn, begießt in dieser Minute das Roastbeef, bemuttert in der nächsten die Engländerin, der ein Singlehrer Besuch macht — ja, die Platzmajorin ist wahrhaftig groß in ihrem Genre! Wollen wir nicht auch eine Pension gründen, Helene?" „Ich mache es wie der aus Zittau: ich schaudere!" „Ja, Sie haben eS auch -ar nicht nötig! Sie besitzen ja ein Acquivalent gegen alles Oede und Obskure in unserm Leben." „Ich?" fragte Helene erschreckt. „Wie meinen Sie das?" Lenore lachte sie über die Arbeit weg an. „Ich weiß gar nichts", sagte sie. „Aber ich vermute, daß Die etwas Gutes in Ihrem Leben haben, etwas, das Sie seit Ihrer Rückkehr aus Italien so zufrieden und so weich gemacht hat. Und dann frage ich mich wohl zuweilen, wo Sie nur in jenen Nachmittagstunden sein mögen, in denen Sie regelmäßig verschwinden wie jene Prinzessinnen aus alt deutschen Volksmärchen, die achtzehn Stunden vom Tage dem Leben angehören und sechs einem andern — oder wie es nun ist bei Musäus und den Leuten. Sie tauchen dann aus der Wirklichkeit unseres Daseins in den abend lichen Nebel hinein, und wenn Sie wicderkehren, sehe ich Ihnen immer an, daß Sie irgendwo mit Göttern ge tafelt haben in ewigen Festen, an goldenen Tischen. Aber Sie sollen nicht geängstigt werden", fügte sic gutmütig hinzu, „Sie wissen ja, ich spioniere nie. Ich nehme an, Sie haben irgendwo eine alte Tante ausgegraben, die Ihnen schönen Thcc kocht und Novellen für höhere Töchter vorlicst — eine Tante, die sehr eigen auf Toilette sein muß, denn Sie kleiden sich seit einiger Zeit wie eine Milliardärin. Sie sehen so prinzessinnenhaft aus, Helene. Wir sind rechte Gegensätze." „Sie sind die beste Kameradin, Lenore", sagte Helene warm. Von unten schallte Getöse, lautes Scharren, Gezwitscher wie ans einem Vogelbauer. „Die Pension rückt zum Lunch ins Eßzimmer", sagte Lenore anfhorchend. „Und nun geht das Schwatzen los und das Lügen und das Renommieren! Ich wette, der aus Zittau lügt auch!" * * Um vier verließ Selene das Haus und ging eiligen Schrittes der Ludwigstraßc entgegen. Weit und still lag sie da, der schöne romanische Umriß der Kirche in Dämme rung gehüllt, noch mehr in Dämmerung verschwimmcnd der prächtige Triumphbogen, dem sie zuschritt, der wie ein Phantom dort unten stand am Rande der Stadt und in Helene stets aufs neue Sehnsucht erweckte nach seinen stolzen Brüdern am Forum Romanum. Es wehte eine kalte, spröde Dezcmberluft, jener rauhe Gcbirgsatcm, der München so verrufen für Erkältungen macht und so nordisch eisig um die Schläfen haucht. Jen- seiiS des Triumphbogens empfand man ihn weit mehr. Die niedrigen Häuser von Schwabing ließen die Winde dicht über die Straße ziehen. Alles sah unbewohnt aus, denn in vielen Häusern brannte der Uebergangsstunde wegen noch kein Licht, aber aus dem Hause, das sie suchte, blinkte es ihr schon von weitem traulich hell entgegen. An einer Seitenstraße lag es, fast verdeckt in den Nach- bargärren, die ihre hohen Mauern wie einen Gürtel um die kleine Villa zogen. Sie hatte keine Palladioschön- heit, diese Hausmannschc Villa, nur einen Portikus, der den schlichten Mauern ein edleres Gepräge rrab. Erst jenseits der Haustür tat sich eine schöne Welt auf. Das alte Faktotum, das feit seiner Schwester Tod den berühmten Gelehrten allein versorgte, öffnete ihr. Sic nickte der Kommenden herablassend und wohlwollend zu. „Er wartet schon", sagte sie mit Kenncrton und nahm Helene Hut und Mantel ab. An den beiden Wänden des Korridors hingen in langer Reihe Pirancsischc Stiche wie im Goethchckus zu Frankfurt — das Rom von einst mit seiner unzer störten Tiberinsel, ohne modernen Anhauch —, das Rom, um dessen Metamorphose jeder weinen möchte, der cs noch so gekannt. Hausmann trat ihr auf der Schwelle seines Zimmers entgegen. „Sie finden einen Ungeduldigen", sagte er. „Heute ist der kürzeste Tag vom Jahre, der sonnen- und licht loseste: kein Tag wird mir immer so lang als dieser, den man den kürzesten nennt." Er reichte ihr die Hand. „So kalte Hände, Fräulein Helene? Jst's denn wirklich so kalt draußen? Ach, solch ein armer Patient wie ich muß die Kältegrade schon an den Händen seiner Besucher fühlen, sonst hat's kein Inter esse für ibn." „Hausarrest bei so schönen Kaminflammen ist gar nicht so schlimm", sagte sie und streckte ihre Finger über die rote Lohe. „Es ist überhaupt so behaglich bei Ihnen, Herr Professor, ja, ick möchte fast sagen, Ihr Zimmer ist der behaglichste Winkel in ganz Mitteleuropa." Er lächelte. „Sie sind leicht zu befriedigen, aber denken Sie an Schiller! Der wußte wohl, obwohl er sic nie sah, daß der Bettler an den Engelspsorten prächtiger wohnt als wir Nordgcborenen alle? — Aber ich vergesse ganz, Ihnen zu danken, Fräulein Helene! In vierzehn Tagen haben Sie mir einen Waschkorb alter Korrespon denzen aufs musterhafteste geordnet. Schade, daß wir nicht aus dem Kapitol sind! Ich würde Sie sonst für diese Leistung krönen wie Petrarka." „Go, ist'» gut gemacht?" fragte sie fvrubtg.
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