02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 01.05.1903
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1903-05-01
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19030501028
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1903050102
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1903050102
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
- Monat1903-05
- Tag1903-05-01
- Monat1903-05
- Jahr1903
-
-
-
3172
-
3173
-
3174
-
3175
-
3176
-
3177
-
3178
- Links
-
Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
BezngS-Preis i» der Hauptexpedltion oder deren Ausgabe stelle» abgeholt: vierteljährlich ^l 3.—, del zwei maliger täglicher Zustellung ins HauS ^l 8.7k. Durch die Post bezogen für Deutsch laad ». Oesterreich vierteljährlich 4.50, für di« llbrigea Länder laut ZeitungSpreiSliste. Le-aktion und Expedition: Iohannisgasse 8. Fernsprecher 153 und 322. FUtatavprdttt»««, r Alfred Hahn, Buchhandlg., Universitätsstr.3, L. Lösche, Katharinenstr. 14, u. KülligSpl. 7. Haupt-Filiale Dresden: Marienstroßr 84. Fernsprecher Amt l Nr. 1718. Haupt-Filiale Serlin: Earl Duucker, Herzgl. Bayr. Hosbuchhandlg* Lützowsttaße 10 FerusLrrcher Ämt VI Nr. 4603 Abend-Ausgabe. MMer TaMM Anzeiger. Amtsblatt des Äönigkichen Land- und des Königlichen Amtsgerichtes Leipzig, -es Rates und des Rolizeianrtes -er Ltadt Leipzig. Anzeigen Preis die «gespaltene Petitzeile LS H. Reklamen unter dem RedoktionSstrich l4gespallen) 7K vor den Familiennach» richten («gespalten) SO H. Labellarischer und Mernsatz entsprechend höher. — Gebühren für Nachweisungen und Offrrtenaunahme 25 H (excl. Porto). Extra - Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Au-gabe, ohne Postbesörderung 60.—, mit Postbesörderuug 70.—» Ännahmeschluß für Anzeigen: Abeud-Au-gabe: Vormittag« 10 Uhr. Morgeu-AuSgade: Nachmittag« 4 Uhr. Anzeigen stud stet« an die Expedition -u richten. Die Expedition ist wochentags ununterbrochen geöffnet vou früh 8 bis abends 7 Uhr. Druck und Verlag vou S. Pol« iu Leipzig. Nr. 219. Freitaft den 1. Mai 1903. 97. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 1. Mai. Aeutrira» und Sozialdemokratie am Schluffe der Reichs, tagssessio». Man muß es dem Zentrum lasten, daß eS Meister der Taktik ist. An einer Zurückdrängung der Sozial» Lemokratie bei den bevorstehenden Wahlen liegt ihm nichts und kann ihm nichts liegen, denn auf dem An wachfen der sozialdemokratischen Fraktion oder wenigstens der auf sozialdemokratische Kandidaten fallenden Stimmen beruht seine Hoffnung auf die Flucht der Regierenden in die Arme des Klcrikalismus. Außer- dem mag es die Genoffen deshalb nicht zu Feinden haben, weil es von ihnen Hülfe in solchen Fällen wünscht, in denen zwischen nationalliberalen und Zentrums kandidaten Stichwahlen nötig werden. Nun hat bekannt lich bei der Beratung des Phosphorgesetzes wenigstens ein Teil des Zentrums die Sozialdemokraten heftig vor die Köpfe gestoßen, um das Gleiche nicht einigen Fabrikanten antun zu müssen, deren Stimmen und Einfluß bei den Wahlen ins Gewicht fallen kann. Da mußte eine Gelegenheit gesucht werden, den Zorn der „Genossen" zu beschwichtigen. Und diese Gelegenheit bot die Novelle zum Krankenversicherungs gesetze. In der Kommission hatte das Zentrum im Verein mit der Rechten und den Mittelparteien und unter Zustimmung der Regierungsvertreter in die Vor lage Bestimmungen hineingebracht, die den „Genossen" äußerst anstößig waren. Wären diese Bestimmungen aufrecht erhalten worden, so hätten die Herren Singer, Bebel und Genosten sich verpflichtet gefühlt, mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln das ganze Gesetz zu Falle zu bringen und den Arbeitern die Vorteile vor zuenthalten, die das Gesetz ihnen bringen sollte. Und hätten sie dann von ihren Wählern Borwürfe bekommen, so hätten sie darauf Hinweisen können, daß die ausschlag gebende Fraktion, das Zentrum, nicht zu bewegen ge wesen wäre, jene ^von ihm in die Vorlage hinein- gebrachkett Bestimmungen wieder zu entfernen. Die Auf gabe, dem vorzubeugen, fiel dem klerikalen Abgeordneten Trimborn zu. Und er hat sie gelöst. Er brachte es fertig, daß die maßgebenden Fraktionen die von der Kommission in 8 42 vorgeschriebene Dienstordnung fallen ließen und sich damit einverstanden erklärten, daß die Entsetzung von Krankenkassenbeamten auf solche Fälle beschränkt wird, in denen grobe Verletzung der Amtspflicht in Bezug auf die Kastenführung vorliegt. Die sozialdemokratische Fraktion verpflichtete sich dagegen, keinen Antrag auf namentliche Abstimmung zu stellen. Zu weiter nichts. Aber schon damit war dem Zentrum ge holfen. Bei der Unmöglichkeit, zu den beiden letzten Sitzungen, die zur Verabschiedung des Gesetzes nötig waren, ein beschlußfähiges Haus zusammenzubringcn, hätte ein Antrag ans namentliche Abstimmung das Be gräbnis der Novelle bedeutet. Und ein solches Ende der langen Beratung wäre für das Zentrum und die sozial demokratische Fraktion gleich unangenehm gewesen. Nun ermöglichten die Konzessionen des Zentrums den Genossen dieDuldung der Annahme des Gesetzes und gestatteten ihnen gleichzeitig, da zur Annahme eine einfache Mehrheit genügte, die Abstimmung mit „Nein". Die Herren Bebel, Singer und Gen. sind nun „fein heraus". Die Wohltaten des Gesetzes bleiben den Arbeitern nicht vor enthalten, die ihnen anstößigen Bestimmungen sind be seitigt, und doch hat die sozialdemokratische Fraktion die Annahme -es Gesetzes nur geduldet, nicht direkt bewirkt. Und „fein heraus" ist auch das Zentrum. Es kann Dank barkeit von den Arbeitern sowohl, wie von den sozialdemo kratischen Führern verlangen, denn die Sünden der Herren Pichler und Gesinnungsgenossen beim Phosphor gesetze sind gebüßt. Und wenn bei den Stichwahlen ein sozialdemokratischer Kandidat klerikale Unterstützung ver langt, so braucht das Zentrum den Sozialdemokraten nicht vorzuwerfen, sie hätten die Krankenkassennovelle, an welche das Zentrum so große Mühe gewendet, zum Nachteile der Arbeiter zu Falle gebracht. Schwarze und rote Brüder können einander unterstützen nach Herzenslust. Den größeren Vorteil dürfte von dieser gegenseitigen Unter stützung aber doch wohl das Zentrum haben. Ein An wachsen der sozialdemokratischen Mandate oder Stimmen zahl treibt wohl die Regierung in die Arme des Kleri- kalismus, nie aber dessen Machtzrnvachs die Regierungen in die Arme der Sozialdemokratie. Deutsche «ud englische Kolonialwirtschast in Ostafrika. Angesichts der reichen Erfahrungen und Erfolge der Engländer auf kolonialwirtschaftlichem Gebiete ist es bei der deutschen Presse der verschiedensten Richtungen zur Gewohnheit geworden, uns für uisser Vorgehen auf diesem Gebiete die Vettern jenseits des Kanals als un erreichte Vorbilder hinzustellen. Demgegenüber ist es nicht ohne Interesse, zu beobachten, wie die Erfolge der Deutschen und -er Briten in Kolonien, wo beide Nationen auf annähernd denselben Grundlagen haben arbeiten können, von Bollblut-Engländern beurteilt werden. Ein typisches Beispiel in dieser Hinsicht ge währen Deutsch- und B ri ti s ch - Ostafrika, zwei Nachbarkolonien, die ungefähr zur selben Zeit gegründet sind, im wesentlichen dieselben Verhältnisse aufwcisen und sich somit zu einem Vergleiche besonders gut eignen. Da hat nun vor kurzem der englische Botaniker und Natur forscher A. Whyte über eine Bereisung Ostafrikas einen Bericht veröffentlicht, in dem er rund heraus er klärt, daß — natürlich abgesehen von dem Bau der Uganda-Bahn durch den die britische Kolonie einen weiten Vorsprung vor Deutsch-Ostafrika hat — sonst di- Deutschen in Ostafrika den Engländern 10—12 Jahre voraus seien! Sie hätten erhebliche Summen für die wirtschaftliche? Entwickelung ihrer Besitzungen aus gegeben, begännen aber jetzt den Lohn ihres Unter nehmungsgeistes zu ernten. — Dieser Vergleich des Mr. Whyte entspricht durchaus den tatsächlichen Verhält nissen, denn die wirtschaftliche Entwickelung der britisch ostafrikanischen Küstendistrikte ist weit hinter der der deutsch-ostafrikanischen zurückgeblieben. Versuche zum Plantagenbetrieb mit europäischem Kapital sind von den Engländern nicht gemacht, und die Eingeborenenkulturen sind von ihnen nicht entfernt in dem Grade gehoben worden, wie in dem deutschen Schutzgebiete. Uebrigens wirb das Urteil Whytes noch von einem zweiten eng lischen Sachkenner bestätigt, dem Geologen Professor I. W. Gregory, der in einem in vorigem Fahre er schienenen Buche: „Ilio kounciation ok British Bsst Hckrioa" heftige Borwürfe gegen die Verwaltung der britischen Kolonie richtet, namentlich auch eine vielfach bewiesene unzeitgemäße Sparsamkeit beklagt und wieder holt das deutsche Vorgehen in Ostafrika als Muster htnstellt. Für Gebiete, in denen annähernd gleiche Vor bedingungen gegeben sind, braucht also die koloni satorische Tätigkeit Deutschlands den Vergleich mit der erfolgreichsten Kolonialmacht der Welt keineswegs zu scheuen. Diese Ueberzeugung darf aber die Freunde unserer Kolonialwirtschaft nicht in dem Bestreben er lahmen lassen, Deutsch-Ostafrika immer mehr durch För derung der Verkehrsmittel, durch Anlage und Bau wenigstens von Küsten-Stichbahnen zu erschließen, da die Projekte größerer Jnlandsbahnen vorläufig leider keine Aussichten auf Verwirklichung zeigen. Zur Aufhebung des englischen Kornzolles. Nachdem der englische Finanzminister Ritchie noch vor wenigen Wochen gegenüber einer Abordnung des Ge- nosscuschaftskongresses erklärt hatte, daß in absehbarer Zeit an die Aufhebung deSKornzolles nicht zu denken sei, da auch die minder bemittelten Klassen an den Kosten für die Größe des britischen Reiches ihren Anteil tragen müßten, somit der Kornzoll wie der Zuckerzoll durchaus gerecht sei, war man allgemein überrascht, als dennoch die Aufhebung des Kornzolles angekünbigt wurde. Offenbar hat man es hier mit einer Maßnahme zu tun, die wesentlich aus Gründen der inneren Politik beschlossen worden ist, um die organisierten Arbeiter nicht in das Lager der Opposition zu treiben. Die Aufhebung des Kornzolles wird vor allem in Kanada mit Un behagen vernommen worden fein, wo man sich der nicht unbegründeten Meinung hingab, daß die englische Regie rung als Gegenzugeständnis für die kanadischen Vor zugszölle zu Gunsten der englischen Einfuhr das kanadische Getreide zollfrei einlassen werde, sobald Kanada genügend leistungsfähig sein würde, um den Weizenbedarf des englischen Marktes so ziemlich zu decken. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Kanada infolge dieser Enttäuschung sich geneigt zeigt, mit dem deutschen Reiche wieder in ein zollfreundliches Ver hältnis zu gelangen. Beharrt aber Kanada auf seiner bisherigen Zollpolitik mit der Begünstigung der eng lischen Einfuhr, so wird es über kurz oder lang Gegen zugeständnisse fordern, und dann dürfte die englische Negierung ebenso rasch bereit fein, den Kornzoll wieder einzuführen, wie sie ihn jetzt beseitigen will. Bet ge nügender Leistungsfähigkeit Kanadas entfällt dann auch der Einwand der organisierten Arbeiter, daß der Korn zoll das Brot verteurc. Auf die künftige Handelspolitik Englands lassen sich aus der Aufhebung des KornzolleS vorläufig keinerlei Schlüsse ziehen. Von den Grund sätzen des Freihandels ist England bereits so vielfach ab gewichen, daß man es kaum noch als ein freihändlerisches Land betrachten kann. Erheben doch die wichtigsten eng lischen Kolonien, wie Kanada, Australien und Südafrika, Schutzzölle, die im Durchschnitt beträchtlich höher sind, als die Zölle jener europäischen Staaten, die nach der Auf fassung der englischen Freihändler eine rückständige Handelspolitik treiben. Saure Trauben im Tomalilande. Die Engländer baben genug abbekommen im Somalilande, eS gelüstet ihnen nicht nach äbnlichen „Erfolgen" wie in Süd afrika und sie ziehen eS vor — tapfer zurückzuweichen. DaS wenigstens ist der langen Rede Sinn, die KrieqSminister Brodrick gestern im Unterhause gehalten hat. ES wird unS darüber berichtet: * London, 30. April. (Unterhaus.) Bei der Beratung der Forderung von 6 875 000 L für daS HeereSbudget beantragt Charles H obhouse (lib.) einen Abstrich als Protest gegen daS Vorgehen der Regierung im Somaliland. Unterstaat-srkretär Cranborne erwidert, wenn England seine Stellung im Somali land aufgebe, würde seine Stellung in Abessinien ernstlich in Mitleidenschaft gezogen werden. Die Regierung habe die Operationen nur unter großem Widerstreben vorgenommen, diese seien aber unvermeidbar gewesen. Kriegsminister Brndrick erklärt, die Regierung erkenn« die herzliche Mitwirkung, die ihr von Italien zu teil geworden sei, durchau« an, England habe aber nicht ganz die Unterstützung erhalten, die eS bezüglich MudugS auf seiteu Italien« vorauszuirtzen Grund hatte. Zweifellos feien aber seit der Besetzung von Mudug Schwierigkeiten entstanden, welche die italienische Regierung nicht vorauSsehen konnte; die englische Regierung sei weit davon entfernt, die Haltung der italienischen Regierung zu kritisieren, welche durchaus sehr freundschaft lichen Charakter- war. Er wünsche, die Annahme zu besei tigen, daß England durch ein Abkommen mit der italienischen Regierung verpflichtet sei, bei Mudug Halt zu machen. Die Eng länder hätten den Mullah au« Mudug vertrieben, und wenn die italienische Regierung die Oase von Mudug halten wolle oder dort einen eingeborenen Häuptling, zu dem sie Vertrauen habe, einsetzen wolle, jo habe England ihr den Weg offen gelassen, dies zu tun. Die Verantwortlichkeit der englischen Regierung bezüglich MudugS sei auf die Vorteile beschränkt, die nach Ansicht deS kom mandierenden Generals möglicherweise durch eine weitere Besetzt haltung errungen werdrn könnten. Brodrick schließt: Wir beab sichtigen nicht, fernerhin noch auf italienischem Gebiet zu operieren, obgleich wir die Unterstützung, welche unS von der italienischen Regierung zu teil geworden ist, völlig anerkennen. Unsere Politik geht dahin, die Küstenlinie zu behaupten und die Stämme, mit denen wir durch Verträge verbunden sind, zu schützen. Wir beabsichtigen nicht, daS Land, welches wir jetzt besetzt halten, zu verwalten und uns durch Entsendung großer Verstärkungen schwere Ausgaben zu machen, wenn auch vielleicht Verstärkungen entsandt werden, um die Posten, für die eS nötig ist, zu halten. Aber nur Poste« defensiven Charakters für den Schutz der Slämme innerhalb unserer Grenzen werden errichtet werden. Wir haben dem Mullah schon «inen schweren Schlag beigebracht und der Zweck der Expedition ist erreicht. (Gelächter auf den Bänken der Opposition.) Fernere Operationen werden von den Nachrichten ab hängen, die von General Manning eingehen werden, der jetzt in Galati ist. General Manning, Oberst Cobbe und die abessinischen Streitkräfte stehen jetzt in günstigen Stellungen, um das Begonnene durchzusühren. Nach weiterer Debatte wird der Antrag Hobhouse mit 233 gegen 118 Stimmen abgelehnt. Das Gelächter, welches BrodrickS Behauptung, dem Mullah sei schon ein schwerer Schlag beigebracht, der Zweck de« Feldzugs sei erreicht, im Unterbause auslöste, wird sich durch die Presse aller Länder sorlpflanzen und auch in Afrika gekört werden. England gibt zwar seine Stellung im Somalilande nicht definitiv auf, aber eS beschränkt sie doch auf den schmalen Küstenstreifen, das Hinterland in der Gewalt des Mullah lassend. Dessen Prestige steigt damit natürlich gewaltig, während daS des stolzen Albion bedenklich erschüttert wird — auch in Abessinien, was zu verhüten Cranborne gerade für die Ausgabe der Regierung erklärte. Fairilletsn. Freiheit. Roman von Walter Schmidt-Häßler. . rUamoru». u«rooren Ein wundervoller Wintertag lag über der altersgrauen Residenzstadt. Die Luft hatte schon etwas Lenzhaftes, Weiches, der Himmel war blau und wolkenlos. Auf der grünen Flut des kleinen Sees, auf dem noch vor wenigen Wochen die Schlittschuhe ihre Kreise gezogen hatten, glitten die Enten und Schwäne hin, und unwillkürlich hätte man beim Spa zierengehen sich bücken mögen, um unter den Bäumen nach den ersten Veilchen zu suchen. Es war Sonntag. Von der naben Kreuzkirche herüber klangen die Glocken: in dem Stadtpark und auf den Wegen -er Promenade wimmelte es von Spaziergängern. In einer Seitenallee gingen zwei Männer in ernstem Gespräch nebeneinander her. Der eine, hochgewachsen und schlank, von ausgesprochen aristokratischem Aeußern, französischem Spitzbart und tadelloser Toilette. Der andere, bei weitem jüngere, ver riet auf den ersten Blick den Künstler. Das dunkelbraune lockige Haar unter dem breitkrämpigen Filzhute, der -raue, etwas altmodische Havelock und das Ungezwungene im ganzen Anzuge stimmten jedoch harmonisch zu dem hübschen, ausgesprochenen Künstlergesicht, daß man sich Reinhardt Berning gar nicht anders hätte denken können, ebenso, wie sein Freund und Mäcen, Baron Franz von Remmingen unmöglich anders hätte sein können, als in kull cirvss. Und wie sie nun einmal waren, so stimmten sie wunder voll zueinander, obwohl sie in Bezug auf ihre Lebens- stellung, auf die Art und Weise, sich ihre Existenz einzu richten, ja sogar bis auf einen beträchtlichen Teil ihrer Ansichten grundverschieden voneinander waren. „Ich verstehe dich nicht, mein Junge", fuhr der ältere In dem Gespräche fort, „wenn du tatsächlich so unheilbar verliebt bist und du obendrein die beruhigende Gewißheit Vast, ebenso wiedergeliebt zu werden, so mach doch diesem Hangen und Bangen ein vernünftiges Ende, und heirate!" . „Du hast gut reden!" brummte der andere, „als ob ich ff» so einfach könnte. Erstens habe ich nichts — so gut nichts, und mit meinen Aussichten auf die Zukunft kann ich keinen eigenen Herd bauen. Wenn ich so ohne weiteres heiraten könnte, wie ich möchte, dann würde ich mich wahrhaftig nicht lange besinnen, selbst die Schwieger mutter würde ich mit in den Kauf nehmen!" „Na ja — die ist ja keine besonders sympathische Mit bürgerin, das geb' ich zu! Ich habe sie ja nur ein paar mal gesehen, auf öffentlichen Bazaren und Wohltätigkeits besten; aber selbst in so homöopathischen Dosen verabreicht, onnte sie mir keinen Geschmack abgewinnen. Uebrigens ist sie — der Wahrheit die Ehre — eine ganz auffallend hübsche Frau, und wenn man ihren Eheyerrn, den ge borenen Bourgeois, nicht gerade neben ihr sieht, macht sie sogar einen leidlich distinguierten Eindruck!" „Das ist ja eben das Unglück, daß sie sich so famos kon serviert hat. Sie ist lebenslustig und dabei bodenlos eitel, wie alle oberflächlichen Frauen ihres Genres, nnd so sind ihr die drei Töchter viel zu früh erwachsen, namentlich Ella, deren einundzwanzig Jahre sich doch nun mal nicht wegleugnen lassen, besonders hier in dem Neste, wo man sie von Kindesbeinen an kennt. So erscheint ihr'natürlich die Aelteste wie ein beständiger lebender Vorwurf!" „Dann würde ich an deiner Stelle dieser lebens freudigen Mama den Gefallen tun, ihr diese Aelteste so weit als möglich aus dem Gesichtskreise zu entführen. Hei rate sie imd geh' mit ihr in die Welt, denn du wirst doch nicht die sträfliche Absicht haben, hier in diesem Schtldburg dein ganzes Leben zu verbringen? Der Alte hat Geld genug — und es muß ihm doch eine Ehre sein, einen Künstler von Gottes Gnaden, und der bist du, mein Junge, in seine Familie zu bekommen! Ein Mensch, der mit dreiundzwanzig Jahren den goldenen Preis auf der Ausstellung bekommen bat, dem daher die ganze Welt »ffen steht, der kann doch wahrhaftig an jeder Tür anklopfen!" „Nur an dieser nickt!" erwidert« Reinhardt mit einem spöttischen Zucken um den hübschen Mund. „Hätte ich statt der goldnen Medaille ein Patent für wasserdichte Baum wolle aufzuweisen — 4 In txmksur —, dann könnte ich mich schon eher sehen lassen. Und dann hat mein armer Vater sein ganzes Leben als einfacher Kanzlist dahin gelebt, hat feinem Sohne nichts hinterlassen, als eine ehr lich zusammengesparte Gymnastalbildung und die Studien auf der Akademie. Glaubst du, das könnte diesen Lenten imponieren? Für sie bleibe ich der SekretärSjunge aus dem vierten Stock!" „Böotier!" sagte Remmingen verächtlich. „Verzeih' mir -er Himmel meinen Widerwillen gegen dieses Ge schlecht; aber als Großstädter verstehe ich nun mal diese Spezies von Menschen nicht, in deren Hirn sich die Welt mit Farben malt, die für unsereinen auf keiner Palette mehr existieren! Aber deine Ella ist Loch großjährig — lann doch schließlich tun und lassen, was sie will!" „Reinhardt lachte kurz auf. „Hast du denn eine Ahnung von -er geistigen Sklaverei, in -er sie ihr Dasein dahin lebt? Trotz ihrer Großjährigkeit! In dem Wahne, un gemein sittenstreng und moralisch zu sein, übt diese Mutter ja eine geradezu vernichtende Zensur über das Geistes leben ihrer Kinder. Bei den beiden andern will das ja nichts sagen, denn das sind oberflächliche Lebewesen, wie sie der Herrgott in Rudeln erschafft. Sie kochen, häkeln und nähen, die eine malt auf Glas, Holz und alles, was stillhalten mutz, und die andere bearbeitet das landesübliche Klavier. Nebenbei sind sie rechtschaffen kokett, wenn's die Mama nicht sieht, und gehen jeden Sonntag in die Kirche, um die Zeit totzuschlagen. Daß die Aelteste so aus der Art geschlagen ist, Freude an Kunst und Literatur zu empfin den, gern ins Theater zu gehen, nicht bloß um den Abonnementsplatz abzusitzen, sondern sich wirklich zu er bauen — das geht über den Horizont der Mutter und macht ihr schlaflose Nächte. Sie selbst ist ja, was höhere Bildung anbelangt, rührend unschuldig und rein wie ein Engel, und darum erscheint ihr jedes Buch in den Händen ihrer Tochter, das nach dem Jahre 1860 gedruckt und gar in Berlin verlegt ist, als ein offener Protest gegen ihr moralisches Gefühl. Natürlich liest daS arme Ding nun heimlich, Nächte lang, und ihre Lektüre erscheint ihr wie ein großes offenes Fenster, durch daS sie aus ihrer Skla verei die herrliche GotteSwelt locken und winken sieht in all ihrer Schönheit. Aber da» Fenster liegt im vierten Stock und — die Dummheit hält vor der Tür Wache. Siehst du, daS ist's, was mich ängstigt und unglücklich macht, daß ich das mit ansehen muß und nicht Helsen kann!" „Weißt du, Reinhardt", sagte Remmingen fast weich, „es hat doch etwas unendlich Rührendes, so eine Jugend- liebe. Trotz aller momentanen Tragik und AuSsichtSlosig- leit könnte man dich darum beneiden. Wenn man so an fängt, älter zu werben, wie ich, und sich vor dem unerbitt lichen Spiegel ängstlich die ersten grauen Haare an den Schläfen auszupst, dann möchte man mit Wonne seine gay-e Junggesellenherrlichkeit mit so einer unglücklichen Jugendliebe vertauschen. Du hast doch immerhin noch Chancen, mein Junge, bist jung, bist fähig, all den poeti- schen Zauber zu empfinden, der so riesig glücklich macht, während ich mich allmählich in ein Aspic von Philosophie und Misogyne einkapsele — zu besserer Konservierung!" „Weshalb hast du eigentlich nicht geheiratet?" fragte Reinhardt, und blieb stehen. „Warum?!" wiederholte der Baron und schlug mit der Stockspitze einen Kiesel weg, daß er in weitem Bogen über die Beete flog, „weil ich das verpaßt habe, was du dir so gern erkämpfen möchtest und auch erkämpfen wirst — die Jugendliebe. Ich war ein flotter Leutnant und steckte naturgemäß bis über die Ohren in Schulden. Dabei war ich verliebt, wie man eben nur zum ersten Male verliebt sein kann. Aber ich sollte reich heiraten, sehr reich, und sie, auf der mein Auge mit Wohlgefallen ruhte, hatte gar nichts, als einen Adelsbrief, der bis zu den ersten Kreuz fahrern zurückreichte. Aber das war zu wenig! Da ich mich nun nicht entschließen konnte, ohne Liebe zu heiraten, so erregte ich den Zorn der meinigen im höchsten Grade. Man bezahlte meine Schulden nicht mehr, und ich war gezwungen, meinen Abschied zu nehmen. So kam ich allen am schnellsten ans den Augen, und — auch ihr! Aber ich blieb ledig! — Arm, aber ehrlich — war meine Devise.7 „Nun — und sie, die du liebtest?" „Du lieber Gott, mein Sohn, die Sache endete gar nicht so furchtbar tragisch. Es war die alte Geschichte, von der Heinrich Heine singt. — Ich ging in die Welt, und als mein Vetter wider Erwarten das Zeitliche segnet« und mich mit, indem er mir das reiche Majorat hinterließ, da hatte sie einen andern heiraten — müssen! Ich sah sie nie wieder, forschte nie nach ihr — aber auch geliebt habe ich nicht wieder!" „Niemals wieder hat dein Herz für ein anderes Weib geschlagen?" „Nein! ES ist merkwürdig; aber wahr! Vielleicht ist es auf einen Defekt meiner seelischen Funktionen zurück, zuführen; aber die große Liebe, die gewöhnlich auf die erste Neigung folgen soll, blieb aus. Und jetzt warte Ich nicht mehr darauf." (Fortsetzung folgt.)
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)
- Doppelseitenansicht
- Keine Volltexte in der Vorschau-Ansicht.
- Einzelseitenansicht
- Ansicht nach links drehen Ansicht nach rechts drehen Drehung zurücksetzen
- Ansicht vergrößern Ansicht verkleinern Vollansicht