02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 02.05.1903
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1903-05-02
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
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- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19030502029
- PURL
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- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1903050202
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- LDP: Zeitungen
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
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Tabellarischer und Ziffernsatz entsprechend höher. — Gebühren >ür Nachweisungen und Offertenannahme 25 H (excl. Porto). Extra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbesörderung 60.—, mit Postbesörderung 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-AuSgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgab«: Nachmittags 4 Uhr. Anzeigen sind stets an die Expedition - zu richten. Die Expeditton ist wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis abends 7 Uhr. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. Sonnabend den 2. Mai 1903. S7. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 2. Mai. Der Schluff des prentztschen Landtages. Dem Schluffe des Reichstages ist nun auch der des preußischen Landtages gefolgt. Bevor eS aber zum KehrauS kam, versetzte die agrarische Rcckie des Herren hauses die Minister in dieselbe Zwangslage, in die die konservative Fraktion d«S Reichstages vor wenig Tagen die Vertreter teS Bundesrats versetzt hatte. Es war selbstverständlich, daß, da die Bundesratsvertreter den Sitzungs saal verlassen batten, nachdem der Staatssekretär Graf Posa- dowsky nn Namen des Reichskanzlers erklärt hatte, die Inter pellation wegen Kündigung der Handelsverträge nicht beantworten zu können, die preußischen Minister das Gleiche tun mußten, als im Herrenbause der Antrag zur Beratung kam, der Ministerpräsident solle im BundeSrate seinen Einfluß dahin geltend machen, daß die bestehenden Handels- und Meistbegünstigungsverträge schleunigst gekün digt würden. Aber wie der vorauszuiehende Auszug der Minister die Antragsteller von ihrer Absicht nickt adgebrachl hatte, so verhütete die Ministerdemonftration weder die Be ratung noch die Annahme des Antrags. Vergebens suchte der frühere Landwirtschaftsminister Frhr. Lucius ».Ball hausen diese Annahme abzuwenden; vergebens verwies er auf den guten Willen, den die verbündeten Regierungen bei der Gestaltung des Zolltarifs gezeigt hätten; vergebens be tonte er, daß die Annahme des Antrages ein Mißtrauens votum für die Regierung bedeute. Die Mehrheit mochte es sich nicht versagen, der Welt zu zeigen, daß sie in einer Frage, die bei den bevorstehenden ReichStagswahlen von höchster Bedeutung sein wird, der Regierung mißtrauisch, ja feindselig gegenübersteht und sie dem Auslande gegenüber in einer Weise zu binden sucht, welche jede freie Bewegung bei den Handelsvertragsverbandlungen unmöglich macht. Vergebens fragt man sich, welchen Zweck die Herren mit einem derartigen Vorgehen verfolgen. Daß die ReichSregierung sich zur baldigen Kündigung der geltenden Handels und MeistbegünstigungSveriräge nur verpflichten könnte, wenn sie sicher wäre, daß in Jahresfrist mit allen in Betracht kommenden ausländischen Staaten neue Verträge abgeschlossen und diese innerhalb dieser Frist von allen Volksvertretungen dieser Staaten genehmigt und von den Herrsckern derselben ratifiziert sein würden, liegt auf der Hand. Man kann also nur annebmen, dieses Verlangen solle lediglich die konserva tiven Wähler in eine Oppositionsstimmung hineinzwingen. Und wenn dies die Absicht ist, so können sichS die übrigen Parteien gefallen lassen. — Daß über den Gesetzentwurf wegen der Vorbereitung für den höheren Verwaltungsdienst eine Einigung zwischen beiden Häusern und der Regierung nicht zu eizielen sein würde, war vorauszusehcn. Der Ent wurf ist also unter den Tisch gefallen. Immerhin haben die Debatten in beiden Häusern der Regierung wichtige An regungen sirr die Zukunft gegeben. Beispiele von verblüffender Bevorzugung des AoelS und der Korpsstudenten, die im Herren- hauie Pros. Schm oller ausjührle, bewiesen selbst dem Minister v. Hammerstein, daß es so nicht weiter gehen könne, wenn nicht der führende deutsche Staat den übrigen deutschen Staaten als abschreckendes Beispiel dienen soll. Und noch wichtiger waren die Hindeutungen auf die herrschenden Mängel bei der akademischen Vorbereitung der höheren Der- waltungsbeamten. Wie Prof. Schmoller, so rügte auch Prof. LöningS den Mangel an Fleiß gerade der in Frage kommenden Studierenden, der den Grund bilde für die allgemein beklagte unzureichende, nicht genügend vertiefte Vorbildung. Professor Schmoller wies auf die Notwendigkeit eines Kompromisses zwischen akademischer Freiheit und dem Lernzwanz hin; Minister v. Hammerstein erklärte freilich, daß man ein solches Kompromiß nickt brauche, aber er fügte doch hinzu, die akademische Freiheit bestehe nur darin, daß der Lernende sich selbst aussucken könne, was er lernen wolle; was er sich jedoch ausgesucht habe, vaS müsse er dann auch fleißig lernen. Aber hier fehlt eben die Möglich keit einer Nötigung. Minister v. Nheinbaben ging dann noch einen Schritt weiter und meinte, es würde bei den neuen Reglements zu erwägen sein, ob man von den Stu denten, die zur Verwaltung gehen wollen, nicht geradezu ver langen solle, daß sie daS staatswissenschastlicke Seminar besucht baden. Auch für die spätere praktische Förderung der jungen Negierungsreferendare gab der Minister beachtenswerte Fingerzeige, die hoffentlich verwirklicht werden. Jedenfalls herrscht darin Uebereinstimmung, daß hier Mißstände vor liegen, die unbedingt beseitigt werden müssen. Der wieder holte energische Hinweis darauf in der Ocffentlichkeit wird wenigstens bewirken, daß man die Angelegenheit nickt ver sumpfen läßt; vielleicht trägt er auch direkt zur Besserung bei. Der sozialdemokratische Wahlaufruf, der soeben erschienen ist, bestebt auS einer Sammlung wohl bekannter Phrasen, wie man sie im „Vorwärts" seit Jahren an politischen Sonn- und Feiertagen zu lesen gewohnt ist. Es sind die alten Wendungen über Untervrückung und Aus beutung, über Militarismus und Marinismus, über Zoll wucher und Kolonialpolitik, über drohende neue Steuern, über die leidenden Kulturansgaben usw. Auf der andern Seite preist sich die Sozialdemokratie als die Vorkämpferin für Reckt und Billigkeit, für Völkerverständigung und Völker frieden an. Ganz wie vor fünf Jahren wird der Wahltag als Tag deS Gerichtes, der Abrechnung mit denen, „die euch hudeln und bütteln", dezc.chnet und auch das sozial demokratische Ziel, „die Herbeiführung der sozialistischen Staats-- und Gesellschaftsordnung, gegründet auf dem gesellschaftlichen Eigentum an den Arbeitsmitteln", wird schließlich in aller Kürze erwähnt. Zu dem allen braucht nichts mehr gesagt zu werden. Aber eine Stelle des Wahlaufrufes verdient ihrer praltischen Bedeutung halber Beachtung, die Stelle nämlich, an der es heißt: „Als entschiedene Anhänger einer Handelsvertragspolitik, die den Austausch von Waren und Kulturmiiteln mit allen Völkern der Erde nach Möglichkeit erleichtert, müssen wir aber Handelsverträge, welche, auf Grund des neuen Zolltarifs abgeschlossen, unsere Handelsbeziehungen mit dem Auslande und die Lebenshaltung der großen Masse der Bevölkerung verschlechtern, aufs entschiedenste bekämpfen." — Wenn damit ernsthaft gesagt sein soll, daß die sozialdemo kratische Reichstagssraktion, die selbst den Wahlaufruf erläßt, Handelsverträge mit erhöhten Getreidezöllen ablehnen werde, dann muß die industrielle Arbeiterschaft so nachdrücklich wie möglich darüber belehrt werden, daß die Sozialdemo kratie gleich dem extremen Agrariertum geneigt ist, es auf einen handelsvertragslosen Zustand an kommen zu lassen. Je heftiger jenes Agrariertum gerade von der Sozialdemokratie wegen seiner Handelspolitik bekämpft wird, um so leichter muß es sein, die Arbeiter freundlichkeit der Sozialdemokratie betreffs der Handelsverträge in das rechte Licht zu setzen. Ter Kampf um eine vlamische Hochschule ist an einem Wendepunkte angelangt. Aus dem Schoße der Kommission zur Vervlaamsching der Genter Hochschule waren plötzlich Stimmen laut geworden, die erklärten, nach reiferer Ueberlegung sei man überzeugt, die Forderung sei eine zu „radikale", man müsse, wolle man etwas erreichen, über haupt mehr opportunistisch zu Werke geben. Zu gleicher Zeit kam einer der angesehensten Vlamensübrer, Hochschullehrer Paul Fredericq von Gent, mit einem neuen Vorschlag; nämlich in jeder Fakultät ein paar Lehrer, die das Nieder ländische beherrschen, auszufordern, ihre französischen Lesungen aus vlamisch zu wiederholen. Trotz heftigen Widerspruchs gab Fredericq seinen Plan nickt auf, versuchte vielmehr in seiner Leitung und in einem vlamischen Studentenvereiue für denselben Stimmung zu machen. Dies gelang ihm aber nur schwer. Zuletzt suchte er den Algemeen Neder- landschen Verband zu verhindern, sich für das System der Kommission zu erklären; in dem Gentschen Zweige dieses Vereins kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung, wobei die Abstimmung nur eine Mehrheit von zwei Stimmen für die Kommission ergab. Erst 14 Tage später sollte die Frage endgültig auf der jährlichen allgemeinen Versammlung des Verbandes für ganz Belgien zum Austrag kommen. Aus allen Gauen waren die Vertreter der Zweig vereine erschienen. Die Opportunisten boten ihren ganzen Einfluß auf, um eine endgültige Abstimmung aufzuschieben; die jüngeren Mitglieder aber verlangten stürmisch eine Ent scheidung. Die fiel denn auch, und zwar ergab sie eine ver nichtende Niederlage für die Gegner des Kommissions vorschlags. Fredericq stand mit zweien seiner Anhänger einer Mehrheit von 31 Stimmen gegenüber. So ist der Kampf unter den Vlamen selbst beendet, der seit 2>/z Jahren die Bewegung zur Eroberung der. Genter Hochschule lahm gelegt hatte. L-ic Dynanutanschläge in Saloniki dauern sort, und eS ist begreiflich, daß sie der Lage einen höchst bedrohlichen Charakter geben. Sind sie doch offenbar planmäßig und von langer Hand vorbereitet, was der Ansicht Vorschub leisten muß, daß die Balkanunruhen nicht eine nach der bisherigen Erfahrung vorübergehende Luftersckütterung im europäischen Wetterwinkel sind, sondern diesmal sehr ernst genommen werden wollen. Heute berichtet man uns: * Saloniki, 1. Mai. („Agence Havas.") Gestern wurden hier wieder 8 bis 10 Bomben geworfen. Mehrere Personen wurden hierbei getötet; zahlreiche Verhaftungen wurden vor genommen. Die Panik dauert an. Bedauerlich ist es, daß bei dem ersten Anschläge auch deutsche Reichsangehörige getötet und verwundet wurden. Was die Macher dieser blutigen Intermezzos wollen, ist ja klar. Ihnen kommt es darauf an, eine Einmischung der Mächte zu erzwingen, um dann, in der sicheren Erwartung, daß diese untereinander in Zwiespalt geraten werden, bei der einen oder der anderen für r-ie großbulgarische Idee mächtige Protektion zu finden. Wie aus den letzten Nachrichten weiter hervorgeht, besagen neue unkontrollierbare Gerüchte, daß die ComiteS in Konstantinopel, in Monastir und anderen Orten ähnliche Anschläge, wie die von Saloniki planen. Verschiedene diplomatische Stellen haben daher der Pforte die allerstrengsten Vor sichtsmaßregeln angeraten. Wie gewöhnlich sind in Konstantinopel, wie versichert wird, zweifelhaft Gerüchte im Umlaufe, so z. B., daß di: Pforte und Bulgarien eine allgemeine Mobilisierung angeordnet haben und anderes. Auch bezüglich angeblicher Schritte der Mächte steht nur fest, daß die Chefs der diplomatischen Missionen sich vorläufig allseitig über die Vorfälle unterrichten, sodann ihren Regie rungen berichten uud Instruktionen erbitten werden, was nicht hindert, daß einige von ihnen aus eigener Initiative die Vorfälle mit der Pforte besprachen, entsprechende Maßregeln zum Schutz ihrer Untertbanen verlangten, die Pforte für etwaige Verluste an Leben und Gut der Untertanen verantworlich machten und freundschaftliche Ratschläge erteilten. — Die Vorfälle in Saloniki haben selbstverständlich in türkischen Regierungskreisen große Er regung hervorgerufen und auch auf die diplomatischen Kreise großen Eindruck gemacht. Unter letzteren soll jedoch die Meinung vorherrschend sein, daß durch die Dynamitanschläge, welche Verluste von Leben und Eigentum fremder Untertanen verursachten, die Comitös ihre makedo- donischen Landsleute und die Bulgaren unendlich geschädigt haben. (?) Die Mächte werden wahrscheinlich die Pforte nicht hindern, die allerstrengsten Maßregeln gegen die Comitss zu ergreifen. (Nur schade, daß die Pforte zu diesen allerstrengsten Maßregeln sich nie entschließen kann! D. Red.) Wenn die Psorte gleich rasch hantele (was sie aber nicht tut. D. Red.), könne sie angesichts der heutigen Friedensabsichten und der Unterstützung der Mächte alle üblen Folgen der Ereignisse ver hindern. — In diplomatischen Kreisen ist man erstaunt, daß die Pforte, welcher in der letzten Zeit avisiert war, daß die Comitös in Saloniki und anderen Orten Attentate Plauen, keine bessere Ueberwachung durchsührte und daß solche um fassende Attentatsvorbereitungen möglich waren. Nach pri vaten Ermittelungen soll dies nur dadurch möglich gewesen sein, daß die schlecht besoldete türkische Polizei und Gendarmerie von den ComitsS beeinflußt wurden und den Ueberwachungsdieust vernachlässigt haben. Deutsches Reich. Berlin, 1. Mai. (Einbeziehung der länd lichen Arbeiter in die reichsgesetzliche Krankenversicherung.) Das Reichsamt des Innern hat bei der Beratung der letzten Krankenversiche rungsnovelle im Reichstage die Veranstaltung von Um fragen bei den Einzel-Regierungen in Aussicht gestellt, die erkennen lassen sollen, inwieweit eine Einbeziehung der ländlichen Arbeiter in die reichsgesetzliche Krankenversiche rung erfolgt ist. Am Zusammenhänge damit dürfte eine Erhebung stehen, die von dem Minister für Handel und Gewerbe in Preußen bei den Regierungspräsidenten veranstaltet wird. In ihr handelt es sich um die Gewin nung eines Ueberblicks über die Ausführung des 8 2 des Krankcnversicherungsgese.tzes, nach welchem neben den land- und forstwirtschaftlichen Arbeitern die unständigen Arbeiter, die in Kommunalbctrioben oder -biensten be schäftigten Personen, die Familienangehörigen von Be triebsunternehmern, die Hausgewerbetreibenden, sowie die Handlungsgehülfen und -Lehrlinge durch statutarische Feuilleton. 2) Freiheit. Roman von Walter Schmidt-Häßler. Älachvruü verboten „Siehst du, Franz — und Las wird auch mein Schicksal werden. Ich liebe das reizende Geschöpf mit der ganzen Innigkeit, deren ich fähig bin. Diese Liebe ist mit all meinen Iugenderinnerungen, mit der ganzen Vergangen heit verwachsen und gleichsam in eins verwebt. Schon als Schuljunge bin ich stratzenweit hinter ihr hergelaufen, wenn ich den langen blonden Hängezopf vor mir in der Sonne herleuchten sah. Wenn ich sie nicht bekomme, mach' ich's wie du und bleibe ledig. Ich könnte zum zweiten Male nicht dasselbe empfinden. Und darum zermartere ich mir Tag und Nacht den Kopf, wie ich meinem Dorn röschen hinter der Stachelhecke hervorhelfen soll. Aber ich finde keinen Ausweg!" „Kommt Zeit, kommt Rat", beruhigte der andere. „Ihr seid ja gottlob alle beide noch jung. Laß die Flügel nicht hängen, Reinhardt, das ist mein Rat, arbeite weiter, wie bisher, erringe dir mit deiner Kunst das, was du brauchst, um dieser beschränkten Familie zu imponieren, den nötigen Mammon! Wie ich deine Ella taxiere, wird sie auf dich warten, und wenn du dein Kleinod den guten Eltern ab gekauft hast, dann nimmst du sie in die Arme und ziehst mit ihr fort, so weit du kannst!" Sie waren mittlerweile bis ans Ende des Stadtparkes gekommen und bogen über den Schloßplatz in die breite Hauptallee ein. Die Musik des Husarenregiments spielte, wie jeden Sonntag, vor der Residenz, und alles, was der schöne Tag ins Freie gelockt hatte, lustwandelte, schwatzte, kokettierte und flirtete aneinander vorüber. Es war dies der Korso der guten Kleinstadt, wo zur Paradezeit so ziem lich alles sich traf, wo so mancher freundnachbarlichc Klatsch seinen Ursprung hatte. Die Bevölkerung bestand im großen und ganzen aus einer Bürgerschaft, die dem allgemeinen Geistesleben des gebildeten Deutschland so ziemlich fern stand. ES war ein seltsamer Menschenschlag, der sich gegen das unberufene Eindringen von allem Neuen mit einer Hartnäckigkeit wehrte, die den Großstädter geradezu in Erstaunen setzen mußte. Wie der Chinese in jedem unbezopften Fremdling den Teufel in Person wittert, so sah auch hier der biedere Eingeborene in jedem „Ausländer" ein feindliches Wesen, das die freche Hand nach seinen Traditionen, nach seinem Zopf auszustrecken wagte. Und sein Zopf war ihm heilig. Was von außen kam und die chinesische Mauer hundert jähriger Vorurteile mit einem Lichtstrahl zu durchbrechen drohte, wurde mit einer so eisigen Reserve ausgenommen, oder vielmehr nicht ausgenommen, daß es fröstelnd an der Schwelle wieder mnkehrte. Nichts mar dem Bürger der Stadt wertvoller als ein Vorurteil, an nichts hing er mit zäherer Ausdauer, als an einer Gewohnheit! — Im Theater, das nun einmal ein notwendiges Ucbel war, amüsierte man sich nur in den Stücken, die aus der Kinder zeit bekannt waren, wurde eine Novität gegeben, so ver ließ jeder unbefriedigt und kopfschüttelnd über das Neue das Musenhaus. Ein neues Gebäude störte geradezu zwischen den alten Giebeln, die Pferdebahn fuhr langsamer als irgendwo sonst durch die Straßen, langsamer, als in irgend einer anderen Stadt wandelten die Geschäftsleute und Spaziergänger, langsamer kristallisierten sich die Ge danken in den Köpfen, ja sogar langsamer schien es Winter und Sommer zu werden. Die europäische Zeit ging nach in der kleinen Residenz. Aber stolz waren die Bürger und Bauern, unsagbar stolz — wenn sie auch selbst nicht wußten, auf was! So war es Krau Bertha Röminger, geborene Gäble, im Grunde gar nicht so sehr zu verargen, daß sie auf dem selben Standpunkt stehen geblieben war, auf dem die Mehrzahl ihrer Bekannten Halt gemacht hatte. Sie war ein Herdentier und handelte instinktiv wie ihre Umgebung. Sie war zwar einmal mit ihrem Eheherrn in Parts ge- wefcn, als dieser auf der Ausstellung seine Damentuche ausgestellt hatte, da sie aber weder genügend französisch verstand, noch von Paris irgend etwas Intimeres zu sehen bekommen hatte, als ein paar teure Restaurants, und die gewaltige Masse prachtvoller Avenuen, die mcnschenvoNcn Boulevards, deren hastendes Treiben ihr viel zu schnell ging, und die Theater, in denen sie nichts verstand, so hatte sie den Aufenthalt in diesem Sodom einfach schrecklich gefunden, und atmete auf, als sie sich wieder hinter ihrer chinesischen Mauer befand. Hier war sie doch „Wer", uud der neue Hut, den ihre heimische Putzmacherin geschaffen hatte, fiel doch wenig stens auf. > Was war dagegen Paris?! Mit ihren drei Töchtern wandelte sie auch heute über die Parade, gerade in dem Augenblick, als die beiden Freunde auf den Platz einbogen. Den höflichen Grub der beiden Herren erwiderte sie mit einem kaum merklichen Vorschieben des Kopses, während ihre Blicke geradeaus ins Leere gerichtet blieben, eine stereotype Mode zu grüßen, die gleichfalls ein Kenn zeichen der eingeborenen Damen dieser Stadt war. Die beiden jüngeren Töchter dankten genau ebenso, denn sie kannten es nicht anders und waren frei von jeder Individualität. lieber das hübsche Gesicht der Aeltesten zog ein Helles, freundliches Lächeln und der feine Kopf mit dem klassischen Profil neigte sich zu liebenswürdigem Gegengruß, als sie vorbeifchritt. Sie hatte nicht anders gegrüßt, als jede gebildete Euro päerin zu grüßcu pflegt, aber ein strenger Blick aus den stahlgrauen Augen der Mutter traf sie, und Frau Bertha konnte nicht unterlassen, ihrem Tadel Worte zu geben: „Ich begreife dich nicht, Ella", sagte sie scharf. „Was sollen die Leute von dir denken, wenn du über das ganze Gesicht zwei Herren anlächelst und ihnen in dieser Weife zunickst! — Wie oft soll ich dir dasselbe wiederholen?!" „Ich habe einen freundlichen Gruß nur freundlich er widert, Mama, wie es sich schickt —" entgegnete das Mäd chen ruhig, aber fest. „Ich sehe nicht ein, daß es schicklich sein soll, eine Höflichkeit mit dem Gegenteil zu erwidern!" „Schon gut! — Du bist wieder anderer Meinung, als deine Mutter, weißt es wieder besser, wie gewöhnlich!" fuhr die freundliche Dame fort und knüpfte daran ein endloses Privatissimum über das, was sich ihrer Meinung nach für ein junges Mädchen schicke und nicht schicke. Ella ließ den Redestrom ruhig Uber sich ergehen, sie war ja daran gewöhnt. Ihre Gedanken waren dabei weit entfernt, wie im Traum ging sie zwischen den Ihrigen, zu denen sie schon längst nicht mehr gehörte, die ihr seelisch fremder waren, als all die fremden Menschen um sie her. Zu Hause angekommen, ging sic schweigend auf ihr Zimmer. Es war ein freundlicher, Heller Raum, in den die lichte Wintcrsonne fiel und alles noch traulicher er scheinen ließ. Sie setzte sich in die Tofaecke und begann zu träumen, ihren Gedanken Audienz zu geben, den einzigen Besuch zu empfangen, der nicht unter der elterlichen Kon- trolle stand. Sie dachte an ihn, und ein schmerzliches Lächeln zuckte um ihren fcingeschnittencn Mund. Seit der Kindheit liebten sie fick, nnd diese Neigung war mit ihrem Leben emporgewachsen, hatte tiefe Wurzeln ge schlagen in den beiden jungen Herzen, und namentlich ihr hatte dieses Bewußtsein manches Bittere leichter tragen, manches Drückende weniger schwer empfinden lassen. In das Haus ihrer Elteru durfte er nicht mehr kom men, seit diese ahnten, daß Ella sich für ihn interessierte, namentlich der Mutter mar der „Lchreiberssohn" zuwider, der nichts hatte und nichts war, als ein Maler. Sie sahen sich also immer nur flüchtig auf kurze Viertel stunden, wenn irgend ein öffentlicher Bazar stattfand oder ein Wohltätigkeitskonzert. Man war ungemein „wohltätig" in der kleinen Stadt, denn wenn die Herzen dem Zweck der Veranstaltungen auch im Ganzen recht fern blieben, so gab es doch immer eine willkommene Abwechslung in der Monotonie, mit der sich die Tage abwickelten, eine Gelegenheit, Toilette zu machen und sich zu zeigen. Diese Wohltätigkeitsfeste waren für die Mitwirkenden entschieden die größte Wohltat und häuften sich deshalb von Jahr zu Jahr. Bei solchen Gelegenheiten konnte denn auch Reinhardt im großen Strome einige liebe Worte erhaschen, einen zärtlichen Blick mitnehmen, wie einen köstlichen Raub, und diese flüchtigen Augenblicke entschädigten die beiden Liebenden dann auf lange Zeit für die Qual der Tren nung. In ihren ganzen Beziehungen lag etwas rührend Ent sagungsvolles, etwas unendlich Wehmütiges. Da war das Maskenfest der Künstler gekommen, und hier war es ihnen vergönnt gewesen, sich einmal, dank einer geglückten Kriegslist, unter dem Schutz der Larve lange und ent scheidend mit einander auszusprechen. Madame Röminger hatte sich mit ihren Töchtern ahnungslos in den festlichen Strudel gestürzt und einmal die ewig wachsamen Augen statt auf ihre Aelteste, auf die Triumphe der Jüngeren gerichtet. Sie war heute ganz sonder Arg, da sie den ihr unaus stehlichen Maler in Berlin wußte. Der aber war heimlich zurückgekommen und hatte sich mit einem seiner Freunde, der im Römingcrschen Hause zuweilen verkehrte, «ohn eines Kommerzienrats war und deshalb bet Herrn und Frau Röminger glänzend legitimiert war, eine vorzügliche List auSgedacht. (Fortsetzung folgt.)
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