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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 19.05.1903
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1903-05-19
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19030519024
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1903051902
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1903051902
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
- Monat1903-05
- Tag1903-05-19
- Monat1903-05
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Wir haben in Deutschland schon im Jahre 1848 und auch später darunter zu leiden gehabt, daß die Zahl der Par teien zu groß war. Im Frankfurter Parlamente gab cs ausgemacht nicht weniger verschiedene Gruppen und Parteien, als jetzt im Reichstage. Der Rat war von jeher billiger in unserem lieben Vatcrlandc, als die Tat. Nimmer fehlt es bei uns an solchen, die alles besser zu wissen glauben als die Nächstbeteiligten, und die Zahl der Punkte, bezüglich deren die auch auf nationalem Boden stehenden Politiker verschiedener Meinung sind, wird immer größer sein, als die, in denen sie halbwegs einig zu sein vermögen. Wir haben leider nicht den Ein druck gewinnen können, als ob es in der jetzigen Wahl bewegung anders wäre. Um so mehr aber sollten die „orttsiciers" davon abstehen, den Parteileitungen und Wahlvorständen ihre ohnehin schwierige Arbeit dadurch zu erschweren, daß sie Streit- und Doktorfragen darüber aufwerfen, welches die Rangordnung der Gefährlichkeit der verschiedenen Parteien sei. Tic Sozialdemokraten lachen darüber) ihnen gelten alle anderen Parteien als gefährlich, und da ihrer Wahl- und Wühlarbeit und ihrer Organisation gegenüber keine der bürgerlichen Parteien etwas annähernd Gleiches aufzuweisen hat, so kann auch im jetzigen Stadium ein neuer Streit darüber, ob das Zentrum, die Agrarier oder die Sozialdemokratie die gefährlicheren Gegner seien, die Reihen der Sozial demokratie nur fester schließen; sic tritt offen und voller Hohn auf derartige Streitigkeiten iw Lager der bürger lichen Parteien als Gindin aller ihr nicht zugehörigen Parteien auf! Wenn man also den bürgerlichen Par teien den überdies schweren Kampf nicht noch mehr er schweren will, dann verzichte man im jetzigen Stadium der Wahlbcwcgung darauf, akademische Erörterungen darüber anzustellen, in welche Rangordnung die gefähr lichen Parteien einzngliedcrn sind, sondern wende sich mit ganzer Kraft der nötigen und unerläßlichen Klein arbeit der Wahlbewegnng zu, wobei in den ver schiedenen einzelnen Wahlkreisen den verschieden liegen den Notwendigkeiten Rechnung getragen werden mnß. Die nationalliberalc Partei hat in ihrem Wahl aufruf die drei Gegner gekennzeichnet, gegen die sie Front zu machen genötigt ist. Es gehört zur Frage der Wahl taktik je nach den örtlich gegebenen Verhältnissen gegen welchen der Feinde ihre ganze Kraft sich zu konzen trieren hat. Sozialdemokratie und Handelsverträge. Bekanntlich hat zuerst „Genosse" Bebel in Stuttgart die Gegnerschaft der Sozialdemokratie gegen neue, auf Grund des neuen Zolltarifs abgeschlossene Handelsver träge proklamiert. Zn dem am 1. Mai von der sozial demokratischen Parteileitung veröffentlichten Wahl aufrufe hieß es denn auch: „Als entschiedene Anhänger einer Handelsvertragspolitik, die den Austausch von Waren und Kulturmitteln mit allen Völkern der Erde nach Möglichkeit erleichtert, müssen wir aber Handelsverträge, welche, auf Grund des neuen Zolltarifs abgeschlossen, unsere Handels beziehungen mit dem Auslande und die Lebenshaltung der großen Masse der Bevölkerung verschlechtern, aufs ent schiedenste bekämpfe n." Ze näher aber der Wahltermin rückt, um so mehr häufen sich die Beweise dafür, daß in der industriellen Arbeiterwelt allmählich die von uns erst in unserer Sonntagsausgabe wieder in Erinnerung gebrachte An sicht des „Genossen" Calwer gewürdigt wird, der die Arbeiter davor warnt, sich auf den reinen Konsumenten standpunkt zu stellen. Und so erlebt man denn das merk würdige Schauspiel, daß die „Genossen", die in Berlin die Wahlbewegung leiten, in ihrem in der Reichshaupt stadt verbreiteten Wahlaufrufe u. a. sagen: „Von dem Ausgange dieser Wahl hängt cs ab, ob durch neue Handelsverträge eine kleine Besserung in unseren so überaus traurigen Erwerbs verhältnissen Platz greifen kann oder der Zollkrieg mir dem Auslande Millionen von Existenzen der trostlosen Un sicherheit und dauernder Arbeitslosigkeit überantwortet." Da neue Handelsverträge nur auf dem neuen Zoll tarife aufgebaut werden können, so kann dieser Satz nur als direkte Ablehnung der oben angeführten Stelle aus dem allgemeinen sozialdemokratischen Wahlaufruf auf gefaßt werden. Und ganz auf den Boden der Ver fasser des Berliner Aufrufs stellt sich der bayerische „Genosse" v. Vollmar, der dieser Tage in München in einer Versammlung gesprochen und bei dieser Ge legenheit den allgemeinen sozialdemokratischen Wahlauf ruf, soweit er sich auf die Handelsverträge bezieht, kor rigiert hat. Die sozialdemokratische „Münchener Post" berichtet über den betreffenden Passus der Rede folgender maßen: „ReLuee siebt noch einen von verschiedenen Zeitungen fälsch aufgcfaßten Satz des sozialdemokratischen Wahlaufrufs richtig, der so verstanden wurde, als wolle die Sozialdemokratie sicu gegen neue Handelsverträge überhaupt aussprechen. Das ist nicht der Fall. Je nachdem die Wahlen ausfallen, wird es möglich sein, die Verschlimmerungen aufein Minimum zu reduzieren. Ja, cs ist möglich, daß der Zolltarif überhaupt nicht in Kraft tritt. Die Sozialdemokratie sagt: Wenn die Vorschläge der Agrarier in die Verträge hinein komme», dann können wir nicht für sie stimmen; sorgt, Ihr Wähler, daß die Mehrheit so werde, daß sie möglichst wenig h o ch sch u tz z ö l l n e r i s ch ist, dann können wir auch für die Verträge stimmen." Das ist so ungefähr der Standpunkt des Abg. Eugen Richter, der dieses Standpunktes halber vom „Vor- würts" des Verrats geziehen wird. Herrn v. Vollmar und den Verfertigern des Berliner Aufrufs gegenüber wird sich der vorwärts" jedenfalls weniger ausfallend verhalten. Ucberhaupt ist nicht anzunehmen, daß die „Genossen" einander der Handelsvertragsfragc halber in die Haare geraten werden. Es handelt sich für sie bei den Wahlen in erster Linie um die Verstärkung ihrer Macht im Reichstage; um dieses Ziel zu erreichen, werden sie die Handelsvertragsfrage je nach der in den verschiedenen Wahlkreisen herrschenden Stimmung behandeln. Und im Reichstage wird ihre Stellung zu den neuen Handels verträgen davon abhängen, ob der Bebel- oder der Calwer-v. Vollmar-Flügel der stärkere sein wird. Um so mehr ist allen Parteien anzuraten, sich auf keine der verschiedenen Erklärungen der Genossen über ihre Stel lung zu diesen Vertrügen zu verlassen. Die um Herrn vr. Barth könnten sich im Vertrauen auf Bebel und den Gesamtaufruf ebenso getäuscht sehen, wie die um Richter im Vertrauen auf Calwer und v. Vollmar. Tie antiungarische Beweguna in Kroatien. Aus Agram. 16. Mai. wird der in Berlin erscheinen den „Nationalen Korrespondenz" geschrieben: Aus Kroatien und Slawonien werden gegenwärtig Brattd- nachrichten in den Zeitungen veröffentlicht, die ja wohl vieles übertreiben. Tatsache ist es, daß hier eine große Aufregung herrscht und die Erbitterung gegen die Magyaren weite Kreise der Bevölkerung ergriffen hat. DerVersuch der ungarischen Regierung, ihre magyarischen Aufschriften auf den Stationsgebäuden der Staatsbahnen überall airzubrinaen und an den Aemtern ungarische Wappen mit magyarisch-kroatischen Inschriften auszu hängen, gibt der Bevölkerung Gelegenheit, ihre Ab neigung durch Demonstrationen zu bezeugen, die in den verschiedensten Teilen des Laubes bereits vorgekommen sind und gegen die man Gendarmen und Militär in Ver wendung stellen mußte. Die Ursache liegt aber tiefer, die Kroaten beschuldigen die ungarische Re gierung, daß sie das Land systematisch aus sauge, so daß für die innere Verwaltung und die Be friedigung der eigenen kulturellen Bedürfnisse nichts übrig bleibt. Der Magyarenhaß ist so allgemein und tief gewurzelt, daß es gar nicht wunder nehmen darf, wenn hier und da Erccsse Vorkommen. In der Stadt Kreuz wurde das Standrecht verkündet und die magyarischen Eisen- bahttbeamten senden zäkmeklavvernde Berichte an die magyarischen Zeitungen nach Pest, da sie um ihre Haut Angst bekommen haben. Das Treiben der magyarischen Chauvinisten in Pest trägt jedenfalls viel dazu bei, daß in Kroatien keine Ruhe wird. — Folgende neuere Melvung liegt uns noch vor: * Fiume, 18. Mai. Aus den Ortschaften Draga und Porto Re wird über Kundgebungen berichtet, die sich gegen das un g'a rische Wappen auf den öffentlichen Gebäuden richteten und bei denen Schmährufe gegen den Banus ausgestoßen wurden. Die Teilnehmer an ähnlichen Kundgebungen zerstörten an mehreren anderen Orten die Telegraphen- und Tel'e Phonleitungen. Zwischen Plaze und Meja sperrten die Ruhestörer die Bahn- geleise mit Steinen, so daß ein Güterzug auf offener Strecke halten und, da er von der Menge mit Steinen beworfen wurde, nach Plaze zurückkehren mußte. Die Gendarmerie zer streute mit Hülfe von Militär die Ruhestörer überall ohne Widerstand zu finden, worauf die Telegraphen- und Telephon leitungen wieder hergestellt und die Bahngeleise freigemacht wurden. England und feine Kolonien. Aus Kapstadt, 18. Mai, wird uns berichtet: Gegen über einem Vertreter des Reuterschen Bureaus äußerte der Führer der Afrikanderbond-Partei, Hofmeyer, mit Bezug auf Kolonialminister Chamber, lains Rede in Birmingham, wenn Chamberlain an deuten wollte, daß Gegenseitigkeits-Tarife zwischen den Kolonien und dem Mutterlande bestehen sollten, so stimme er mit ihm überein; aber wenn Chamberlain nur Vor zugsbehandlungs-Tarife von feiten der Kow: cen im Auge gehabt habe, so könne er dem seineZuslimmungnichtgeben, da ein solches Verhältnis k?me dauernde Wirkung haben könnte. Hvsmeyer ist geneigt, zu glauben, daß der Vor schlag der Bloemfontein-Konferenz, englischen Waren eine Vvrzugsbehandlung zu gewähren, welche einer Begün stigung um 25 Prozent gleichkvmme, im Kapparlament werde angenommen werden, wen» von dieser Annahme die Aufnahme oder Nichtaufnahme der Kapkolonie in den südafrikanischen Zollverein abhängig gemacht werde, ob schon die Mehrheit der Mitglieder des Kapparlaments persönlich gegen den Vorschlag sein dürfte. Er glaube, daß die Kapkolonie es nicht auf sich nehmen könne, sich vom südafrikanischen Zollverein auszuschließen. — Weiter meldet man uns aus Ottawa, 18. Mai: Die Rede Chamberlains zu Gunsten einer grobbritischen Zollver einigung hat in der kanadischen Presse keines falls den freudigen Widerhall gefunden, wie in der Londoner Presse. Selbst der dem Minister präsidenten Laurier nahestehende „Globe" erklärt, es werde für Kanada wertvoller gewesen sein, wenn Herr Chamberlain seine Ansichten vor der Aufhebung des Ge treide- und Mehlzolles im Ministerrat zur Geltung ge bracht hätte. Die in Birmingham bekundeten Anschau ungen Chamberlains seien für Kanada sehr erfreulich; aber Herr Balfour mache leider die Regierungspolitik im entgegengesetzten Sinne. Kanada habe gehofft, die an läßlich des Krieges festgesetzten Zölle würden die Grund lage für eine Reichszollunion abgeben, wobei Kanada eine Gegenleistung für den England gewährten Vorzugs tarif erhalten würde. Balfour habe diese Hoffnungen Kanadas unter dem Beifall der Bereinigten Äaaten zer stört, und da könne die platonische Anerkennung der kanadischen Ansprüche durch Herrn Chamberlain leider nur als ein schwacher Trost und ein Wechsel auf eine sehr entfernte Zukunft angesehen werden. Die französische „Patrie" bemerkt bitter: „Weil wir nun einmal artig« Kinder sind, bekommen wir von Herrn Chamberlain eine gute Zensur, die zugleich eine Ermunterung dazu sein soll, unsere Zollkriegspolitik zu Gunsten Englands fort- zusetzcn. Uns aber in Wirklichkeit eine Gegenleistung zukommen zu kaffen, verbietet zarte Rücksichtnahme auf die lieben Vettern der Bereinigten Staaten." „Evening Preß" sagt: „Balfour und Chamberlain sind zwei ver schiedene Seelen; aber beide wohnen in einem egoistischen Körper. Dieser zwei Seelen-Charakter ist für die eigene Person sehr bequem; für die Teilhaber bringt er jedoch meistens Enttäuschungen." Deutsches Reich. Berlin, 18. Mai. iDas Standbild Karls V. imBerlinerDome?) Durch die Zeitungen geht die Nachricht, daß in dem neuen evangelischen Kaiserdome neben den Standbildern der Reformatoren Luther und I Melanchthon und ihrer Beschützer auch dasjenige Kaiser Karls V. ausgestellt werden solle. Da muß man doch fragen, mit welchem Rechte und zu welchem Zwecke könnten die Bewunderer dieses Znterimskaisers die Aufstellung seines Bildes in einer evangelischen Kirche verlangen? Feuilleton. igj Freiheit. Roman von Walter Schmidt.Häßler. Nalvrnuk verholen. Der erste und einzige, der das neuerschienene Buch mit einer herzlichen, treugemeinten Widmung zugesandt er hielt, war der alte Röminger. Als er den gelben Um schlag öffnete und auf der ersten Seite von der festen, ener gischen Hand seiner Nichte die lieben Worte las, mit denen sie ihr Geisteskind in seine Hände legte, überkam ihn eine tiefe und ehrliche Rührung. Tann setzte er sich ganz still und ungestört in den großen Backensessel am knisternden Ofen und fing an zu leien. Und je weiter er laS, desto mächtiger ergriffen ihn Form und Inhalt, bis er schließ lich ganz und gar zu vergessen begann, daß der Autor das blonde Mädchen war, das so unendlich zart und weich ver anlagt schien. Wie knapp und korrekt das alles war, wie verblüffend realistisch, und an manchen Stellen von einer geradezu brutalen Bitterkeit, von einem beißenden Sar kasmus. Was mußte Ella alles schweigend und verschlossen mit sich herumgetragen, ruhig niedergckämpst und ver arbeitet haben, um sich zu dieser Klarheit, dieser Reife der Ansichten, dieser Unerbittlichkeit der Logik hindurch- -uringen. Mehr als einmal schüttelte der alte Mann nach denklich den Kopf, ließ das Buch sinken und blickte ins Leere. Seit langer Zeit hatte keine Lektüre ihn so unwider stehlich gepackt und bis zum Schluffe festgehalten, wie dieses wunderbare Buch, dessen ganzen Inhalt er mit der Person des Autors in seinen Gedanken so ganz und gar nicht vereinigen konnte. Was würden zu diesem Werke die eng herzigen Eltern sagen, wenn man es ihnen in die Hände legen und sagen würde, das ist von eurem Kinde, dieses Buch hier hat eure glteste Tochter geschrieben mit ihrem Herzblut, das sind die Früchte eures Handelns. Eure Erziehung, die systematische Verblödungstheorie eurer Pädagogik, hat in dieser Menschenseele den frohen Glauben an so manches Schöne und Ehrwürdige vernichtet, hat dies junge Herz so verbittert, daß es hier in diesem langen Be kenntnis sich anfbäumcn mußte zu einer lauten, trotzigen AnklaM gegen alle Mütter, die so kurzsichtig, so eng herzig und, wie diese eine, gegen alle Väter, die indifferent wie dieser, blind sind gegen daS, was bei jedem Kinde sein heiliges Recht verlangt — die Individualität! — dieses Buch Ellas war mehr als ein Roman, es war ein päd agogisches Werk, aus dem der Ehrliche unendlich vieles beachten und lernen könnte und gegen das die ganze Schar derer, die sich getroffen fühlen mußten, offenbar mit lautem Wutgeheul zu Felde zogen!" Am meisten erstaunte Röminger über die wunderbar feine Beobachtungsgabe, mit der Ella die wunden Seiten des Kleinstadtlebens zu schildern verstanden. Wie sie einem Jeden mit der Genialität des Karikaturenzeichners in wenigen Strichen den typischen Zug zu geben wußte, daß all die braven Spießbürger mit verblüffender Lebens wahrheit porträtühnlick dastanden. Bis zur Pensionsvorsteherin herunter hatte sie alle verwertet, die den Kreis der geistigen Znquisitoren bilde ten, die eine junge, nach Licht und Freiheit ringende Seele langsam in guter Meinung in Schraubstöcke und Prokrustesbetten einzwängten, dis sie dieselben endlich zu Tode gefoltert hatten. Als der alte Mann mit der Lektüre zu Ende war, las er das ganze Buch zum zweiten Male. Frau Anna fand den Roman bei aller Liebe zu ihrer Nichte im höchsten Grade abstoßend — die Tochter des Hauses durfte es (nicht lesen. Vater und Sohn schwärmten dafür. Ella selbst hatte weder Zeit noch Stimmung, sich über den Erfolg ihres Erstlings zu freuen. Sie kam seit Wochen nicht dazu, auch nur einmal an sich selbst zu denken, denn sie hatte eine Pflicht übernommen, die sie wie eine Art höherer Mission mit Einsetzung aller ihrer Kraft, mit völliger Hingabe ihrer ganzen Persönlichkeit zu erfüllen bemüht war. Sic rang tage- und nächtelang mit dem Tode um eine kostbare BeMe, das Leben einer Frau, die sie vom ersten Augenblick an lieb gewonnen hatte von ganzer Seele! Marianne von Winterberg war wenige Wochen nach Ellas Einzüge in ihr Haus tödlich erkrankt, und von der Stunde ab war Ella zur Samariterin geworden. Sie hatte das Gefühl, als ob nicht der Zufall, sondern eine weise, höhere Vorbestimmung sichernde jetzt in dieses Haus geführt hätte, um einem wertvollen Menschen, der ein Anrecht auf ihr Gennitsleben hatte, indem er ihr, der Einsamen, warme Zuneigung cntgegenbrachte, nützlich zu sein. Sic mußte dem Tode dieses junge Leben abringen, mit Gefahr ihres eigene» Selbst trat sie für diesen Ge danken mit einer Hingabe, einer Aufopferung ein, deren nur ein Charakter wie der ihrige fähig war. Die ersten Wochen im Hause Mariannens waren mit die schönsten und sonnigsten ihres Lebens gewesen. Nicht wie die Excellenz von Winterberg mit ihrer Gesellschafte rin, sondern wie eine alte liebe Bekannte aus froher Mädchenzcit hatten die beiden geistig gleich hoch veran lagten Frauen mit einander gelebt, und so war es nur selbstverständlich gewesen, daß die Baronin scynell Ellas vollstes Vertrauen gewann. Zn einer stillen Stunde, wo ihr so recht das Herz aufging, hatte ihr Ella ihr literari sches Geheimnis mitgcteilt, hatte sie einen vollen, tiefen Einblick tun lassen in ihre schriftstellerische Tätigkeit und ihr alle ihre Pläne und Hoffnungen auf die Zukunft rück haltslos mitgeteilt. Und gemeinsam hatten sie dann die Korrekturbogen ihres Werkes gelesen, das die Baronin aufs höchste be geisterte und ihr das junge Mädchen mit einem Schlag im richtigen Lichte zeigte. Dann — noch ehe das Buch erschienen war, ward Marianne plötzlich krank, schwer krank. Eine leichte Er- kältung, die sie sich auf einer Spazierfahrt geholt und an fänglich durchaus nicht ernst genommen hatte, war plötzlich in einer selten schweren inneren Entzündung zu furcht barem Ausbruch gekommen. Und da ward Ella der Leidenden zu eiuem Engel der Hülfsbereitschaft und der Barmherzigkeit. Nicht einen Augenblick wich sie in den schweren Tagen und Nächten aus dem Krankenzimmer, niemanden duldete sie am Lager der schmerzgepetnigten Frau, auf die sie förmlich eine Art von Besitzrecht zu haben meinte. All die tausend kleinen Handreichungen, all die minu tiösen Beweise zarter Sorge, die dem Kranken so unend lich wohltun, erwies sie ihr allein, und manche Nacht schlief sic in dem hohen Lehnstuhl, zwei Schritte vom Bett Mariannens, um beim ersten schmerzlichen Seufzer, beim ersten leisesten Wunsch bei der Hand zu sein. Der alte Medizinalrat, ein Freund des Hauses, der oft dreimal im Laufe des Tages vorfuhr, war entzückt von dieser freiwilligen Pflegerin, wie ihm in seiner langen Praxis selten eine vorgekommen war, und mit unver- hohlener Bewunderung schaute er auf daS zarte Geschöpf, das für eine Fremde mutig jeder Ansteckungsgefahr Trotz bot und sich selbst bis zur äußersten Grenze ihrer Kräfte in den Dienst einer Sache stellte — die er beinahe schon als eine verlorene betrachtete. EineS Nachts, als das Fieber seinen Höhepunkt er reichte und die Leidende mit glühenden Wangen und un heimlich leuchtenden Augen sich im Delirium in den Kiffen wand, geschah etwas Seltsames. Der Arzt war achselzuckend vor einer Stunde fortge gangen mit der Versicherung, spät in der Nacht bestimmt noch einmal nachsehen zu wollen. Ella war ganz allein, wie immer, im Krankenzimmer, an dessen verhängten Fenstern draußen ein pfeifender No vembersturm leise rüttelte. Der Diener schlief im Korri dor, bereit, jeden Augenblick zum Arzt geschickt zu werden, und die Zungfer, einen der obligaten Dutzendmietlinge, hatte Ella zu Bett geschickt. Die Lampe, tief vom roten Schirm verhängt un- weit in die Ecke gestellt, warf einen matten Schimmer auf den großen Raum, alles war still, nur ab und zu meldete der Helle metallische Klang der kleinen Boule-Uhr auf dem Kamin das Fliehen der qualvollen Viertelstunden, oder ein tiefes Aufstöhnen vom Bett her, ein leises schmerzliches Wimmern ließ Ella erschrocken auffahren und mit angst erfüllten Augen hinüberblicken. Noch nie im Leben war sie, die Selbständige, sich so ver lassen von aller Welt, so klein und machtlos vorgekommen dem allgewaltigen Schicksal gegenüber, wie in dieser Stunde! Sie sah auf die arme, fast ausgcgebene Kranke, und ein unbeschreibliches Weh schnürte ihr das Herz zusammen. Und da überkam sie ein seltsames, lang entwöhntes Gefühl, wie eine Reminiszenz aus der Zeit, da sie noch ein Kind gewesen und mit offenen, vertrauenden Augen in die Welt geblickt hatte. Langsam falteten sich ihre Hände, wie im Krampf schloffen sich die Finger ineinander und heiß stieg es ihr in die Armen. Ihre Knie beugten sich unwillkürlich, tief grub sie ihr blondes Haupt in die Kiffen des Lagers, auf dem die Kranke bewußtlos lag, und sie begann zu beten zu dem großen Etwas über den Sternen, mit einer Inbrunst, mit einer Innigkeit, als müßte sic jahrelang Versäumtes in einem einzigen langen Flehen nachholen. Wie eine Verzweifelte betete sic. förmlich aufgelöst in Jammer und Hülslosigkeit. als müßte Ne von oben her eine Hülfe erbitten, sic dem Unsichtbaren abringen, die keine menschliche Kunst mehr zu geben im stände war. Ihr ganzer innerer Mensch brach in dieser Stunde völlig haltlos in sich zusammen in einem qualvollen Bet- tcln, vor dem Angesicht des Höchsten schwand all ihre trotzige Philosophie hin in ein flehendes Sicsibcugen vor Gott, der allein nur retten konnte, wo irdische Weisheit versagte. Sie war wie eine Verzweifelnde, die an der letz-
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