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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 23.05.1903
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1903-05-23
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19030523022
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1903052302
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1903052302
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
- Monat1903-05
- Tag1903-05-23
- Monat1903-05
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Während der Führer der Freisinnigen Volkspartei, EugenRichter, fortfährt, aus die von der Sozialdcmo- kratie drohende Gefahr für den Frieden zwischen Arbeit gebern und Arbeitern hinzmveisen und dadurch seine An hänger zur Bekämpfung dieser Gefahr anzuregen, bemüht sich der Führer der FrersinnigenVereinigung, vr. Ba rt h, sich von dem Verdachte gleicher Gegnerschaft wieder die „Genossen" zu reinigen und seine Gefolgschaft nicht nur von jeder Sorge vor einer durch die Sozialdemokratie her aufbeschworenen Gefahr zu heilen, sondern auch zur direkten Unterstützung der Sozialdemokraten zu veranlassen. Er hat zu diesem Zwecke in Kiel ein schriftlich formulierte Erklärung abgegeben, die den gleichen Geist atmet, wie seine Dezember-Kundgebung, in der er sich dahin äußerte, daß keine Partei in der Gegenwart das liberale Banner so entschieden vorantrage, wie die Sozialdemokratie. Er feiert in seiner neuesten Erklärung die Umsturzpartei als die Partei, welche die Emanzipation der Arbeiterbevölke rung bewirkt und den unteren Schichten „politische Bil dung" beigebracht habe. Die Sozialdemokratie bezeichnet nach Barth als einen „Fortschritt auf dem Wege unserer allgemeinen politischen Entwickelung". Es ist nach seiner Ansicht die bedeutsamste nationale Aufgabe, densozialdemo- kratischen Gärungs- ixud Klärungsprozcß so zu beein flussen, daß aus dem Moste schließlich noch ein guter natio naler Wein gewonnen werke Hauptaufgabe sei es daher, der Sozialdemokratie volle Gleichbcrcclstigung mit anderen Parteien zu schaffen; man müsse denSozialdemokratenGe legenheit geben, sich im Reiche, im Staate und in der Ge meinde an den positiven Aufgaben zu beteiligen. Die Partei habe sich zn ihrem Vorteile gemausert, manches ge lernt und manche Unarten abgelegt, sie denke nicht mehr an eine revolutionäre Umwälzung und ihr Endziel spiele keine Rolle mehr in der praktischen Politik. — Wenn man nicht wüßte, daß Herr vr. Barth zu den Leuten gehört, die das, was sie wünschen und hoffen, für nicht nur erreichbar, sondern auch bereits erreicht halten, so würde man nicht begreifen, wie er zu solchen Behauptungen kommt. Mit den Tatsachen stehen sie jedenfalls samt und sonders in Widerspruch. Tic politische Bildung, welche die Sozial demokratie den Massen gebracht hat, besteht, wie die „Post" mit Recht bemerkt, darin, daß sie ihnen jeden Funken von Vaterlandsliebe aus dem Herzen riß, sie mit unauslösch lichem Hasse gegen alles, was jedem guten Deutschen wert und teuer sein soll, erfüllte, sie das Bürgertum als den unter allen Umständen zu vernichtenden Feind betrachten lehrte, überhaupt einen Klassenhaß hervorrief, wie er bis dahin gar nicht für möglich gehalten wurde. Welcher Art diese „politische Bildung" ist, davon zeugen täglich Vorgänge in der jetzigen Wahlbewegung, ganz besonders bei uns in Sachsen. Wer aus solchem „Moste" gute» nationalen Wein erwartet, hofft auf Trauben von den Dornen und aus Rosen von den Disteln. Und einer solchen utopischen Hoffnung willen empfiehlt Herr vr. Barth das denkbar gowagteste Experiment: den Sozialdemokraten im Reichstage, im Staate und in den Gemeinden noch mehr Gelegenheit zur Betätigung zu ver schaffen. Als ob man nicht im Reichstage, in einigen Einzelstaaten und in gar mancher Gemeinde mit Schrecken gesehen hätte, wie diese Betätigung aussieht! Herr vr. Barth scheint freilich zu meinen, diese Betätigung werde anders werden, wenn den Genossen die ausschließ liche Verantwortung zufalle. Aber warum empfiehlt bann Herr vr. Barth nicht, die Nationalliberalen, die Konservativen, den Bund der Landwirte oder das Zentrumso zu unterstützen, daß einer dieser Parteien oder Gruppen die volle Last der Verantwortung zufalle? Warum soll bei ihnen die Möglichkeit fehlen, sich so zu „mausern", daß sie am Ende sogar dem Führer der Freisinnigen Vereinigung gefallen? Durch Beweise von Verständnis für die Notwendigkeit der Erhaltung und Stärkung unserer Wehrkraftzu Lande und zu Wasser und von Opferwilligkeit für andere große nationale Zwecke haben doch alle anderen Parteien die Sozialdemokratie tausendfältig übertroffen. Aber gerade die höchsten natio nalen Ausgaben eines deutschen Volksvertreters scheint Herr vr. Barth vollständig außer Betracht zu lassen und einzig und allein daran zu denken, daß bei dem glorreichen Ob st ruktions schau spiele die „Ge nossen" mit Rhabarber" usw. an seiner Seite standen und ihm künftig für ähnliche Zwecke un entbehrlich sind. Dem deutschen Industriellen und Bauer zuzumuten, daß auch sie dieses Bedürfnisses des Herrn vr. Barth halber die großen nationalen Ziele außer acht lasten und sich sozialdemokratischen gärenden „Most" in immer größeren Mengen in den Keller lagern: das ist denn doch ein Begehren, das der deutsche Michel trotz seiner sprüchwörtlichen Gutmütigkeit und Duselei nicht verdient hat. Tic Sozialdemokratie und Sic kleinen Beamten. Ja ihren Wablflagblältern bettelt die Sozialdemokratie nickt nur um die Stimmen der Bauern und der Handwerker, sondern sie sucht auch die kleinen Beamten zu sangen. Sie spielt sich überhaupt als die volkstümliche Partei der „kleinen Leute" auf. Hin und wieder aber wird doch einer oder der andere sozialdemokratische Agitator des Betteltones überdrüssig, fällt aus der Rolle und spricht, wie es ihm ums Herz ist So ist's dem „Genossen" Ledebour in der Mit'elstandssrage ergangen und so hat'S jetzt in Bremen „Genosse" Antrick, der „berühmte" Dauerredner, gegenüber den Beamten gemacht Er hielt in einer Versammlung eine Rede, über welche die „Bremer Nachr." folgendermaßen berichten: „Die Sozialdemokratie, bemerkt der Redner, stehe auf dem Standpunkte, daß für die Fortentwickelung unseres Volkes und unserer Kultur allein die Arbeiter von Bedeutung seien, und fährt dann wörtlich fort, „daß dagegen unser ganzes Beamten. Heer vom Minister bis zum Nachtwächter vollständig überflüssig ist, daß ohne diese Beamten das Deuticke Reich nicht zu Grunde geht. Die ließen sich sehr leicht beschaffen, aber ohne seine fleißige und intelligente Arbeiterschaft würde Deutsch land zu Grunde gehen; denn wenn wir nicht arbeiten, so haben die nichts zu essen, die vom Ertrage unserer Arbeit leben." Mit berechtigtem Spotte schreiben dazu die „Bremer Nachrichten": „Wir meinen, daß das Deutsche Reich auch dann keinen Schaden leiden würde, wenn es aus die Arbeit des Herrn Antrick verzichten müßte, und daß es auch dann nicht zu Grunde gehen wurde, wenn dessen gesamte sozialdemokratischen Kollegen ihre Arbeit niederlegten." Chamberlains allbritischer Zollverein. In den britischen Kolonien und im englischen Mutter lande selbst mehren sich die Bedenken gegen die Chamberlainschc Handelspolitik. Beson ders in dem jungen Bundesstaate Australien hegt man ernste und wohl berechtigte Befü.rchtungen hinsichtlich der Wirkung einer derartigen Bevorzugung des Mutterlandes vor den übrigen an der australischen Einfuhr beteiligten Staaten, und in den politischen Kreisen der einzelnen Bundesstaaten verschließt man sich nicht der Ansicht, die auch in der Haltung der australischen Presse zum Ausdruck kommt, daß die teilweise oder gänzliche Aufhebung der Einfuhrzölle gegenüber England die wirtschaftliche Lage der in derEntwickelung begriffenen australischen Industrien infolge der Uebcrschwcmmung der Märkte mit englischen Produkten aufs äußerste gefährden müßte und daß Australien die Erwartung, seinen Handel nach dem westlichen Amerika, nach Indien, China und Japan im Interesse der eigenen Produzenten fördern zu können, niemals verivirklicht sehen würde. Natürlich beeilen sich englische Blätter, die Versicherung zu geben, daß eine wirt schaftliche Schädigung der Kolonien keineswegs beab sichtigt werde, daß vielmehr E n g l a n d n u r e i n e B e r. mehrung der Handelsbeziehungen mit seinen Kolonien anstrebe. Sv heißt es, die Mrd- amerikanische und argentinische Fleischeinfuhr werde einen Zoll zu tragen haben, während die gleichen Produkte aus Kanada und Neu-Seeland frei eingeführt werden dürften, und mit Bezug auf Australien wird eine günstigere Be handlung der australischen Weine gegenüber den franzö- fischen und eine Bevorzugung der Queensland-Baumwolle vor der ans Süd-Karolina bezogenen in Aussicht gestellt. Indessen können diese Anerbietungen und Versicherungen nicht darüber hinwegtänschen, daß die Vorteile dabei ganz überwiegend auf englischer Seite sein werden, und gerade diejenigen Kolonien, die sich, wie Kanada und Australien eben jetzt zu einer größeren Teilnahme am internationalen Verkehr und Handel vorbereiten, würden die Nachteile einer Abmachung bald empfindlich verspüren, die sie auf der einen Seite in größere Abhängigkeit von der englischen Ansfubrindnstrie bringen und anderseits ihnen die außer, englischen Märkte mehr oder weniger verschließen würden. Aus denselben Gründen würde auch die Bildung eines allbritischen Zollvereins mit sehr er- lieblichen Schwierigkeiten und äußerst nachteiligen Wirkungen für die bisher hochschutzzöllnerischen Kolonien verknüpft sefn. Somit dürften sich diejenigen englischen Politiker, die eine ausschließliche Beherrschung der kolo- nialcn Märkte durch das Mutterland für möglich erachten, mit der Tatsache abzufinden haben, daß auch Herr Cham- berlain nicht eine unmittelbare und völlige Umgestaltung der fiskalischen Beziehungen zwischen dem Mutterlands und den Kolonien zu stände bringen, sondern sich daraus beschränken wird, ein Reziprozitätsverhältnis anzubahnen, das auf der Grundlage gegenseitiger Leistungsfähigkeit sich aufbaut. Nur so könnten die britischen Kolonien hoffen, die nachteiligen Wirkungen abzuschwächcn, die ihnen aus einer ausschließlichen Bevorzugung Englands, obendrein auf ungewiße Zusagen hin, durch das nichtenglische Aus land erwachsen müßten. Das System des russischen Finanzministers von Witte. In der „Fortnigthly Review" veröffentlicht E. C. Long einen längeren Aussatz über die rufsifchen Finanzen und kommt zu dem Ergebnis, daß das ganze Geheimnis der Taktik des russischen Finanzministers darin bestehe, alle Einnahmen in den Händen des Staates zu vereinigen. Annähernd die Hälfte des gesamten Volkseinkommens soll bereits durch die Steuern in die Staatskassen fließen. Um diese Zuflüsse noch zu vermehren, schasst Herr von Witte immer neue Monopole. Zuerst führte er das Branntwein. Monopol ein, und nun will er gar die staatlichen Brannt weinschänken in Biktualiengeschäfte verwandeln. Auch die Drogengeschäfte sollen verstaatlicht werden. Hierbei spielen nationale Gründe mit, da fast alle Apotheker in Rußland deutscher Herkunft sind, während die russischen Apo theken von den Gemeinden unter dem Vorwande der Wohltätigkeit betrieben werden. Ohneiiin scheuen die Ge meinden vor keiner Art des Handels zurück. Während der Staat die Bergwerke ausbeutet, ihre Erzeugnisse auf seinen Bahnen befördert und Branntwein ausschünkt, verkaufen die Gemeinden landwirtschaftliche Maschinen, Sämereien, Pferde, Hornvieh, Arzneien. Chemikalien usw. Außer dem stehen zahlreiche Bäckereien im Gemeindebctriebe. Vielfach werden durch die Gemeinden auch Tl-catervor- stellungen und Vorlesungen veranstaltet, Bücher verlegt usw. Diese Munizipalunternehmungen arbeiten dem russischen Finanzminister in die Hände und helfen ihm, seinen Plan durchzuführcn und seinem letzten Ziele näher zu kommen, das darin besteht, den Staat zu einer Handels korporation zu machen, die mit den Privatunternehmern in Konkurrenz tritt und sie erdrückt. Long hält es nicht für ausgeschlossen, daß Herr von Witte mit diesem System die russischen Finanzen zu einer ge wißen Blüte bringen könnte, nachdem er die Staatsein, nahmen innerhalb zehn Jahren bereits verdoppelt hat. Allein die russische Staatsverwaltung ist zu so umfassen den Aufgaben wegen der Korruptton und des Protektiv- nismus unfähig, und so wird Herr von Witte immer nur zweifelhafte Erfolge erzielen, wenn nicht gar entschiedene Mißerfolge hervortretcn. Der wichtigste Stan- des Landes, der Bauernstand, ist tatsächlich in einer schlechteren Lage als je zuvor, und nach der Versicherung Longs gibt es gegenwärtig in Moskau allein mehr Brotlose als in ganz England. Deutsches Reich. * Leipzig, 23. Mai. Von ärztlicher Seite wird unk unter Uebernabme aller Verantwortung für die Richtigkeit der Darstellung über eine ultramontane Toleranz» Prachtleistung folgendes Tatsachenmaterial zur Verfügung gestellt: Durch Zeitungsinserate wird unter Chiffre für Eberhardzell in Württemberg die Orts- und Armenarztstelle ausgeschrieben. Hiermit hat es folgende Bewandtnis: In Eberhardzell bietet die Praxis für einen einzigen Arzt ein mäßiges Einkommen, mit ihr isl eine Orts- und Armenarztstelle mit einem Fixum von 1200 verknüpft. Nach dem Ableben des früheren Arztes Or. msä. N. über- nahm im Februar 1902 Or. msä. K. diese Stelle, und zwar durch Kauf des Anwesens des verstorbenen Vorgängers, nachdem das Schult- heißenamt den Uebergang deS bisherigen Vertragsverhältmsses auf ihn gebilligt hatte. Der vorgelegte Vertrag wurde von Or. K. am 2. März 1902 unterzeichnet. Kurz daraus erlitt Or. K. eine schwere Untersckenkelfraktur. Wenige Tage nach seiner Genesung wurde er amtlich vor das Schultheißenamt geladen und dort von dem Schultheiß und dem Pfarrer emvfangen. DaS Wort ergriff der Pfarrer, nicht der Schultheiß, und führte aus, daß, wenn der Or. K. sich nicht entschließen könne- jeden Sonntag in die Kirche zu gehen und sam^ seiner Familie der Gemeinde ein erbauliches Beispiel zu geben, er seiner Stellung als Orts« und Armenarzt Feuilleton. »»o-, — io, Freiheit. Roman von Walter Schmidt-Häßler. Nachdruck verboten. „Wer garantiert dir denn, daß jenes Mädchen, die du so schwärmerisch geliebt, nicht längst die brave, haus backene Frau irgend eines biederen Philisters geworden ist? Wer sagt dir, daß sie nicht schon seit Jahr und Tag über all die Frühlingsromantik hinaus ist, an der deine verfeinerte Künstlerseele immer noch wie an etwas Un vergänglichem hängt? — Antworte mir einmal ganz ehr lich und offen auf eine Frage. Wenn du heute durch Zufall erführest, daß diese deine Ella — in einer Ehe ein stilles zufriedenes Glück gefunden hätte und kaum mehr des alten Jugcndtraumes gedächte! — Was würdest du tun?" „Was das für eine wunderliche Frage ist!" erwiderte Reinhardt mit verdutztem Gesicht. „Der Gedanke ist mir überhaupt noch nicht gekommen, alter Skeptiker!" „Na, aber setzen wir mal den Fall. Oar oxsmplo! Denk dich mal mit einiger Fantasie in die Lage. Was würdest du in solchem Falle machen?" „Ich glaube, ich würde mir furchtbar lächerlich vor kommen", antwortete Reinhardt mit gerunzelter Stirn, „und würde wie aus einem tiefen Schlafe anfwachen, mit blutendem Herzen, gewiß, aber für immer. Wie du machen, würde ich es nicht, sicherlich nicht, der eine Liebe tief in sich bewahren und sein ganzes Leben vergiften konnte, ob- wohl er wußte, daß das Mädchen, das er geliebt, einem andern am Altar Treue geschworen!" „Lieber Freund, das war eine ganz andere Sache! In meinem Falle sprachen tausend andere Dinge mit. Sie war kaum siebzehn Jahre, hinter ihr stand eine Familie, die ihr die Gesetze ihres Handelns diktierte, denn sie war ein halbes Kind. An eine Zukunft zwischen ihr und mir war nicht zn denken, denn ich war arm wie eine Kirchen maus und sic hatte auch nicht viel mehr als ihren alt adeligen Namen und ihre süße Jugend. Sie konnte auf den Mann ohne Aussichten nicht warten, der ihr definitiv Lebewohl gesagt hatte, als er ihr den letzten Bries schrieb. Daß mein lebcnsfrischer, viel jüngerer Vetter mir nach drei Jahren das Majorat hinterlaßen würde, konnten mir beide nicht voraussehen. Eher hätte sie daraus warten können, daß ich in der Lotterie den Haupttreffer machen würde. Als ich mit einem Male ein reicher Mann war, da war sie gerade Excellenz geworden. Aber einen Drost hatte ich dabei, daß sie einen alten Mann geheiratet, der ihr Vater sein konnte und für den sie unmöglich die Wonne schauer einer großen Liebe empfinden konnte. So weist ich wenigstens, daß sie mein schönes jugendliches Bild — und ich war damals wirklich sehr schön und jugendlich — in ihrem Herzen bewahrt hat, und mit hinübernahm in ein neues Leben. Und deshalb bin ich dieser Jugendliebe treu geblieben." „Na, gut also! Dann will ich's bei dir gelten lassen und dir das volle Recht ewiger Glücklosigkcit zugestehen. — Wie ich aber in diesem Falle handeln würde, das weiß ich. Für mein Gefühl hätte ein solcher Abschluß etwas so grausam Triviales, daß er mich ernüchtern würde mit einem Schlage. Aber, wir wollen über solche Ver mutungen, so haltlose Hypothesen uns nicht unnötig den Kopf zerbrechen. — Mir ist ganz heiß geworden bei dem bloßen Gedanken. Reden wir von etwas anderem." „Ja, richtig, und da wollte ich dir denn sagen, daß ich zugleich mit deinem Ausstcllungsbilde nach Berlin zu fahren beabsichtige. — Gehst du mit?" „Um keinen Preis. Ich mag nicht nach Deutschland zurück, auch nicht auf kurze Zeit. Wenn dich das ewige Reisefieebr packt, gut, das ist ja nun mal deine Speziali tät. Ich bleibe hier, wo ich alles habe, was ich brauche und wo mir nicht auf Schritt und Tritt Erinnerungen entgegenkommen, wie aufdringliche Bekannte, die sich wie die Kletten an einen hängen, daß man sie nicht los werden kann. Was soll ich in Berlin? Kannst du mir einen vernünftigen Grund sagen?" „Dich bekannt machen; durch den Eindruck deiner Per sönlichkeit Freunde gewinnen, die dir in deinem Berufe nützen." „Ich schicke den Leuten meine Bilder, das ist an mir gnnz entschieden das Beste und Nennenswerteste. Auf träge kann ich auch hier lmbcn, mehr als ich auszuführeu im stände bin. Denk' mal, was ick bloß diesen Winter zu- sammengearbeitet habe. Reise du also ungeniert, wenn du's nicht aushalten kannst, aber mich laß hier. Du wirst ja ohnedies schnell genug wieder zurückkommcn, denn lange hältst du cs ja nirgends aus." „Und wirst du, wenn ich wiederkomme, mit dem Porträt der Fürstin fertig geworden sein?" „Weißt du ivas, mein Verehrtester? Ich glaube, du willst fortreisen, um mich hier in dieser entscheidungs reichen Sache ganz allein mir und dem Schicksale zu über lassen? Du siehst mich im Strome treiben, und gehst von der Brücke weg mit dem Gedanken: „Weshalb soll ich denn dabei zusehen? Wenn ich wieder komme, muß er ja von selber entweder ans Ufer gekommen oder rettungslos ver sunken sein!" „Na, was das Letztere anbelangt, darüber kann ich ja beruhigt sein. Du versinkst mir nicht in der Tiefe. Dazu bist du ein zu guter Schwimmer. Auf einer Seite wirst du sicher ans Land kommen, dessen bin ich gewiß. Aber darin hast du ganz recht, ich bin ganz froh, wenn ich dabei nicht zuzusehcn brauche. Du gehst also vorläufig nicht wieder zu Maddalena?" „Doch! Morgen male ich weiter. Ob ich fie liebe, oder nicht, ob ich wirklich auf dem Wege bin, eifersüchtig zu werden, darüber grüble ich nicht mehr nach. Ich weiß nur eins — sie ist mir zur Gewohnheit geworden, ich entbehre sie, auch wenn ich mich über ihre Capriccn ärgere. — Man muß das Leben und die Menschen nehmen, wie sie sind,und nicht an allem so lange herummodeln wollen, bis man ihm seine Eigenart — und damit oft seinen schönsten Reiz ge stört hat!" Nach dieser Unterredung wußte Remmingen, daß es nun die allerhöchste Zeit war, dem Freunde durch die Ge wißheit über Ella entweder Genesung oder das alte Glück zu bringen. Alles drängte der Entscheidung entgegen. Und so atmete Franz förmlich auf, als es endlich Mai ge worden war. In Berlin war die große Frühjahrsausstellung glän zend eröffnet worden. Ein selten schönes Maiwcttcr begünstigte den Besuch des Nusstcllungsparkes und der weite Komplex, die bilder gefüllten Säle wimmelten von Fremden und Ein heimischen. Gleich mit dem Beginn der schönen, warmen Frühlings tage hatten Marianne und Ella sich auf die Reise gemacht. Im April schon war Heinz Herrmanns neues Buch „Enge Geister" erschienen und hatte in den Zeitungen wieder warme Anerkennung gefunden. In der sonnigsten Laune hatten beide die Reise ange treten, und wie ausgezeichnet sie zusammenpaßten, das merkten sie jetzt wieder so recht von neuem. Sic waren im „Kaiserhotel" abgesttegen, mitten im Herzen Berlins, wo die ganze Hochflut des Großstadt- lebenö sic untertauchte. Ein paar Tage wollten sie hier bleiben, alles Neue mit- nehmen, in den Theatern einige gute Vorstellungen sehen, sich so recht mit Eindrücken vollsaugen und dann wieder fort aus dem Spreebabel, hinauf in den stillen Schatten der Ostsecwälder. Dort wollte Ella einen großen Roman für eine Münch ner Zeitung, den diese bestellt hatte, in Muße beginnen und nebenbei ihr neues Buch konzipieren. Ihr erster Besuch war natürlich draußen in der Köpe- nicker Straße gewesen, wo sie alles so lieb und herzlich wicdergefunden hatte, wie sic es verlosten. Marianne hatte sich's nicht nehmen lassen, sie zu be gleiten, und war von dem alten Künstler mit dem jungen Herzen und dem warmen Gemüt ehrlich entzückt. Sic begriff voll und ganz, daß eine Natur, wie die Ellas, in diesem Milieu sich zu innerer Klarheit, zu ge sunden Anschauungen und frischem Geistesleben hatte ent falten müssen, daß man in diesem Boden tiefe Wurzeln schlagen konnte. „Aus Italien hat sich bet unserer Firma ein Herr sehr angelegentlich nach Heinz Herrmann erkundigt!" be richtete Paul Röminger, als sie sich alle wie sonst an dem alten eichenen Eßtische unter der Hängelampe gegenüber saßen. Ella erblaßte unwillkürlich, als sie erwiderte: „Ein Herr aus Italien? Ja — wer denn?" „Ein Doktor Sevantini!" lautete die Antwort. „Kenn' ich nicht!" sagte sie, innerlich ein wenig ent täuscht. „Was hat man ihm denn geantwortet? Doch hoffentlich nichts, was meinem schönen Inkognito den Garaus machen konnte? Mit dieser Enthüllung will ich selber überraschen!" „Gott bewahre. Ich schrieb zunächst dem Herrn, daß ich den Aufenthalt des Autors nicht kenne, als du aber schriebst, daß du im Mai kommen und dein Inkognito fallen lassen wolltest, da hielt ich cS für böslich, und da sich's jedenfalls um etwas (Geschäftliches handelt, auch für praktisch, dem Herrn mitzuteilcn, daß er im Mai noch ein mal schreiben solle, lind nun, denk' ich, können wir jeden Tag seine Nachrichten erwarten!" „Na also! Dann werde ich mit dem würdigen Herrn vielleicht ausländische tzie'chäftc machen. Ja, ja — so be- rühmt ist mau, daß man schon in Italien gelesen wird! — Am Ende will er mich übersetzen!?" Am Nachmittage saßen die beiden Freundinnen im AnS. stellungsparke. Sie hatten sich in den ersten Sälen müde gesehen, denn sie gehörten zu denen, die mit voller Intensität au alles herangingen, was Kunst heißt, und ruhten nun in der
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