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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 25.05.1903
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1903-05-25
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19030525025
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1903052502
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1903052502
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
- Monat1903-05
- Tag1903-05-25
- Monat1903-05
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Tabellarischer and Ziffernsatz entsprechen» höher. — Gebühren für Nachweisungen und Offertenannohme L8 (excl. Porto). Grtra-Beilagen (gesalzt), nur mit b« Morgen-Ausgabe, ohue PostbesSrdernug ^4 SO.—-, mlt Postbrsärderung 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-AuSgaber Bormittag« IO Uhr. Mvrgru-AaS-aber Nachmittag« 4 Uhr. Anzeigen stud stet« an dt» Expedition zu richten. Di» Erpedttton ist Wochentag« ununterbrochen geössnet von früh 8 bi« abeud» 7 Uhr. Druck and Verlag von A Bolz in Leipzig. 97. Jahrgang. politische Tagesschau. * Leipzig, 28. Mai. Die Wahlparole -e- Bunde» der Landwirte. Auch die Letter des Bundes der Landwirte sind jetzt mit einem umfangreichen Wahlaufrufe hervorgetreten, der aber mehr einer volkswirtschaftlichen Abhandlung als einem Wahlaufrufe gleicht. Es sind in ihm die alt» bekannten Argumente aufgeftihrt, die beweisen sollen, baß die deutsch« ReichSregterung auch jetzt noch die Caprtvische Handetspoltttk gegen die Interessen der Landwirtschaft weiterzusllhren gedenke. Einigermaßen zusammengefaßt werden die praktischen Gedanken des Aufrufe« in den Schlußsätzen, worin der gesamte Bauernstand und ebenso der mit ihm „wirtschaftlich verbundene und zusammen- gehörende" BUrgcrstand aufgefordert werben, diesmal ge schloffen bet den Wahlen auf den Plan zu treten. TS heißt darin, alle diejenigen, die entsprechend der Wirtschafts politik de« Bundes der Landwirte die neuen Handels verträge einer gleichmäßigen und alle berechtigten Forde rungen berücksichtigenden Umgestaltung unterzogen und damit eine sichere Grundlage für die wirtschaftliche Weiterentwickclung Deutschland« geschaffen wissen wollen, möchten sich mit dem Bunde zusammen!ä>ließen. Die Freunde des Bundes der Landwirte wttrben damit für eine Gesundung der wirtschaftltäxn Verhält nisse in Deutschland sorgen und helfen, den einzig erfolg, reichen Kampf gegen die Sozialdemokratie, nämlich den Kampf auf wirtschaftlichem Gebiete, siegreich zu beenden. Die Regierung lasse den Bund der Landwirte darin im Stich, umso fester müsse der Zusammenschluß sein zum Heil des Vaterlandes. — Wie die Herren Verfasser es wagen können, angesichts der Gestalt, die der Zolltarif mit Zustimmung der verbündeten Regierungen erhalten hat, gegen diese Negierungen den Vorwurf zu erheben, sie ge dächten die Eaprivische Handelspolitik gegen die Interessen der Landwirtschaft weiterzusnhren, ist für uns schlechter dings unbegreiflich. Die Dreistigkeit dieses Vorwurfes wird nur noch übertroffen durch die Behauptung, die Re gierung lasse den Bund der Landwirte mit seinen Be strebungen im Stiche. Denn tatsächlich ist eS der Bund der Landwirte oder vielmehr ein Teil seiner Mitglieder gewesen, welche die Regierung bei ihrem Bestreben, die Handelsverträge einer gleichmäßigen und alle berechtigten Forderungen berücksichtigenden Umgestaltung zu unter ziehen, im Stiche ließen. Daß mit den Forderungen der Bündler neue Handelsverträge überhaupt nicht würden zu stände kommen, haben die in diesen Dingen doch gewiß allein kompetenten Vertreter der verbündeten Regie rungen bis zum Uebcrdruh versichert. Und daß man durch Aufstellung solcher Fordernngen die Sozialdemo kratie besiegen könne, ist eine Behauptung, wie sie kühner gar nicht gedacht werden kann. Man braucht nur die Reden der sozialdemokratischen Agitatoren zu lesen, um sich zu vergewissern, daß nichts in ihnen eine so aufreizende Rolle spielt, wie diese Forderungen. Und daß das all« mählich auch solchen BundcSmttgliedern einleuchtet, dt« sich ein eigenes Urteil bewahrt haben, geht daraus hervor, daß in zahlreichen Wahlkreisen die Bündler nicht daran denken, Kandidaten nach den Herzen der Herren von Wangenbein«, I)r. Hahn und Dr. Oertel aufzustellen, sondern solchen Männern ihr Vertrauen schenken, die mit dem Zolltarife zufrieden sind und Handelsverträgen, die auf Grund dieses Tarifes zu stände kommen, ihre Zu stimmung zu geben bereit sind. Der Aufruf ist aber nicht nur charakteristisch durch bas, wa» er sagt, sondern auch durch das, was er verschweigt. Auf andere als wirt- schaftliche Fragen geht er Überhaupt nicht ein. In dieser Beziehung erfährt er eine interessante Ergänzung durch ein Schreiben de« Bezirksvorstände» für die Pfalz. Darin werden die Mitglieder des Bundes aufgeforbert, sich von Versammlungen, in denen bi« Jesuitenfrage erörtert wirb, grundsätzlich fernzuhalten. Hetzerei«« «nd Tatsache«. Der „Vorwärts" krönt eine Serie von Leitartikeln über die kommende Reichstagswahl durch eine Hetzerei gröbsten Kalibers. Nicht nur werden in diesem Schlußartikel der Mehrheit für den Antrag Kavdorff „gemeine menschliche Charaktereigen schaften" zugeschrieben, nicht nur werden die alten, hin- fälligen Phrasen von Berfassungsbruch usw. wiederholt, sondern die Annahme des Antrages Kardorfs wird auf eine Linie gestellt mit jeder aewaltsamen Reaktion aus «ine Revolution. In dieser Beziehung behauptet nämlich der „Vorwärts" von -en „gewaltigen Zusammenstößen" einer neuen Periode -es Klaffenkampfes: „ES ist . . . gleichgültig, in welcher Form sich diese Zu sammenstöße abspielen werden; die Gallifet und Windischgrätz haben in Paris und Wien mit ihren Kanonen nicht mehr Schaden gestiftet, als die deutsche Zuchthaus- und Hunger politik anrichten würde. Die Erfolge der Gegen revolution drücken sich je nach Zeit und Umständen in den statistischen Ziffern der gewaltsamen Todesfälle aus oder in denen deS Typhus, der Tuberkulose, der Krimi- nalstatistik und der Selbstmorde aus den be rühmten ulnb e kan n ten ^Ur Zach en." Um bei den Selbstmorden anzufangen, so soll nicht be stritten werden, -atz zwischen der allgemeinen Entwicklung des Wirtschaftslebens und der Häufigkeit der Selbstmorde ein Zusanrmenhang besteht. So kamen in Deutschland, wie wir G. v. Mayers Abhandlung im „Handwörter buchs der Staatswissens ch asten" entnehmen, in den ungünstigen Wirtschaftsjahren 1888 und 1894 in Deutschland auf eine Million Menschen 226 bezw. 217 Selbstmörder; seitdem ist die Selbstmordztffer auf 195 im Jahre 1899 zurückgegangen. Die Annahme, daß aus wirt schaftlichen Gründen in erster Linie Angehörige der ar beitenden Klassen zum Selbstmorde getrieben würden, ist aber gerade für Krisen-zeiten durchaus nicht ohne weiteres zutreffend. Gerade anläßlich der Äankbrüchc in den letzten Jahren hat man an einer Reihe von Einzelfällen beob achten können, daß Angehörige der besitzenden Klassen durch das Herein'brechen wirtschaftlicher Katastrophen zum Selbstmorde veranlaßt werden. Ueberdics ist der Prozent- satz derer, die aus „unbekannten" Ursachen Selbstmord begehen, nicht so übertrieben groß, wie der „Vorwärts" glauben machen will. Nach -er preußischen Selbstmord, stattstik legten aus unbekannten Ursachen von je 100 Selbst mördern im Jahre 1894 20,5 männlich« Personen, im Jahre 1898 23,2 männliche Personen Hand an sich. Selbst» verständlich fehlt jeder Beweis dafür, daß die unbekannte Veranlassung zum Selbstmord wirtschaftliche Not gewesen sei. Was sodann die vom vorwärts" herangezogene Kriminal statt st ik anbetrifft, so besteht bekanntlich ein besonders enger Zusammenhang zwischen wirtschaftlich ungiünstigen Verhältnissen und dem einfachen Diebstahl. Die deutsche Statistik Uber den letzteren lehrt aber, wie wir einer Abhandlung H. v. Scheels im 22. Bande der „Jahrbücher kür Nationalökonomi« und Statistik" entnehmen, daß — abgesehen von den schlecht überwachten und schlecht angeleiteten Jugendlichen — die Bestrafungen wegen einfachen Diebstahls in den Jahren 1882—1899 mit geringen Schwankungen zurückgcgangen sind, und -war, in Prozenten der iiberhaupt Verurteilten, von 24,0 auf 14,5. In Bezug auf di« vom „Vorwärts" erwähnte Tuberkulose ist einfach darauf hinzuwetsen, daß der Kampf gegen diese durchaus nicht auf die arbeiten- den Klassen beschränkte Bolkskrankheit noch nie in solchem Umfange ausgenommen worden ist, wie gegenwärtig; es sei nur an die zahlreichen Lungenheilstätten, die Er holungsstätten des Roten Kreuzes usw. erinnert. Be treffs desTtzphus endlich ist festzustellen, daß die Sterb- ltchkeit infolg« von Typhus im Vergleich mit der früheren Zeit ganz ungemein abgenommen hat. Im 5. Jahrgange von Wolfs „Zeitschrift für Sozialwtssen- schäft" hat vr. A. Gottstein eine Abhandlung über die Todesursachen in früherer Zeit und in der Gegenwart veröffentlicht, worin die Abnahme der Sterblichkeit nach, gewiesen wird. Das Verdienst daran hat nicht allein das fortschreitende ärztliche Wissen, sondern auch, und vor allem, die st a a t l i ch e u n d di e st ä d t i s ch e Gesund heitspflege. Die Verbesserung der Dtädtereintgung, die Reform der Trinkwasserversorgung, die Besserung im Krankenhauöbau, in der öffentlichen Armen- und Krankenpflege die Hebung auch der privaten Kranken- und Kinderpflege, haben im Zusammenwirken mit unserer Arbeiterversicherungsgesetzgebung in hohem Maße cnrf die Abnahme der Sterblichkeit hingewtrkt. Vergegenwärtigt man sich alle diese Gesichtspunkte, dann erkennt man, welcher maßlosen BolkSverhetzung sich der „Vorwärts" schuldig machte, als er die deutsche Zollpolitik auf «ine Stufe stellte mit einer aewatsamen Gegenrevolution. Frankreich «nb Marokko. Der französische Abgeordnete Etienne hatte als Vorsitzender der Kommission der Kammer für die äußeren Angelegenheiten, Protektorate und Kolonien vor kurzem an den Ministerpräsidenten ein Schreiben gerichtet, in welchem er die Aufmerksamkeit der Regierung auf die räuberischen Einfälle marokkanischer Banden in das französische Gebiet lenkte und insbesondere aus Anlaß des jüngsten Ueberfalles bei Taghtt aus die dringende Notwendigkeit hinwies, be sondere Maßregeln hiergegen zu treffen. Der Ministerpräsident hat dem Abgeordneten Etienne geantwortet, der Gcneralgouverneur RSvoil habe unter Zustimmung der Regierung schon am 6. April dem Kvm» Mandanten des algerischen Armeekorps telegraphische Weisung gegeben, die Marokkaner in dem zur Ver- tcibtgung und zum Schutze der französischen Posten not wendigen Umfange zu verfolgen, d. h. das Gebiet von Bcchat zu umgehen und das Gebirge von Mumen abzu suchen, aber diesen Maßregeln ihren ausschließlich poli- -etlichen Charakter zu bewahren. „Wenn ich", fügte er, -der Ministerpräsident, hinzu, „fest die Hand darauf ge- Halten habe, baß keine neue militärische Maßregel, keine Einrichtung neuer Posten, keine neue Besetzung irgend eines Gebietes ohne Wissen und ausdrückliche Ermäch tigung der Regierung befohlen oder unternommen werde, so habe ich doch niemals aufgehört, mich allen Schutzmaß regeln günstig zu zeigen, die mir als unerläßlich für die Ruhe an unserer Südwestgrenze bezeichnet wurden." Die Antwort des Ministerpräsidenten entspricht in den erteilten Weisungen den mit Marokko abgeschlossenen Verträgen, die Frankreich das Recht geben, die Angreifer, soweit es zur Sicherung der Ruhe und Ordnung an seinen Grenzen notwendig ist, auch über diese hinaus auf marokkanisches Gebiet zu verfolgen. Dadurch aber, daß der Ministerpräsident ausdrücklich den Vorsitzenden der Kolonialkommisston versichert, er habe fest die Hand darauf gehalten, daß keine neue militärische Unter nehmung und keine Besetzung eines neuen Gebietes ohne Wissen der Regierung vorgenommen werbe, ist sie zu gleich äußerst bezeichnend für die Politik der Tat, die, auch gegen den Willen der Zentralregierung und zum mindesten ohne ihr Wissen, andere amtliche, den Dingen örtlich nahestehende Kreise, in erster Linie die mili tärischen Kreise Algeriens, zu unternehmen nicht an stehen. Dies Vorgehen Über den Kopf der Pariser Zentralregterung hinweg ist allerdings nicht neu- ES hat sowohl in der Entwickelung Algeriens, als auch anderer Kolonien, namentlich bet der Eroberung von Dahomev, eine ganze Geschichte hinter sich. Unter den augenblick lichen Verhältnissen sind aber die Worte des Minister präsidenten um so lehrreicher, als von Tag zu Tag au- kolonialen und militärischen Kreisen sich Stimmen äußern, die unter Hinweis auf die Nachrichten von den marokkanischen Räubereien fordern, daß Frankreich die Oasen von Kigig besetze, b. h. mit dieser Besetzung marokkanischen Gebietes den Stein der marokkanischen Frage ins Nollen bringe. Die Einwanderung in England. Am Donnerstag sand in London die letzte Siyung der Königlichen Kommission statt, die sich mit der Einwande rung zu befassen hatte. Der Vorsitzende erklärte, daß man alles zu sammelnde Material gesammelt habe, und daß der Bericht der Kommission möglichst bald, d. h. noch vor Vertagung des Parlamentes, dem König vorgelegt werden solle. Major Clayton, Sekretär des Gefängniswesens, machte eine Mitteilung über die in den Jahren 1899 bi» 1903 vorgekommenen Bestrafungen von Ausländern. Die Gesamtzahl der Bestrafungen erreichte in fünf Jahren die Höhe von 13114. Bon den Bestraften stellten die Ameri kaner 23^ Prozent, die Deutsche n, die in zweiter Linie kommen, 19 Prozent. Russen und Polen 11 Prozent, Nor weger, Schweben, Dänen, Italiener und Franzosen je 9 Prozent. Natürlich geht ans diesen Prozentzahlen nicht hervor, baß gewisse Nationen besonders verbrecherisch ver. anlagt wären, weil die Zahl der in England befindlichen Angehörigen der verschiedenen Nationalitäten ein« sehr verschiedene ist. So würden beispielsweise die Dänen der Nationalität nach einen höheren Prozentsatz an Bestraften aufzuweisen haben, als die Deutschen — zu denen alle Deutschfprcchcnden gerechnet werden —, wenn sie auch scheinbar mit 9 Prozent weniger an den Strafen beteiligt sind, als die Deutschen mit 19 Prozent. Die Fremden in London betrugen 2,95 Prozent der Gesamtbevölkerung. Der Kommissar der hauptstädtischen Polizei, Mr. Henry, erklärte, daß er keinen Grund einsehe, weshalb man AuS- länder, die in England bestraft würden, nicht nach Ab- büßung ihrer Strafe desL. andes verweisen solle. Diese Awsicht wurde auch von anderer Seite vertreten. So erklärte der Oberrichter des PolizeigertchtS in Bow- street, daß er überzeugt davon sei, daß fremde Verbrecher bet erster Gelegenheit das Land verlassen würden, wenn sie Gefahr liefen, nach Ablauf der ihnen zuerteilten Strafe bet weiterem Verbleib unter die Bestimmungen gegen da» Vagabundentum zu kommen. Fsuilletsn. 2oi Freiheit. Roman von Walter Schmidt-Häßler. Nachdruck verboten. Alle drei schienen der Musik zu lauschen, die den Braut chor aus Lohcngrin spielte. Endlich nahm Ella das Gespräch wieder auf. „So sind auch Sie nur vorübergehend in Berlin, Herr Baron?" „Auf vierzehn Tage höchsten«, vielleicht noch kürzer. Ich bin, wie viel« Hundert andere, zur Kunstausstellung hier, mit der mich ein persönliches Interesse verknüpft. Einer meiner Freunde, oder richtiger gesagt, mein einziger Freund", — hier schoß Ella eine Blutwelle inS Gesicht — „hat ein ganz wundervolles Bild ausgestellt, das jeden- falls Sensation machen wird. Vielleicht werden Sie sich seines Namens noch flüchtig erinnern, gnädiges Fräulein; denn auch Sic haben ihn gekannt: Reinhardt Berning!" „Ist er hier?" rief Ella aus, der eS in diesem Augenblick des Selbstvergesscns völlig gleichgültig zu sein schien, ob sie ihr Innerstes verriet ober nicht. Was aus ihren Augen herausleuchtete, sagte dem Siaron mehr als tausend Worte, unzweifelhaft alles, was er zu wissen brauchte. „Bitte, sagen Tie mir, ob er mit Ihnen hier ist? — Sein Bild hängt in diesen Sälen, vielleicht wenige Schritte von hier, und ich sah es noch nicht!?" Remmingen war freudig erregt, aber nur innerlich. Auf diesen Augenblick hatte er nur gewartet, jahrelang, und er übertraf seine schönsten Hoffnungen bet weitem. Jetzt galt cs, vorsichtig zu Werke zu gehen. Er täuschte sich keinen Moment über die Situation. WaS Ella jetzt so nrit fort« riß, war die Ueberraschung, die Eingebung deS Moments, «in Etwas, das stärker war alS sie, denn so ganz leicht träumte er sich den Erfolg doch nicht. „Leider ist er selbst nicht mit mir gekommen. Ich konnte ihn nicht dazu bewegen, die Heimat wiederzusehen, die ihm die bitterste Enttäuschung, den unheilbarsten Schmerz seine- Lebens gebracht hat. Er lebt, wie ich, in Rom, und die neue Heimat hat ihm Glück gebracht. Er ist ein großer, anerkannter Künstler geworden, aber ein einsamer Mensch geblieben, wie ich, und so haben wir zwei Schiffbrüchigen uns nur um so fester an einander angeschloffen." „So kommt er auch nicht?" fragte sie leise, kaum hörbar. Remmingen zuckte die Achseln. „Wenn nicht etwas ganz Besonderes ihn ruft, bann wohl kaum." Dann blioben sie wieder still, als hätten sie sich gar nichts mehr zu sagen. „Aber vor allen Dingen, Herr von Remmingen", -brach Marianne daS Schweigen, „führen Sie uns jetzt einmal hin zu dem Bilde. Ist der Jugendfreund auch selbst nicht da, so grüßt doch aus seinem Werke ein Teil seines Selbst. Und ich interessiere mich dafür!" Damit stand sie auf und die zwei andern folgten ihr. Langsam schritten sie zusammen dem Seiteneingange zu, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt. In den inneren Räumen war es schon ziemlich leer, seit daS Konzert die meisten ins Freie gelockt hatte, und so störte kein Gedränge mehr die drei in ihrem Kunstgenuß. Im vorletzten Saale machte Remmingen Halt und wies stumm auf die gegenüberliegende Wand. Die Sonne schien» gedämpft durch die gelblichen Tücher, noch voll herein und leuchtete über Reinhardts Bild. Es war ein eigenartiges Gemälde, das der Künstler „Sehn, sucht" getauft hatte. Den Vordergrund bildete zerbröckeltes Mauerwerk, beschattet von dunklen Cypressen und über wuchert von einem Meere wilder Kletterrosen, die sich aus allen Ritzen zu drängen schienen. An da- moosige Gestein gelehnt, stand ein einsamer Mann, ein junger Germane, einer der kaiserlichen Leibwächter, und schien traumver loren hinauszublicken. Und vor ihm breitete sich im So»'-engolde schwimmend das alte Rom, wie es zur Zeit des Nero oder Hadrian auSgesehen, mit seinen ragenden Säulenpalästen und Tempclrcihen, mit seinen Gärten und Riesenbauten. Vom wolkenlosen Blau des Himmels hoben sich die schneeigen Linien der marmornen Wunder, die Bronzestatuen des Jupiter auf dem Kapitol und die ver- goldcte Quadriga auf dem Hause der Cäsaren. Der einsame Mann aber da droben zwischen den wilden Rosen, mit dem rotblonden Haar und dem Fell über den nackten Schultern, blickte hinaus über all die Pracht und Herrlichkeit ins Wette, zu den, bläulichen Schatten der fernen Albanerberge, als wollte er dahinter die Höhen mit sehnenden Blicken suchen, wo die deutschen Buchen und Fichten rauschen, wo in anspruchsloser Hütte sein Glück vergeblich auf ihn harrt. Eine wunderbare Stimmung lag über dem Ganzen, der Hauch der Antike und doch ein so modernes Fühlen, daS jeden Beschauer sympathisch berühren mußte. Ella blieb vor dem Bilde regung-los stehen. Ihre ganze Umgebung war vergessen. Ihr volles, reiches Ge fühl sprach lebendig aus ihren fenchtschtmmernden Augen. Remmingen und Marianne setzten sich auf eines der ferner stehenden Sofas und überließen Ella völlig ungestört dem, was jetzt in ihr oorgtng. „Wie unendlich rührend ist eS doch", begann Marianne, „wenn zwei Menschen, die sich für immer ver- loren hatten oder es wenigstens glaubten, plötzlich und unverhofft auf dem Wege sind, sich wiebcrzufinden!" ,^Ja", erwiderte Remmingen, „das Glück kommt nun mal ungerufen und läßt sich nicht erzwingen. Darum soll es jeder festhalten, wenn eS einmal einkehrt." „Sehen Sie, Baronin, ich bin für diese zwei Leutchen so eine Art Vorsehung gewesen. Meine Aufgabe geht ihrem Ende zu. Ich habe nur noch dafür zu sorgen, daß sie sich nicht wieder verlieren." „Nun, ich denke mir, das ist nun nicht mehr zu er warten!" „Gott gebe eS! Reinhardt ist ein ganz eigenartiger Mensch, den man ganz kennen muß, um ihn richtig zu beurteilen. Es ist die höchste Zeit gewesen, daß ich die Gesuchte fand!" „Wie meinen Die daS?" „Ich will Ihnen alles sagen, denn vielleicht bedarf ich sogar Ihrer Hülfe. Eine Frau sieht nun mal in solchen Dingen feiner und schärfer, alS wir Männer. Reinhardt hat qualvoll gelitten, hat wie ein Held gekämpft, um sich zur Klarheit durchzuarbeiten. Er hat nach der Ver lorenen gesucht mit rührender Geduld, hat an sie ge glaubt, wie an sein Talent. Als aber keine Nachricht kam, als Monde und Jahre vergingen, da fing ich an, diese Liebe, die sein Dämon zu werden begann, mit aller Energie zu bekämpfen. Ich habe ihn förmlich ge quält, sein einsames Herz einer anderen Zuneigung zu öffnen, und fltrchte mich jetzt vor dem Gedanken, daß es mir gelungen sein könnte!" Marianne sah ihn erschrocken an: „Mein Gott! Warum taten Sie das?" »Weil ich das der Freundschaft schuldig war, Baronin, weil ich ihn, den jungen, lebensfrischcn Menschen, be- wahren mußte vor einem Schicksal, das bitterer ist, als Sie vielleicht ahnen — leer durchs Leben zu gehen. — Der Künstler gehört der Welt, und wenn er schaffen soll, muß er Liebe geben und empfangen. Ich mußte den Jüngling schützen vor meinem eigenen Lose, denn Sie können sich wohl schwer einen Begriff davon machen, was es heißt, über einen Punkt nicht hinauSkommen zu können zur Freiheit — einsam alt werden zu müssen! — Davor wollte ich ihn bewahren!" Marianne sah ihn schmerzlich an. Er hatte sich halb abgcwandt und blickte zu Ella hinüber, die noch immer völlig weltabgeschieden vor dem Bilde stand. Sie wußte ja auch nur zu wohl, daß hinter ihr zwei Menschen saßen, die sich länger als zwölf Jahre nicht ge sehen und doch beständig aneinander gedacht hatten. Sie mochten sich manches zu sagen haben. Marianne konnte einige Augenblicke mit Mutze den Mann betrachten, dessen jugendliche» Bild bis heute vor ihr gestanden hatte, als hätte die Zeit keine Macht über ihn. Das feine, vornehm geschnittene Gesicht war noch ganz dasselbe, das Alter hatte noch keine allzu tiefen Kerbschniite hinein gemacht. Aber an den Schläfen war das einst so lockige Haar dünner geworden und wie ein leichter Reif lag daS erste Grau darüber gestreut. — Und sie selbst war jung geblieben, das sagte ihr täglich der Spiegel, so wenig eitel sie auch war. Schöner als je saß sie neben ihm in ihrer zauberhaften Anmut, die fast noch etwas Jungfräuliches hatte. „Was denken Sie nun zu tun, Baron?" fragte sic. „Ich?" erwiderte er, wie auS einem Traume er wachend. „Ich werde mir einbtlden, in einer lauen Frühlingsnacht sei vor meiner alternden Seele noch ein- mal wie ein Abschiedsgruß der Jugend mein vergangenes Glück aufgctaucht in gleicher Schöne, und dankbar für die« unverhoffte Gnadengeschenk werde ich meine einsame Straße wcitcrziehcn!" „Nun, gar so eilig werden Sie eS wohl mit dem Weiterztehcn nicht haben, denn Sie sagten ja vorhin galant, Sic hätten nie etwas vor, und die alte Hau»- genossin da unten in Italien kann ein wenig warten." „Sie meinen — die Vergangenheit?!" „Ja, die meine ich! — Wer weiß, vielleicht geben Die ihr doch noch mal den Abschied. Glauben Sie einer er fahrenen Hausfrau, gar zu alte Hausgenossen werde« tyrannisch! Nehmen Sie statt ihrer die Gegenwart mit! — Was meinen Sic?" Remmingen lächelte. „An die habe ich kein Recht, denn sic bringt einc andere mit, die ich mir verscherzt habe — die Zukunft!" „Sie haben keine Zukunft mehr? WcShalb denn da»? Das klingt ja ganz grausam skeptisch. WeShalb sollte« Sic denn auf keine Zukunft mehr rechne« bMfe»?l"
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