01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 09.07.1902
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-07-09
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19020709019
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- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902070901
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- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902070901
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
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- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1902
- Monat1902-07
- Tag1902-07-09
- Monat1902-07
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Anzeigen «Preis die 6 gespaltene Petuznle LS Strclame» unter dem N^acttoasstrtch (4 gespült«) 7» vor d« tzamiltemrach» richt« (Sgespalt«) LO Tabellarisch« und Htsferasatz «tspr»ch«d höher. — Vebübreu Pir Nachweisung« und Offertmauuahm« 8Ü (excl. Porto). Iinuahmrschluß ftr Alyeigea: Abend-Au-gaber vormittag» 10 Uhr. Morgen-AuSgaber Nachmittag» 4 Uhr. Anzeigen stad stet» an dm Erpeditior zu richte» Die Expedition ist Wochentag» nnaaterbrochea geöffaet von früh 6 bi- Abend» 7 Uhr. Ertra-Beilagen (gefalzt), nnr mit der Morgea-Lu»aab«, ohne Postbeförderung ^il üü.—» mit Postbeförderung 70^-» Mittwoch den 9. Juli 1902. 98. Jahrgang. Deutsche Eisenbahngemeinschast. vv. Im Auftrage des Württembergischen Handelskammertages hat der Sekretär der Stutt» garter Handelskammer, Professor vr. Huber, eine Denkschrift verfaßt, in welcher die Anschauung der be rufenen Vertretung vonHandel undJndustrie in Württem berg zur Eisenbahnfrage zum Ausdruck kommt. Die Schrift liegt nunmehr gedruckt vor. Sie ist im Verlag von K. Grüninger erschienen und enthält eine außerordentliche Fülle werthvollen Materials; sic bespricht eingehend die neueren Verkehrsanforderungen, die Aussichten einer süd deutschen Eisenbahngemeinschast, die preußische Eisenbahn finanz und ihren angeblichen Fiscalismus, sowie die Hoheitsrcchte. Die gründlichenDarlegungen zeigen denWeg zu einer deutschenEisenbahngemeinschaft und gipfeln in dem dringenden Wunsche, daß Württemberg möglichst bald «unter gewissen Cautelen gegen zu weitgehende Centrali- sirnng u. s. w.) ein Ge m c t n s ch a f t s a b k o m m en m i t Preußen schließe. Im ersteu Theile der Schrift wird nachgewiesen, daß die Mittelstaaten, in Anbetracht ihrer ungünstigen Finanzlage, zu selbstständiger Durchführung durchgreifender Eisenbahnreformen nicht im Stande sind. In Betreff einer süddeutschen Eisenbahngemeinschast führt die Denkschrift unter Anderem aus: „Selbst, wenn alle süddeutschen Staaten wirklich zu einem süddeutschen Bunde zu vereinigen wären «wozu nach den seitherigen Ersah- rungen wenig Aussicht vorhanden), wäre das Ziel klein und im nationalen Interesse zu bedauern. Eine süd deutsche Gemeinschaft als Selbstzweck würde gleichsam die alte Mainltnie wieder Herstellen, in einer Gestalt, die noch unmoderner und noch schädlicher wäre, als die frühere. Ginge ein süddeutscher Eisenbahnbund vollends darauf aus, nicht nur seine eigene Widerstandskraft gegenüber dem preußischen Uebergewicht zu stärken, son dern sogar einen Druck auf die preußische Tarifpolitik auszuüben, so liefe dies nur auf eine zwecklose De- monstration hinaus, welche die preußische Ver waltung sofort mit so scharfen Gegenmaßregeln beant worten könnte, daß einem derartigen Verein ein sehr kurzes Dasein beschieden wäre. Die süddeutschen Staaten sind in Bezug auf ihre Selbstständigkeit gegeneinander noch eifersüchtiger, als gegenüber der preußischen Vor macht. Der Unterschied besteht schließlich nur darin, daß der Anschluß an Preußen für die Vereinheitlichung, wie für die Hebung der Rentabilität der einzelnen Bahnver- waltungen geeigneter wäre. . . ." Gegenüber dem beliebten Schlagwort vom preußischen „Fiscalismus" betont die Denkschrift, es sei unlogisch, anzunehmen, daß der speciell Miquel'sche Fisca lismus für die preußische Verwaltung für alle Zeit bin- dend sei. Die Verquickung des allgemeinen Staatshaus halts mit dem Eisenbahnetat sei übrigens eine Entwicke- lungskrankhctt unserer Finanzwirthschaft, die weder von dem Finanzminister, noch vom Landtag, noch von der Regierung nach Art des I)r. Eisenbart über Nacht geheilt werden könne; man finde sie überdies in Württemberg, Sachsen u. s. w., wie in Preußen; der Unterschied sei in Folge der verschiedenartigen Höhe der Erträgnisse ein nur quantitativer. Im Weiteren wird auf die großen Leistungen und Erfolge des preußischen Ge» sammtdienstes hingewiesen und hinsichtlich der Tarife betont, daß die preußischen seit der Verlängerung der Giltigkeitsdauer der Rückfahrkarte die billigsten im Reiche sind: zwar sind die nominellen Tarifsätze höher als bei den süddeutschen Bahnen, aber der Unterschied wird reichlich ausgewogen durch die Gewährung von 25 Kilogramm Freigepäck, durch den Wegfall des schnell» zugzuschlags für die Rückfahrkarten bei allen Schnell zügen und durch Len billigen 2-Pfennigtarif der vierten Elaste. Besonders interessant und wichtig sind die Anfüh rungen der Denkschrift in Betreff der H o h e i t s r e ch t e. Die bemerkenswerthesten Stellen lauten: „Im Volk sieht man einem Zusammengehen mit der preußisch-hessischen Eisenbahnverwaltung mit einem ge wissen Mißtrauen, mit der Sorge wegen einer zuweu- gebxndcn Centralisativn und deren Rückwirkung aus tue politische Selbstständigkeit des Landes, auf die Tarif gestaltung der Eisenbahnverwaltung, sowie auf die Mit wirkung des Landtags entgegen. Die Befürchtung, es möchte die politische Selbstständigkeit des Landes eine Schmälerung erleiden, ist das hauptsächlichste. Hcmmniß. Sieht man aber näher zu, so erscheint, dies doch mehr als ein unklares Gefühl und als ein Vorurtheil mit wenig sachlichem Grund, das aus Parteitaktik — durch Schlagworte wie „Bcrpreußung", „Mediatisirung", „Ein gemeindung" — aufgestachelt wird. Seit Jahrzehnten macht die Agitation aus der Eisenbahngemeinschast einen Popanz, als ob damit Ehre und Seligkeit verspielt werde. Schon der bloße Anschluß an sich soll staatsrechtliche Unterordnung, jede Art von Vereinbarung von vorn herein eine Art Landesverrath bedeuten. Jndeß kommt es in erster Linie darauf an, daß in dem Staatsvertrag die Rechte und Beschränkungen, die jeder Vertrag mit sich bringt, nicht in einseitiger Weise blos dem einen Tbeil Vorbehalten oder auferlcgt werden, sondern daß eine ge wiss« Gleichberechtigung bestehen bleibt. In zweiter Linie fragt es sich: In welchem Zusammenhang steht der Eisenbahnbesitz mit der politischen Selbstständigkeit eines Landes? Und welche Stücke der Eisenbahnsouveränität sind von thatsächlichem Werth für diese Selbstständigkeit? Diese Frage erweist sich für die Massenagitation schon deshalb als besonders geeignet, weil der Begriff „Souveränität" Verwirrung und unzutreffende Voraus setzungen hcrvorruft. Tendenziös sucht man die mittel staatliche Souveränität und das damit zu bringende Opfer in übertriebener Weise aufzubauschen. . . . Faßt man jedoch das Schreckgespenst der „Mediatisirung" näher ins Auge, so findet man zunächst, daß der Eisenbahn besitz und Eisenbahnbetrieb mit der Souveränität über haupt nichts zu thun hat. ES giebt mächtige Staaten mit reinem oder mit gemischtem Privatbahnsystem. Sind etwa England, Frankreich, Italien in ihrer Souveränität geschwächt, weil sie noch der Staatsbahnen entbehren? War in Preußen die Staatsgewalt etwa weniger souverän, als dort noch die Privatbahnen existirten? Im Reich selbst haben wir verschiedene Staaten, durch deren Gebiet eine auswärtige Staatsbahn läuft, so vor Allem die thüringischen Staaten und die hohenzollernschcn Lande; was haben diese Staaten an ihren Hoheitsrechten aufgegeben, als sie eine Art Eisenbahngemeinschast mit der auswärtigen Staatsbahnverwaltung cingingen? Augenscheinlich nichts. Dementsprechend ist auch der um gekehrte Fall denkbar, baß Württemberg sich an die preußische Staatsbahnverwaltung anschließt, ohne daß die staatliche Hoheit geschmälert würde. In Zetten des UebergangS, wie der gegenwärtigen, kommt eine Regierung oft in die Lage, mit der herrschen den VolkSstimmung in Widerspruch zu gerathcn. Re gieren heißt voraussehcn und die Lehren der Geschichte zu beherzigen und anzuwenden. Das Volk hängt an dem Hergebrachten und ist, weil ihm das Verständnis, für die wirthschaftltche und politische Entwickelung abgeht, nie dazu bereit, wegen einer fernen Möglichkeit ein kleines Opfer zu bringen, um das Ganze zu retten. Sache der Regierung dagegen ist, den Gang der Entwickelung zu überschauen, sich auf die im Stillen Heranwachsenden gröberen Anforderungen zu rüsten, rechtzeitig verlorene Außenposten aufzugeben und nicht die Kräfte unnütz zu zersplittern. Ueberschaut man die bisherige wirtschaft liche Entwickelung des 19. Jahrhunderts und ihre Tendenz, so bietet sich von selbst eine Lehre aus der Ge schichte des Zollvereins der beißiger Jahre dar. Wie heute, so versuchten die Mittelstaaten auch in den zwanziger Jahren, sich Preußen in einem Sonderbund entgcgenzustcllcn. Sie sahen sich aber schließlich durch die natürliche Lage der Verhältnisse gezwungen, zu dem Ge füge der nationalen Zolletnigung, auf die Preußen schon durch die zerrissenen Linien seiner Grenzen hingewiesen war, den Schlußstein zu bilden. Im Jahre 1828 gewann Preußen den ersten deutschen Mittelstaat, das^Groß- herzvgthum Hessen; es wollte, wie der hessische Staats rath Hofmann seiner Regierung berichtete, „zeigen, daß sich die angrenzenden Staaten ohne alle Gefahr für ihre Selbstständigkeit mit ihm auf Unterhandlungen einlassen könnten, und daß es nicht so unfreundlich und unnach barlich sei, wie es den Anschein habe". Dabei gewährte es die Bewachung der gemeinsamen Grenzen durch Landesbcamte, die gegenseitige Controle der gemeinsamen Zollverwaltung und die Vertheilung der gemeinsamen Einnahmen nach bestimmten vereinbarten Grundsätzen. Genau denselben Weg hat Preußen jetzt wieder ein geschlagen, als cs am 23. Juni 1806 mit demselben Hessen den unkündbaren Vertrag über die preußisch-hessische Eisenbahngemeinschast abschloß. Wie der preußisch- hessische Zollvertrag von 1828 den Grundstein für den deutschen Zollverein gebildet hat, so dürfte dieser Eisen- bahnvertrag die Grundlage für die deutsche Eisenbahn gemeinschaft werden. Wägt man die wirthschaftlichen Interessen, die mit Macht auf einen Vertragsabschluß mit Preußen hin treiben, und die ihnen entgegenstehenden politischen Be denken gegeneinander ab, so erscheint — man mag die letzteren betrachten, wie man will — die heutige Selbst ständigkeit als eine lediglich formale, während sie durch den Anschluß materiell nicht gemindert, sondern im Gegen- theil erhöht würde. Die Hauptsache ist, daß sich unsere Verwaltung den neueren Anforderungen gewachsen zeigt. Die Garantie hierfür kann ihr nur der Anschluß an ein großes, beherrschendes Machtgebiet verschaffen. Wenn man in dieser kühlen Weise, fernab von Partcileidenschast und Voreingenommenheit, wie es in einer so ernsten Sache Pflicht ist, die erhobenen Bedenken prüft, so er kennt man, wie wenig stichhaltig sic sind. Aus dieser Er kenntnis« aber muß man auch den Muth haben, die Eon sequenzen zu ziehen. Württemberg ist 1833 unter Ver zicht auf gewisse Rechte dem Zollverein bcigctrctcn, gewiß zu seinem Vortheil. Es hat dann im Jahre 1870 im Interesse des großen Ganzen weitere Sonderrechte auf gegeben. Sollte cs jetzt in einer Angelegenheit, die wohl auch im Interesse Deutschlands, noch mehr aber im Interesse Württembergs selbst gelegen ist, ein nur schein bares Opfer scheuen? Es ist kein Geringerer, als unser Landsmann Fr. List, der diesen Gedanken der Rück wirkung der nationalen Gcsammtkraft auf den Einzelnen und auf den Einzelstaat unaufhörlich betont hat; jedes Opfer für eine gesunde Entwickelung des Ganzen, sowie für das Gedeihen von Deutschlands Handel und Industrie findet immer wieder seinen Ausgleich. Und dieser Er fahrungssatz gilt namentlich für den Eisenbahnverkehr." Deputirtenkammer, Armee und Klerikalismus in Frankreich. Ll Als zwei Männer, die vordem tm Senat und der Deputirtenkammer ihre scharfanttklerikale Gesinnung be- thätigt hatten, Milgiedcr des neuen französischen Mini steriums wurden, wußte man, daß es an einer antikleri kalen Action der neuenRegierung nicht langefehlen würde. Dao Ministerium Combes kündigte denn auch alsbald die strenge Durchführung des Vereinsgesetzes und neue Maß regeln gegen den Klerikalismus an. Es blieb auch nicht blos bei Worten: Ministerpräsident Combes wies die Präfecturen an, im Sinne des Vereinsgesetzes geistliche Niederlassungen, welche den Anforderungen des Gesetzes Widersprüchen, zu schließen. Wußte manalso alsbaldüber dieHaltungdesneuenMini- steriums Bescheid, so war man sich nicht so ganz klar über die Stellungnahme der neuen Kammer. Denn der Mehrheit dieser Kammer gehörte die sogenannte „demo kratische Linke", die Gruppe Jsambert, an, deren Zuver lässigkeit nicht über jeden Zweifel erhaben war, und die stark genug war, die Mehrheit in die Minderheit zu ver wandeln, und so das Ministerium zu Falle zu bringen. Daß aber diese Gruppe in k i r ch e n p o li t i s ch c r Hinsicht mit der Regierung übereinstimmt, hat sie dieser Tage bewiesen, indem sie in einer Kractionssitzung ein Programm annahm, das die strenge Durchführung deS VereinsgeseyeS und die Aufhebung des Gesetzes Falloux, das die geistlichen Schulen begünstigt, verlangte. Diese Kundgebung fand am Vorabende des 4. Juli statt, der ein schwarzer Tag für die „Schwarzen" werden sollte. An diesem Tage wurde das Ministerium wegen der Schließung von weit über 100 Congregationsschulcn von der Rechten auf das Heftigste angegriffen. Die Kcnntniß von dem Beschlüsse der Gruppe Jsambert stärkte natürlich dem Ministerpräsidenten, der dadurch der Mehr heit gewiß war, gewaltig den Rücken, und so gab Herr Combes dem Interpellanten Cvchin eine Antwort, die an Schärfe nichts zu wünschen übrig ließ. Er übernahm nicht nnr die Verantwortung für die Schließung der Schulen, er verkündete nicht nur die feste Absicht der Ne gierung, jeden Widerstand des Klerikalismus gegen die Suprematie des Staates zu brechen, sondern er kündigte gleichzeitig neue, energische Maßregeln an. Ter Minister präsident begnügte sich also nicht mit der Abwehr, sondern ging gleich zur Offensive über. Diese Schneidigkcit wurde sofort belohnt, indem die Kammer mit einer Mehrheit von nahezu hundert Stimmen den öffentlichen Anschlag der Rede beschloß. Nun möchten wir diesen Anschlag nicht zu hoch bc- werthen; man erinnert sich jenes nahezu einstimmigen AnschlagSbeschlnsses der berühmt gewordenen Rede Cavaignac's zur Zeit der Dreyfus-Wirren, und man er innert sich auch, wie binnen weniger Monate der Ruhm dieser Rede sich in eine grenzenlose Blamage um wandelte. Immerhin aber kennzeichnet der Kammer beschluß den festen Willen, öffentlich vor dem ganzen Lande die antiklerikale Gesinnung des Ministeriums und zugleich oer Kammcrmehrheit zu bekunden. Daß diese antiklerikale Richtung von Regierung und Kammer auch auf die Armee zurückwirken muß, ver steht sich bei den politischen Verhältnissen in Frankreich von selbst. Wenn Generaloberst von Loö in seiner Bonner Rede beklagt hat, die gegenwärtige Richtung der fran zösischen Regierung gefährde die Einigkeit des fran zösischen Officiercorps, so weiß der General mit der Gc- Feuilleton. Weise und klug. Eine Betrachtung von Georg Hiller. NaMrud vkrtotrn. Wenn alle Welt verreist, warum soll man dann nicht som Reisen sprechen? ES plaudert sich über das Reisen immer am hübschesten zu Hause, wenn man von seinen Fahrten erzählt oder wenn man sich neue vornimmt und, mit -em Reisehandbuch in der Hand, in Gegenden schwelgt, kaum kletterbare Steige mit affenartiger Geschwindigkeit durchmißt und auf Tage und Stunden seinen Reiscplan zu recht macht. Wir wissen ja Alle, daß solchePläne nicht immer eingchalten werden können, daß sie durch Regen und Sturm. Sonnengluth und Gewitterschwüle, aber auch durch die Entdeckung einer kühlen Quelle, die etwas mehr als krystallllares Naß spendet, oder angenehme Reise bekanntschaft geändert, ja ganz aufgehoben werben. Weise und vielgereiste Menschen machen sich daher auch nur einen Plan in Umrissen, sie halten sich im Großen und Ganzen nur an ihre Billets und lasten cs sich nicht ansechten, wenn sie einmal einen Punct nicht berühren, der auf ihrem Wege verzeichnet war, den sie aber gern schwimmen lasten, weil er schließlich für sie einen Umweg bedeutet. Aber die weisen Menschen halten mit den klugen die Waage. Klug nennen sich alle Die, die einen festgestellten Plan bei sich tragen, die zu Hause auf die Minute ihre Tour ausrechnen, und die auch misten, welche Kosten ihnen die Reise macht. Mit Hilfe des Handbuches rechnen sie Speise und Trank, Wohnung und Fuhrwerk, Trinkgeld und Reparaturen ans, und mit der Peinlichkeit des Ober rechnungshofes tragen sie jeden Abend, ermüdet und halb im Schlafe, ihre Ausgaben ein, ziehen die Bilanz und freuen sich über jeden ersparten Groschen, ärgern sich über jeden mehr verausgabten Pfennig. Die Klugen nützen auch die Reise ganz aus. Mährend der Weise nach eines Tages Last und Mühe, nach Anstrengungen, die er sich zu Hanse im Sommer kaum in einer Woche auferlegt, es sich auch einmal gemüthltch macht, ein WirthshauS aufsucht, Rast hält und einen guten Trunk thut, legt sich der Kluge schlafen, steht in der frühesten Frühe auf und beginnt eine Klettertour. Der Weise befreundet sich mit den Einge borenen, er sieht sich die Menschen an, und hier und da glückt es ihm, aus einem Bewohner eine neue Anschauung herauszuholen, Urtheile über Land und Leute, über die Welt im Allgemeinen und die Reisenden im Besonderen. Er findet etwas Neues in dem fremden Menschen und läßt seine Persönlichkeit auf sich einwirken. Er fragt nach Diesem und Jenem und erhält zu seiner Verwunderung Ausflblüsse, die er sich niemals träumen ließ. Man erzählt ihm von der Noth der Gegend, von der Armuth der Be wohner, von der Kärglichkeit ihrer Nahrung und von den traurigen sittlichen Zuständen. Während der Kluge nur die Oberfläche des fremden Lebens kennen lernt, dringt der Weise in dasselbe ein. Der Kluge kennt den Oberkellner, den Zimmerkellner, den Ptccolc oder daS Schänkmädchen und das Stubenmädchen. Er sieht sie sauber gekleidet und gut genährt, freut sich, daß die Luft ihre Wangen frisch macht und schließt von seiner lablo ck'stöto aus die Küche der Eingeborenen. Der einheimische Wein und das einheimische Bier erscheinen ihm in ihrer Güte als eine prächtige Zugabe der Gegend, üben auf ihn einen prickelnden Reiz aus, und wenn er nicht daheim sein Geschäft hätte, so möchte er wohl hier Hütten bauen. Mit dem Morgengrauen verläßt er das gastliche Obdach und steigt bergan oder bergab, schaut auf seine Karte, schaut auf sein Buch, berechnet die noch zurückzulcgenden Weg stunden, schaut noch einmal die Gegend an und freut sich, daß er diesen Weg wählte, denn er ist schön und inter essant. Hat er den Postanschluß versäumt, was jedoch selten vorkommt, dann eilt er mit Windeseile auf Schusters Rappen davon, und weder glühende Sonne, noch strömen- derRegen kann ihn von seincmBorhaben abhaltcn. Welche Wonne, wenn er sein Ziel erreicht hat! Auf dem Gipfel ist zwar sehr wenig ober gar keine Aussicht, indessen, er tröstet sich, das kommt oft vor; er ist wenigstens oben. Ist aber der Himmel blau, vergoldet die Sonne die Spitzen der Berge, läßt sie den Firnschnee in tausend Funken glitzern, dann schwellt sein Her- vor Freude, dann nimmt er sein Fernrohr und freut sich, wenn er jeden einzelnen Pnnct, der auf der Karte verzeichnet ist, entdeckt, wenn er sich orien- tiren kann, und dann eilt er, so schnell ihn seine Füße tragen, wieder weiter, um von dem guten Wanderwetter soviel als möglich zu prositiren. Zuweilen läßt er sich auch wiegen, und wenn er ein Pfund weniger wiegt, freut er sich närrisch, schnallt den Leibriemen enger und gelobt sich, nur Wafler zu trinken, denn Trinken macht fett. Der beste Wein ist ihm zuwider, da» beste vier sird verachtet, denn mäßig leben, ist klug leben. So stürmt der Kluge durch die Welt. Kein Berg ist ihm zu hoch, kein Wasser zu breit, keine Schlucht zu eng, kein Thal zu tief, er nimmt alles mit der Gcnugthuung und Freude, die redliche Arbeit gewährt, schreibt Ansichtskarten über Ansichtskarten, und die Freunde daheim sperren die Augen auf, ob der Leistung und bei ihnen steigt der Freund gehörig in der Achtung. Wozu viel Schlaf? der Kluge weiß, das Schlaf dumm macht, man kann sich so schnell das überflüssige Schlafen ab gewöhnen. Man muß nur den energischen Willen haben, dann ist man mit fünf und sechs Stunden zufrieden und dabei geht auch das faule Fleisch zum Teufel. Anders der Weise. Wenn er auf seiner gemüthlichcn Wanderung ein schönes Plätzchen entdeckt, läßt er sich von ihm gern zur Rast einladen. Da sitzt er dann am Bergcshang und läßt sein Auge in die Runde schweifen. So weit, wie bas des Klugen, der auf kahler Felsenhöhc steht, reicht es freilich nicht, so majestätische Bilder zaubert es ihm nicht Tag für Tag vor, aber lieblich sind die Ein drücke, die er empfängt und fester prägt sich ihm Alles ins Gedächtniß ein. Das schmucke Kirchlein, die rothcn Dächer unter den Eichen und Buchen, der murmelnde Fluß stimmen seine Sinne zum harmonischen Klange. Der Wasserfall rauscht ihm ewige Melodien vor und gern kehrt sich sein Auge in sein Inneres. Er unterhält sich mit sich selbst, er läßt sein Leben an sich vorbeiziehen, Er innerungen werden wach, die lange geschlummert, er fühlt sich seelisch als ein Anderer. Sein Gcmüth beruhigt sich, er sieht Freude und Leid, Wohlsein und Sorge in abgetöntem Bilde, er wird zufrieden mit sich selbst. Auch das Kleine beobachtet er. Nicht nur der Mensch ist ihm ein Studium, auch das Thier. Wozu er zu Hause so selten oder nie kommt, hier findet er Muße und Gelegenheit, den Flug der Vögel zu verfolgen, ihren Stimmen zu lauschen, kein Käfer, kein Wurm ist ihm zu gering, um nicht sein Treiben und sein Thun zu beobachten und sich daran zu erfreuen. Und findet er einen fröhlichen Menschen, bei dem die Saiten des Gemüths gleich klingen, so schließt er sich ihm an und wandelt mit ihm die Straßen fürbaß. Man macht sich gegenseitig anf die Schönheiten aufmerksam, ein schöner Baum, eine schöne Felsenpartic laden zum Halt ein, und während die Klugen im Eilschritt vorübcrziehen, stehen die Weisen und bewundern im Ein zelnen die Große der Natur. Und wenn die frische Luft oder heißer Sonnenbrand einen eigenthümlichen Reiz in der Kehle erzeugt, wenn die Magenwände sich gegenseitig reiben, dann schaut er sich um nach einem gemüthlichcn Tische unter einer Linde oder in einer Weinlaube, dann macht er es sich bequem und mit Behagen schlürft er das rothe oder das gelbe Naß und mit Kennermiene ver gleicht er die Gabe des Bacchus oder Gambrinus an dieser Stätte mit der am vorigen Tage. Dann giebt ein Wort das andere, gleichgestimmt tauscht man seine Ge danken und Schicksale aus. Oder ist der Wanderer allein, dann sieht er im Becher die Gesichter seiner Lieben daheim und mit der Beschränkung eines Weisen leert er ihn auf ihr Wohl. Freilich, da oben steht das Kreuz, zu dem er noch hinauf will, ganz in der Ferne zwischen hohen Felsen lugt die Schutzhütte heraus, die sein Ziel ist und dort oben befindet sich schon der Kluge, rüstet sich schon zum Ab marsch. Auch er, der Weise, wird das Ziel noch erreichen, aber später, er wird auch nicht so viele Ziele sich stecken, wie der Kluge, denn sein Sinn geht auf Erholung, nicht auf Anstrengung. Er sicht nur einen Theil dessen, was der Kluge sieht, und doch sieht er mehr, wenn er wirklich weise ist. Das, was er sieht, behält er auch, das, was er an Eindrücken empfängt, bewahrt er sich. Weise und Kluge auf der Reise, auf der Wanderung. Nicht immer lasten sie sich scheiden, die Grenzlinien ver wischen sich, und heute erscheint der klug, der morgen weise ist, heute ist der weise, dem morgen sein Plan besondere Klugheit vorschreibl. Nicht jedes Temperament eignet sich zum Weisen oder zum Klugen, glücklich, wer die richtige Mischung hat, wer von dem Weisen nicht zu wenig und von dem Klugen nicht zu viel an sich hat. Glücklich Der, der seine Ferienwanderung al» eine Erholung und nicht als eine körperliche Arbeit ansieht, glücklich Der, der nicht ängstlich um ein Pfund seines Gewichtes schachert, der, ein zweiter Shylock seinem Leibe, das Messer der Strapaze immer gezückt hält, um gegen sein Reisegeld sein Fleisch cinzutanschen; freilich auch glücklich Der, der im frohen Wandern, in lungen- nnd rttckgratstärkender Bewegung seine Kraft erprobt und die Gewißheit findet, daß sein Körver noch kräftig und stark ist, noch nicht morsch und schwammig. Glücklich Der, der zu gleicher Zett weise und klug ist, der auf der Reise die Fröhlichkeit des Geistes steigert und die Gesundheit dcö Körpers kräftigt.
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