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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 17.07.1902
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-07-17
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19020717014
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902071701
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902071701
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1902
- Monat1902-07
- Tag1902-07-17
- Monat1902-07
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Bezugs.Preis der Hm»Plerprdttioll oder deu im Stadt. be»irk und d« Bowrt« «richtet« il at« gabestell« abgeholt: vierteljährlich ^6 L.5L — zweimaliger täglicher Zustellung tu» Hau- 5.50. Durch dl« Post bezöge» für Deutschland u. Oesterreich vierteljährlich ^»6, Pir die übrige» Länder lant ZeitnugSprei-ltste. Ne-ilction und Erveditto«: Johanni-gaffe 8. Fernsprecher 153 und LLL. FUialOUpedM»««» r Alfred Hahn, Bachhandlg, UaiverM1-str.S, L Lisch«, «atharinwstr. Ich «. «Sai-Spl.7- Hlmpt-Miale Vre-deur Strehleuexftxaße ch Ferustnecher Amt l Nr. L71A Hau-t-Miale Lerlin: KSniggrSherstra-e 116. Fernsprecher Amt VI Rr. SSSA Nr. 358. Morgen-Ausgabe. MMr. TaMM Mzeiger. ÄmLsvlatL SÄ Königlichen Land- nnd Amtsgerichtes Leipzig, -es Rathes und Votizei-Ämtes -er Lta-t Leipzig. Donnerstag den 17. Juli 1902, Anzeigen-Preis die 6gespaltene Petitzeile 25 H. Rrrlam«» unter dem RedoctioaSstrich ftgrspalte») 75 vor deu FamUtennach» richt« (ü gespalten) KO H. Tabellarischer und Ziffernsatz entsprech«- höher. — Gebühr« für Nachweisungen und Offertenaunahm» LS H («Lei. Porto). Extra-Beilagen (gefalzt), vnr mit der Morgeu-Au-gab», ohne Postbesörderung SO.—» mit Postbesörderung 70e-> Anuahmeschluß für Anzeigen: Abeud-Au-gaber Vormittag« IO Uhr. Mor-eu-La-gab«: Nachmittag» 4 Uhr. Anzeige» stad stet» an dl« Expedition zu richt« Die Expedition ist Wochentag- nuuuterbroch« geöffnet von früh 8 bi- Abend» 7 Uhr. Druck und Verlag von E. Polz la Leipzig. S6. Jahrgang. Zur Kechtsunficherheit in Deutschland. Auch in weitere Kreise ist die Bewegung gedrungen, welche von Seiten der Arbeitnehmer im gärtnerischen Be rufe ins Leben gerufen wurde, und welche die Unter stellung der Gärtneret unter die Gewerbeordnung zum Endziel hat. Iu mehrfachen Eingaben an -en Reichs tag, in Denkschriften und öffentlichen Bersammlungen hat der „Allgemeine deutsche Gärtnerverein" für die Be handlung der Gärtnerei als Gewerbe Propaganda ge- macht und dabet darauf hingcwiesen, daß gegenwärtig ein Zustand der Rechtsunsicherheit in Deutschland geschaffen sei, der den Beteiligten schabe, aber auch das ganze Ansehen der Rechtspflege herab mindere. Diese Meinung ist auch in der AuSschußfitzung der Gesellschaft für sociale Reform vom 6. Mat 1002 zum Ausdruck gekommen lvergl.: Die Rechtsverhältnisse im Gärtnergewerbe von M. v. Schulz und Franz Behrens, S. 6), und es ist auch außerhalb der Fachkreise von Inter- esse, sich darüber zu informiren, inwieweit eine solche Rechtsunsicherheit vorhanden ist. Thatsächlich wirb heutzutage zur Veurthetlung der Rechtsverhältnisse in der Gärtneret das allgemeine bürgerliche Recht, die Gewerbeordnung und auch die Ge- sindcordnung, herangezogen, und zwischen diesen Ge setzen gondeln die Urtheile der Gerichtshöfe hin und her, sich bald hierin, bald dorthin neigend. Nun hat zwar ein Erlaß des preußischen Ministers für Handel und Gewerbe vom 20. Januar 1902 der Rechts unsicherheit ein Ende bereiten wollen, in welchem ge sagt wird, daß Betriebe, die sich in -er Hauptsache auf -ie Production und den Verkauf selbsterzimener Blumen, Sträucher und sonstiger gärtnerischer Erzeugnisse be schränken, -er Landwirthschaft, Betriebe aber, in denen die feilgebotenen gärtnerischen Erzeugnisse nicht selbst ge wonnen werden, oder ein offener Laden besteht, oder eine Verarbeitung (Kranz- und Blumenbinderet) statt- findet, dem Gewerbe zuzuzählen seien. Aber auch dieser Erlaß hat keine Klarheit geschaffen, da die in ihm an geführten Merkmale in der Praxis in den meisten Fällen gemeinschaftlich zu constatiren sind, und in Folge dessen der Richter immer wieder vor einer offenen Frage steht. Die sogenannte Kunst- und Handelsgärt- nerei unterstellen Urtheile des Amtsgerichts Breslau, des Amtsgerichts Nixdorf, Amtsgericht Berlin II, Amts gericht Neustadt, Amtsgericht Düsseldorf u. s. w. der Ge werbeordnung. Aber schon das Amtsgericht I in Berlin entscheidet, daß ein Gehilfe bet einem Handelsgärtner nicht der Gewerbeordnung, sondern als landwirthschaft- licher Arbeiter den Vorschriften des bürgerlichen Rechtes unterstehe. Das Landgericht Düsseldorf aber desavouirt das dortige Amtsgericht, indem es seinerseits die Kunst- und Haudelsgärtnerei auch der Landwirthschaft unter stellt, wenn der Betriebstuhaber nicht überwiegend nur mit gekauften Gartenproducten Handel treibt. Das Landgericht zu Osnabrück aber sagt kurzer Hand, Gärtner seien überhaupt keine Gewerbegehilfen, sondern unter ständen als lanbwirthschaftliche Arbeiter der Dienstboten ordnung. Nicht minder tragikomisch wirkt der Wibersprurch der Entscheidungen hinsichtlich des Betriebes der Baum schulen. Da sagt das Amtsgericht Norden, daß ein solcher Betrieb ein landwirthschaftlicher, der in ihm an gestellte Gehilfe Landarbeiter sei. Das vorgesetzte Land gericht Aurich aber dreht den Spieß herum, und erklärt, die Baumschulencultur gehört zum Gewerbe und der darin beschäftigte Gärtner ist Gewerbegehilfe. Auch das Landgericht Frankfurt a. M. nimmt in solchem Falle Ge werbebetrieb an. Interessant gestaltet sich die Frage in Berlin. Das dortige Gewerbegericht sagt in einer Ent scheidung, daß Baumschulen zum Landwirthschaftsbetrieb, also zur Zuständigkeit der Amtsgerichte gehören. Das erkennt auch das Amtsgericht I in Berlin an, aber das Landgericht denkt anders und sagt: Vaumschulenbetrieb ist Gewerbebetrieb im Sinne der Gewerbeordnung, „da der Schwerpunkt dieses Betriebes in der Verarbeitung und Veredelung der Rohstoffe liegt". Nun wandert der Ge hilfe zum zweiten Male zum Gewerbegericht nnd ist in zwischen vielleicht in eine bittere Nothlage gerathen. Bis nun in allen diesen Fällen der Competenzconflict beigelcgt ist, entsteht für die betheiltgten Arbeiter, namentlich wenn es sich um ungerechtfertigte Lohnrück- haltungcn handelt, eine äußerst schwierige Lage. Mit der Landschaftsgäxtnerei ist es nicht anders. Sie wird aller dings überwiegend der Landwirthschaft zuertheilt, aber es fehlt auch nicht an Urtheilen, welche sie zum Gewerbe rechnen, und ein Erkenntniß des Landgerichts II in Berlin will sie weder als landwirthschaftltchen, noch als gewerb lichen Betrieb gelten lassen, sondern rechnet sie zur „bil denden Kunst". Am frappantesten tritt die herrschende Verwirrung bei der Fortbildungsschulpflicht der Lehrlinge zu Tage. Ist der Betrieb ein landwirthschaftlicher, so ist der Lehrling meist vom Fortbildungsschulzwange befreit, andernfalls ihm unterworfen. Da spricht sich das Kammergericht da hin aus, nur die Lehrlinge in hanbelsgewerblichcn Gärtnereien, sowie Kranz- und Blumenbindereicn seien fortbildungsschulpfltchtig. Das Oberlandesgericht Bres lau aber erkannte wieder in einer Entscheidung, daß auch die gewerbsmäßige Kunst- und Handelsgärtnerei zu den Landwirthschaftsbetrieben zu rechnen sei, wenn nicht vor wiegend fremde Erzeugnisse in den Handel gebracht wür den. Auf der einen Seite erfolgt Bestrafung, auf der anderen unter gleichen Verhältnissen Freisprechung! Wer soll sich schließlich aus diesem Labyrinth von Präjudicien noch herausfinden? In einzelnen Ortschaften, wie z. B. in Bremen, hat man dem ohne Weiteres durch die Begründung einer Gärtnerinnung, die seit 1899 freie Innung ist, abzuhelfen versucht, und diese Maßnahme hat sich in der That auch als segensreich erwiesen. (Vergl. Albrecht, Die socialen Rechtsverhältnisse der gewerblichen Gärtnereien in Deutschland, S. 33 ff.) Und in der That, geschehen muß in dieser Frage etwas, da eine Rechtsunsicherheit, welche, wie wir sehen, nicht abzuleugnen ist, jedem Staatswesen auf die Dauer zum Nachtheile gereichen muß. Fälle, wie der nach folgende in Bonn, müssen tiefes Mißtrauen gegen die Justiz in den minder urthetlsfähigen Laienkreisen Hervor rufen. Ein Gehilfe in einer Kunst- und Handelsgärtnerei erhält bei seinem Abgang am 1. Juni 1901 das Gehalt für Mai nicht ausgezahlt. Er wendet sich an das Gewerbe gericht, da Kunst- und Handelsgärtnerei als gewerbliche Betriebe anzusehen seien. Das Gewerbegericht weist ihn ab und erklärt sich für unzuständig, da auch eine Kunst- und Handelsgürtneret, wenn selbst producirt werde, land wirthschaftlicher Betrieb sei. Nun beginnt das schöne Spiel: „Kämmerchen vermiethen!" Der Gehilfe wendet sich vertrauensvoll an das Amtsgericht, aber siehe da, das Amtsgericht weist ihn auch wegen Unzuständigkeit zurück, da es „sich um eine Gewerbestreitsache handle, die vor das Gewerbegericht gehöre". Mit diesem Bescheid läuft nun der Gehilfe zum zweiten Male zum Gewerbegericht und das Gewerbegericht erkennt durch Urtheil vom 20. Juni 1901 abermals auf Abweisung wegen Unzuständigkeit. Mit diesem Urtheil — es wäre zum Lachen, wenn es nicht so tief beklagcnswerth wäre — wendet sich der Ge hilfe abermals vertrauensvoll an das Amtsgericht und dieses tritt jetzt in Beweisaufnahmen ein, auf Grund deren am 3. Februar 1902, also nach etnemJahre und acht Monaten, abermals ein Urtheil gefällt wird, daß das Amtsgericht nicht zuständig sei, sondern die Sache vor die Gewerbegerichte gehöre. Zum dritten Male geht der Kläger zum Gewerbegericht, und „des laugen Haders müde", kommt es schließlich hier zu einem Aus gleich. Daß ein solches Fangballspielen mit den Recht suchenden eine große Erbitterung schaffen mutz, liegt auf der Hand. (Vergl. Albrecht, DaS Recht des Gärtners, S. 4.) Es fragt sich nur, wie hier eine Aenderung zu schaffen wäre. Auch in Sachsen herrscht Zwiespalt. InChem - n i tz erklärt sich das Gewerbegericht zuständig für Kranz- und Vlumenbindereien, Blumenhandlungen, Kunst- und Handelsgärtnereien, Dccorationsgärtnerei, während Freiland - Blumengärtnereien, Landschaftsgärtncreien, Baumschulen, Samenculturen nnd Gemüfe- und Obst gärtnereien zur Landwirthschaft gezählt werden. In Döbeln erklärt sich das Gewerbegericht auch für die letzteren Betriebe zuständig. Dasselbe gilt vom Gebiete der Amtshauptmannschaft Dresden. In Glauchau er klärt sich das Gewerbegericht wieder in allen Fällen für unzuständig. Crimmitscha u verweist nur die Baum schulen in das landwirthschaftliche Gebiet, erklärt sich aber felbst bei Gemüsegärtnereicn im Gewerbegericht für zu ständig. Leipzig rechnet zur Eompctcnz der Gewerbe gerichte Kranz- und Blumenbindereicn, Blumen- und Samenhandlungen, die Kunst- und Handelsgärtncrei und die Dccorationsgärtnerei. Meerane unterstellt alle Zweige der Gärtnerei dem Gewerbegericht, Zwickau nicht einen einzigen. Das Gewerbegericht erklärt sich hier in allen Streitigkeiten, welche die Gärtneret berühren, für unzuständig. Diese Beispiele einer widersprechenden Praxis lassen sich beliebig vermehren. (Vergl. Albrecht a. a. O., S. 9—14.) Wir sind der Meinung, nachdem auch der oben er wähnte Möller'sche Erlaß keine rechtliche Klarheit hat schaffen können, wie die fortgesetzten sich widersprechenden Urtheile darthun, ist es an der Zeit, daß in der Gewerbe ordnung selbst eine Regelung hervorgerirfen wird. In dieser Beziehung läßt sich ein Vorschlag von Franz Behrens (Rechtsverhältnisse im Gärtnergewerbe, S. 29j aus, der zwischen dem feld mäßigen Gartenbau und der gewerblichen K-uust-, Zier- und Handclsgärtnerei unterschieden wissen will. Es wäre dann dem 8 6 der Gewerbeordnung eine Fassung zu geben, die etwa folgenden Wortlaut hätte: „Tas gegenwärtige Gesetz fordert keine Anwendung auf die Fischerei, den Gartenbau, mit Ausnahme der Kunst-, Zier- und Handelsgärtnerei u. s. w." In den Motiven wäre dann eine authentische Interpretation über diese Begriffe zu geben, und der felbmäßige Gartenbau wie die gewerbliche Gärtneret wären klar und sicher zu charakteri- sircn. wobei natürlich Sachverständige Mitwirken müßten. Aus dieser Bestimmung und den Motiven dazu muß klar hervorgehen, wohin Bindereien, Blumen- und Samenhandlungen, Kunst- und Hanbelsgärtnereien, Freiland - Vlumengärtnereten, Landschaftsgärtnereien, Dccorationsgürtnereien, Baumschulen, Samenculturen, Gemüsegärtnereicn, Gutsgärtnereien, Gärtnereien der Heilanstalten, Theater, Gastwirthschaften und Gärtnereien in gemeindlicher und staatlicher Regie zu rechnen sind. Der heutige Rechtszustand ist der der Nechtsunsicher- heit. Und jede Rechtsunsicherheit widerspricht den Pflichten eines staatlichen Gemeinwesens. K. kr. Deutsches Reich. A Berlin, 16. Juli. (Socialpolttische Erfah rung en.) Die Krankencassen werben von selbst in das Gebiet der Socialpoltttk gedrängt. In Berlin stellte der Rendant Cohn die ersten statistischen Erhebungen über die Wohnungsverhältnisse bet 1128 Erkrankten an. Dabei er- gab sich, daß von sämmtlichen Lungenkranken nur ü,88 Pro cent einen eigenen Schlafraum zur alleinigen Benutzung hatten. Ein anderes Mal wurde nachgewiesen, daß von 657 Erkrankten 59 (9 Proc.) ihr Bett mit einer anderen Person theilen mußten. Seitens der Straßburger Orts- Krankenkasse wurde ermittelt, daß von 2624 Personen, die der Cafse angehörten, nur 330 (13 Proc.) eine eigene Schlaf stelle hatten. Tas gewonnene Material wurde gesichtet und der Behörde unterbreitet, und die amtlich eingesetzte Wohnungsinspection ging darauf sehr energisch gegen zahlreiche säumige Hausbesitzer vor. In einigen Theilen Deutschlands wird durch Baugenossenschaften, deren Woh. nungen augenscheinlich besser und um 20 Proc. billiger sind, als die Privatwohnungen, dem ärgsten Wohnungs elend theilweise abgeholfen. Die Landesversicherungs anstalt Hannover marfchirt auf diesem Gebiete an der Spitze. Sie hat 12 620 175 für den Wohnungsbau auf gewandt, Berlin nur 4 139 000 und Schlesien sogar nur 128 600 — Die Landes-Versicherungsanstalten können Feuilleton. Der alte Jude. Erzählung von N. Garin. Aus dem Russischen übersetzt von stuck. I. Hotz. Nachdruck »«rbotni. Ein feiner, dichter Regen fällt vom Himmel herab und hüllt die Kerne in einen nassen Schleier ein. Ein heftiger Wind packt die Bäume und beugt sie zur Erde, und die nassen, gelblichen Blätter fallen zu Boden. Lin wahrer Herbsttag. Ringsum dehnen sich schmutzige Felder aus, auf deren dunklem Boden feuchte Getreidehaufen liegen. Der Regen erzählt den Besitzern dieser Getreidehaufen daS böse Märchen von den verfehlten reichen Hoffnungen. Nichts wird zurückbleiven! — Und der alte Jude — groß, schwerfällig, schmutzig und gebückt — blickt mit traurigem Auge hinter dem Regenschirme hervor. Leichten Schrittes ziehen die Pferde da» alte, sich nach einer Seite neigende Korbwägelchen r der durchnäßte Kittel de» Kutschers glänzt wie Seide, und unaufhörlich rieselt das Wasser von seiner Mütze aus feinen Rücken herunter. Er selbst aber — -er Kutscher — sitzt unbe weglich wie eine Bildsäule. „Ach — ach — ach", seufzt der alte Jude und versinkt in -ie Nebelträume seiner Seele. Auch -ort herbstelt eS. DaS alte, unnütze Leben nähert sich nun seinem Ende. Ihm ist von diesem Leben nichts zurückgeblieben, als da- Bewußtsein, Laß er die Gesetze befolgt, das Verbotene nicht gegessen und den Sabbath geheiligt habe.. . . „Schlecht ist eS mir gegangen, murmelt er vor sich hin, „so schlecht, daß man es sich ärger nicht vorstellen kann, und trotzdem wirb eS noch ärger." DaS Unglück geschah, al- er aufhören muhte, Gel äuf Zinsen zu leihen. Die Kinder drangen darauf — sie sind gelehrt, seine Kinder — ach — ach —, eS schickt sich nicht, sagen sie. ... Da hat er sich ein Grundstück ge- kauft. . . . Die Sache ist bis an den Senat gegangen, eS handelte sich darum, ob ein deportirter Jude das Recht habe, in dem Deportattonsorte Boden zu erwerben. Der Senat bestätigte den Kaufvertrag. Und wie hätte er ihn auch nicht bestätigen sollen? Ein Mensch muß ja irgend wo leben. Er hatte etwas begangen und war verschickt worden. DaS Herz blutete ihm um die alte Heimath — dort war die Sonne anders, die Menschen an-erS. Seit- dem sind mehr als fünfundzwanzig Jahre vergangen, und er hatte eS endlich verschmerzt. Die fremde Gegen- ist ihm eine neue Heimath geworben. Er bat -ort sein Durchknmmen gefunden: er hat -en Kauf von Gütern vermittelt, Gelb auf Zinsen gegeben. . . . Thun denn bi« Russen nicht dasselbe? Der Russe ist noch ärger: der Jude ißt nichts Trefes, der Russe aber schluckt Alles mit sammt den Stiefeln herunter. . . . Sjemion Illarionowitsch hat ein Viertel Gouvernement adeliger Güter verschluckt und hat sich dabet nicht erwürgt: zweimal hunderttausend Dessjattuen (eine Dessjatine ca. ein Hektar) Boden besitzt er. . . . Er hat Wälder und Gärten vernichtet, wie ein Tartarcnchan gehaust, von den Bauern den dreifachen Pachtzins erpreßt, hat Alle an den Bettelstab gemacht, hat sie Alle geknechtet. . . . Ein Jeder verflucht ihn . . . Und wer verflucht ihn, den alten Juden? Weshalb sollte man ihm, dem alten Juden, fluchen? Etwa deshalb, weil er einer Gutsbesitzerin eine goldene Brosche ab gekauft hat, die sie, als Sjemion Illarionowitsch ihr ganzes bewegliche und unbewegliche Gut in Beschlag nahm, aus dem Schiffbruch gerettet hatte? Nnd wenn eS ihm gelang, vor der Versteigerung einen guten Käufer zu finden, bann fluchte Sjemion Illarionowitsch und war bereit, den alten Juden in Stücke zu zerreißen. „Diese Juden richten uns zu Grunde!" pflegte er dann zu schreien. Im ganzen Gouvernement giebt es aber kaum zehn Juden, deren gesammten Neichthum man um einen Hering kaufen kann . . . und doch ist das ganze Gouvernement vernichtet. . . . Wendest du aber dagegen etwa« ein, so will man die Wahrheit nicht hören. „Du willst krttisiren? Na, warte nur, Du verdammter Jude, mit Dir werben wir noch fertig werden . . ." Dann wuchsen die Kinder auf, sie haben viel gelernt, begannen für Zeitungen zu schreiben: da wurden die Anderen noch erboster, und Alles mußte auf seinen alten Kopf fallen. Da gab er alle Geschäfte auf, hat sich ein Grundstück erworben und wollte wtrthschaftcm wie sein Großvater eS einst gethan, als er noch in Wolhynien Güter ge pachtet hatte. Damals war'- noch ein Leben! Man brauchte die Erde nur ein wenig burchzupflügen, und prächtig wuchs daS Getreide aus. Ein Arbeiter bekam zwanzig Kopeken. . . . Da konnte man noch wtrthschaften. . . . Aber die Zetten haben sich geändert, Alle- ist theurer geworden und der bestellte Boden will nichts mehr hcrvorbringcn. . . . Auch leben jetzt ganz andere Leute, eS gelten andere Gesetze, die er gar nicht kennt. . . . Früher kam man zu ihm um Gelb, jetzt sucht er selbst nach Gelb — er findet aber ketnS. Das ganze Geld ist verloren, ver schwunden, und nirgends mehr zu sehen. . . . „Ach — ach — ach!" So dreht sich Alles auf der Welt. Als er fünfundzwanzig Jahre in der Verbannung war, rief ihn eines Tages -er Präsident des Kamera!- Hofes zu sich. „ES ist Ihnen Gna-e zu Theil geworben. . . . Sin Manifest . . . Amnestie ... Sie sind nicht mehr Depor. tirter. Es werden Ihnen alle Rechte wieder verliehen und Sie müssen darum jetzt zur Grenze Ihrer Ansässig keit zurückkehren." Er lacht dazu. . . . „Ich habe aber ein Grundstück erworben. . . . Mein ganzes Geld liegt im Boden, in der Wirtschaft. Wer wird denn jetzt mein Grundstück zum richtigen Preise kaufen wollen, da man weiß, daß eS zur Versteigerung kmnmcn muß?" Die Polizei frägt nicht darnach. Er wollte sich als Kaufmann erster Gilde einschreiben, um das Wohnrecht zu erlangen,' auch das wurde ihm nicht erlaubt, den» er hatte einmal vor Gericht gestanden. Da ging er zu Sjemion Illarionowitsch. „Sjemion Illarionowitsch", flehte er ihn an, „der Prtstaw wohnt in Ihrem Hause; sagen Sic ihm, er möge mir erlauben, noch einige Zett hier zu bleiben, bis ich meine Geschäfte geordnet haben werde. Er wird es Ihnen gerne thun . . ." „Ich kann hier nichts thun", antwortete Sjemion Illarionowitsch, „und wenn ich es auch könnte, ich thäte es nicht. Wie schreibt -och Dein weiser Salomo? Schlage den Feind. Du aber warst nie mein Freund und wirst es auch nie sein." Der alte Jude ging traurig fort. Und nun, verstohlen wie ein Dieb, kehrt der alte Jude zu seinem Besitz zurück. Unerwartet will er dahin kommen, will sich von Allem überzeugen, will selbst daS Getreide einhetmsen und selbst Alle« verkaufen. . . . Am Ende hat der Verwalter schon geerntet, um seine Taschen rascher füllen zu können. Vielleicht hat er schon Alles verkauft oder verkauft eS jetzt, diesen Abend noch, im selben Augenblicke, da er sein Haus betreten wird? ... „Ach . . . fahr' schneller, Du fährst ja wie ein Todter. . . . Und Deine Pferde sind so mager, und Dein Wagen rüttelt so . . ." Der Wagen rüttelt und seine Leber schmerzt ihn; der Arzt hat ihm das Fahren verboten, hat ihm Ruhe ver- ordnet. Aber nun — in seinem vierünbsiebzigsten Jahre — ist er zum zweiten Male deportirt worden und kann keine Ruhe finden! . . . Spät Abends betritt der alte Jude ganz krank sein Haus. Er schimpft nicht auf den Ver- walter, er läßt ihn nicht einmal zu sich rufen. Er stöhnt vor Schmerz in dem kalten, düster» Hause. Sein Stöhnen verklingt in den hohen Räumen, die bren nende Kerze unterbricht kaum die Dunkelheit deS großen, leeren Zimmers. Endlich schläft der alte, gebrechliche Jude stöhnend und ächzend ein. Er träumt einen bösen Traum: Jemand bricht die Thür ein, will ihn bestehlen. Vor Schrecken erwacht der alte Jude und kann nicht mehr einschlafen; er horcht: man klopft wirklich an seiner Thür, „Wer ist -ort?" „Machen Sie auf, die Polizei ist da!" „Was soll das Heiken? Weshalb die Polizei?" Die Thür ist geöffnet. Leute, Polizetmänner, stehen vor derselben. „Zeigen Sie Ihre Erlaubniß zum Herkommen." „Was soll bas heißen? Was für Erlaubniß? Ich bin hier der Herr und habe das Recht . . „Kleiden Sie sich an." „Warum ankleiden? Weshalb anklciden?" „Sie müssen weg von hier. Der Wagen wartet schon." „Wa—as?! Marsch hinaus! Ich werde nicht weg fahren !" „Dann werden Sie mit Gewalt angckleibet werden, die Leute sind schon dazu da." „Was für Leute? Ich bin ein kranker Mann. . . . Ich werde beim Gouverneur Klage führen, ich werde dem Minister telegraphtren! Was glauben Sie denn? . . ." „Man wird Sie mit Gewalt ankleiben, und dann geht cs Ihnen noch schlimmer!" „Was soll das heißen?! Da hast Du, nimm . . ." Und der alte Jude kriecht barfuß, wankenden Schrittes, zum Bette, zieht unter -em Kissen einen schmutzigen Geld beutel hervor^ entnimmt demselben einen Rubel und reicht ihn dem Polizeimanne. „Ihr seid Zeugen, er will mich bestechen", wendet sich dieser zu den Bauern. „Was soll das heißen?" wiederholt mit tonloser Stimme der alte Jude, verworren um sich blickend: „Ich bin krank, bin alt . . . Herrgott, wcfür dieses Alles?" Er fällt auf einen Stuhl, die Bauern und die Polizei männer senken schweigend den Kopf. „WaS können wir machen? Das Gesetz . . ." In der Thür zeigte sich jetzt der rothhaarigc Ver walter. Der Anblick dieses Manne- bringt den Juden in einen wüthenden Zorn. „Du bist es also, Dull Du hast es gemacht!! Mein Gelb wollen sie nicht nehmen: Du hast mehr, um zu be stechen . . ." Und er überschüttet den' Gintretenden mit Flüchen und Schimpsworten. „Und Ihr Alle seid Betrüger, Blutsauger, Mörder*, schreit tu blinder Wuth der alte Jude. „Zieht ihn an!" commandirt der Polizcimann, der die Geduld verloren hat. Der alte Jude wirb angekletbet und zum Wagen hin untergetragen. Der Regen gießt in Strömen, der Wind heult, die Flammen der Laternen zucken, der Wind zaust an dem alten, grauen Barte und er trägt die letzten Worte des bavonsahrenden alten Juden fort: ..Aerger als der erbärmlichste Hund! . . . Auch dieser darf in feinem Loch verenden . . Dann hörte man nicht- mehr . . .
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