02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 20.06.1903
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1903-06-20
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19030620029
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1903062002
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1903062002
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
- Monat1903-06
- Tag1903-06-20
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Ztg.", der im wesentlichen folgendermaßen lautet: „Die Sozialdemokratie umtanzt noch immer jubelnd die BuudeSlad« ihres WahlerfolgS und übersieht io ihrer Herzensfreude ganz, daß sie für den UltramontaniSmuS gesiegt hat und dem Zentrum die Ernte in di« wohlgebauten Scheuern schafft. Der ganze Jammer der Zustände im deutschen Reichstage schreibt sich ja daher, daß wir kein« regier nngSfähige Linke haben. Wäre die Linke politisch gereift genug, Verantwortungen zu übernehmen und sich Staatsnotwendig- keiteu nicht zu versagen, so könnte man es dem Zentrum ruhig überlasten, ob es sich an der positiven Arbeit beteiligen oder im Schmollwinkel verharren will. Da jedoch auf der Linken eine öde Berdorrungspolitik herrscht, so klammert man sich bei den Fragen, die das Bedürfnis der Tageslüsung heischend aufwirft, an da- Zentrum. DaS Zentrum sagt zunächst nicht Ja und nicht Nein, sondern macht eine hohle Hand und wartet ab, ob etwas hineinfällt. Der Sieg der sozialdemokratischen Waffen bedeutet, daß wir wiederum auf fünf Jahre mit einem Reichstage zu rechnen haben, der durch seine unglück selige Zusammensetzung das Zentrum in die bevorzugte Lage versetzt, bei jeder wichtigen Abstimmung einen KaufpreiSzuverlangen. DieRückwirkung aus die Volksstimmung ist klar. Der Reichstag, der das Sehnen unserer Väter nach einer freien Volksvertretung erfüllen sollte, stürzt von seinem hohen Piedestal hinab in den Staub. Entmutigt ziehen sich manche Idealisten, die sich um ihre Hoffnungen, um den stolzen Glauben an den gesunden Men schenverstand der Bolksgemeinde betrogen sehen, aus dem politischen Leben zurück. Gleichzeitig greift in den Kreisen der Bildung eine stille, aber liefe Erbitterung um sich gegen jede Regierung, die schwach genug ist, auf Kosten der geistigen Freiheit dem Zentrum Zugeständnisse zu machen. Das Aergste wird man ja immer abwehren können. Ein Gewittersturm deutscher VolkSentrüstung würde jede offene und akute klerikale Mißwirtschaft Hinwegfegen. Aber schwer und fast unmöglich ist es, gegen die Verseuchung anzukämpsen, die sanft und geräuschlos auf Hintertreppen einschletcht. Dabei ist es vorläufig ausgeschlossen, das Zentrum in seinem Mandatsbesitz empfindlich zu treffen. Denn die Massen, die hinter der Zentrums sahne herziehen, sitzen ziemlich abseits von dem Strome der Kultur und werden von dem Wellenschlag der Volksbewegung minder stark berührt. Faßt man allerdings größere Zeiträume ins Auge, so tritt der Erfahrungssatz in Kraft, daß eine Weltanschauung, die, ver- lassen von der Mehrheit der Denkenden, langsam zum Paganismus hinabsinkt, allgemach auch unter den Masten ihre Anhänger ver liert. Doch das ist eine Tür, die in weiten Angeln hängt. Gewiß ist, daß die Sozialdemokratie Schuld daran hat, wenn wir In eine Zeit Hinringehen, in der man sich vor klerikalkonservativen Fußangeln hüten muß. Bei der Sozialdemokratie denkt man an Männer wie Bebel und Vollmar, aber auch an die große Schar der Zigarrenarbeiter, Budiker, Destillenwirte, welche berufen sind, die geistigen, politischen und wirtschaftlichen Interessen gewaltiger Wahl- kreise zu vertreten, obschon dies« persönlich vielleicht ganz achtbaren Leute kaum über den nächsten Zaun hinwegsehen. Und dabei sind gerade viele leitende Genosten in vormärzlichen Schulmeinungen erstarrt, die uns Kinder der modernen Zeit gar seltsam und fremd artig anmuten. Bei alledem hat die Sozialdemokratie sich gemausert und sie wird sich weiter mausern. Sie wird manche vertrackte Schrulle in die Ecke werfen, sie wird in der Agitation manches von der unmanierlichen Roheit und Rauheit abstrctsen, die heute noch abstoßend wirken. Aber sie wird eine einseitige Klassen partei bleiben, die in schroffstem Gegensatz zu den Prinzipien des Liberalismus steht und mit ihren Scheuklappen vor allem die Arbeiter schädigt, weil sie nicht den großen und vornehmen Standpunkt zu gewinnen weiß, daß der Arbeiter auf Gedeih und Verderb mit dem Wohl und Weh des deutschen GewerbsleißeS und der deutschen Volksgemeinschaft verkettet ist. So wird denn auf lange Jahre hinaus die Sozialdemokratie die machtvollste Schutzherrin der Reaktion sein." Die führenden Geister des Zentrums wissen daS gut genug, und wenn die „Germania" sür die Stichwahlen die Wahlparole „gegen die Sozialdemokratie" auszugeben zögert und der „Löwe von Zähringen" Wahlenthaltung im Kampfe zwischen Nationalliberalen und Zentrum in Baben empfiehl«, so geschieht dies nicht wegen des tz 2 des IesuitengesetzeS, sondern aus der Einsicht heraus, daß die Sozialdemokratie die macht vollste Schutzherrin der Reaktion ist. Und trotz alledem und alledem gibt es „freisinnige" Blätter, die kein besseres Mittel zur Bekämpfung der Reaktion zu kennen vorgeben, als Förderung der Sozialdemokratie bei den Stichwahlen! Die Miliz-Lüge. „Gegen den Militarismus" — das ist bekanntlich eine von der Sozialdemokratie besonders gern und eifrig ver wandte Kampfparole. An Stelle des stehenden Heeres soll dieMiliz treten. UndHerr Bebelist bekanntlich ver „berühmte" Miliz-Matador, der sür seine Idee milWort undSchrift unermüd lich eintritt. Man kann ruhig sagen: für „seine" Idee. Tatsache ist nämlich, daß hervorragendste sozialdemokratische Führer von der absoluten Unmöglichkeit, die Miliz einsühren zu können, von jeher bis auf den heutigen Tag überzeugt gewesen sind. Von den heutigen sozialdemokratischen Führern ist eS in erster LinieMax Sch ippel, der Unbefangenbelt genug besessen hat, die Miliz-Idee öffentlich ad absurdum zu führen. In den „Sozialisti schen Monatsheften", wie in der „Neuen Zeit" hat er 1899 eine Anzahl von Artikeln über diese Idee veröffentlicht. Aber innerhalb der Sozialdemokratie hat es noch eine unendlich höhere Autorität als Schippel gegeben, die die Notwendigkeit der stehenden Heere sür die bestehenden Staaten durchaus anerkannt, von der Miliz-Idee gar nichts gehalten und sogar der liberalen Opposition gegenüber der HeereSorganisation in der Konfliktszeit der sechziger Jahre wegen ihres anti militaristischen Verhaltens die schwersten Vorwürfe gemacht hat. Diese sozialdemokratische Autorität ersten Ranges ist Friedrich Engels, der einzige Sozialdemokrat, der sich anerkanntermaßen eingehend und nicht ohne Verständnis mit militärischen Fragen beschäftigt hat. Wir geben aus Engels» schen Schriften eia paar Zitate, die wir Artikeln aus dem Jahrgang 1899 der „Neuen Zeit" entnehmen. „Die sür eiuen Grobstaat erforderliche Armeestärke richtet sich nicht nach der größeren oder geringeren Aussicht aus Staatsstreiche (wie bekanntlich die Bebel und „Genossen" immer behaupten. Anm. d. Red.), soudero nach der Größe der Armeen der anderen Großstaateo. Hat man A gesagt, so muß man auch B sagen. Nimmt man rin Mandat als preußischer Abgeordneter an, schreibt man Preußens Größe und europäische Machtstellung auf seine Fahne, so muß mau auch zustimmen, daß die Mittel hergestellt werden, ohne welche von Preußens Größe und Machtstellung keine Rede sein kann. Unter den obwaltenden Umständen bleibt ihnen (den Fortschrittlern) nichts übrig, als die Armeevcrstärkung in der einen oder anderen Form schließlich doch anzuerkennen und ihre Bedenken wegen Staatsstreichen sür sich zu be halten." So Engels schon im Jahre 1865. Und noch im Jahre 1 895 hat Friedrich Engels geschrieben: „lieber Miliz und stehendes Heer ließe sich rin Langes und Breites schreiben. Wenn Frankreich und Deutschland übereinkämen, ihre Armeen allmählich in Milizheere mit gleich langer Uebungszeit zu verwandeln, so wäre die Sache fertig. . . . Aber wegen der inneren Verhältnisse können Frankreich und Deutschland sich das nicht leisten, und wenn sie es könnten» so gehts wegen Elsaß- Lothringen nicht. Und daran scheitert die ganze Miliz- Geschichte." Max Schippel, der jetzt eben wieder in Chemnitz gewählte sozialvemokratische Abgeordnete, zieht daraus den Schluß: „Das ist wohl die bündigste Ablehnung, die man sich denken kann, und sie ist nicht einmal der Form nach eine höfliche Verneigung, wie man sie doch bei guten, alten,kleinbürgerlich-demo kratischen Idealen sonst gern erweist." Und ferner stellt Schippel fest: „Engels hat für die Gegenwart nie recht an die Ueber- legenheit deS Miliz-SystemS geglaubt." Aber trotzdem werden wir im neuen Reichstage, wenn eine neue Militärvorlage kommt, wieder eine Rede Bebels zu gunsten des Miliz- Systems hören; die übrigen Genossen werden schweigen und trotz der Mahnung von Engels, die Mittel zu gewähren, ohne die von Preußens Größe und Machtstellung keine Rede sein könne, samt Herrn Schippel gegen die Vorlage stimmen. Wer sich etwa gegen den Willen der Häuptlinge auslehnen wollte, würde eben .hinauSfliegen." Das Chambcrlaivsche Reichszollvereinsprojekt bot den Vertretern derjenigen wirtschaftlichen Kreise Englands, die in Deutschland ihren nächsten und gefähr lichsten Rivalen sehen, eine willkommene Gelegenheit, im Parlament und in der Presse wieder einmal gegen Deutschland Stimmung zu machen. Zu diesem Zwecke sprach man von deutschen Uebergriffen, die sich vorläufig nur gegen eine der selbständigen Kolonien richteten, später aber auf das ganze Reichsgebiet, das Mutterland nicht ausgenommen, ausgedehnt werden würden, und die daher mit allem Nachdruck zurückgewiesen werden müßten. So hatte es den Anschein, als sollte sich die Frage eines engeren wirtschaftlichen Zusammenschlusses Englands und seiner Kolonien zu einer deutschfeindlichen Aktton großen Stiles auswachsen, zu einer gegen uns in erster Linie gerichteten wirtschaftlichen Auseinandersetzung, zu der das Deutsche Reich ohne Not den Anlaß geboten, und deren Kosten es daher durch eine Verkümmerung der deutsch-englischen Beziehungen zuerst und zumeist zu tragen hätte. Dieser durchaus irrigen und tendenziösen Auffassung der Sachlage hat der britische Kolonial sekretär selbst eine unzweifelhafte Widerlegung zu teil werden lassen müssen, indem er erklärte, daß Deutschland in voller Ausübung seines Rechtes gehandelt habe, al» es Kanada in zollpolitischer Hinsicht als Mitglied des britischen Reiches nicht anerkannte, vielmehr es dem Schema der Tarifbestimmungen unterwarf, die an gesichts der Borzugsbehandlung Englands durch Kanada als eines in handelspolitischen Fragen anerkanntermaßen selbständigen Staates geboten waren. Diese Erklärung unterscheidet sich nach Ton und Inhalt in sehr erfreulicher Weise von der seither beobachteten Stellungnahme des autoritativsten Mitgliedes der britischen Regierung, aus dessen Munde bet der Introduktion der neuen handels politischen Aera das Wort siel, daß Deutschland in einer Klemme gefangen werden könnte. Aehnlich sprach sich auch in der gestrigen Sitzung des Oberhauses, über die wir an anderer Stelle berichten, der Minister des Aeußern, Lord LanSdowne, aus. Wenn aber diese er freuliche Wendung zum Bessern eingetreten ist, wenn sie die Ermöglichung eines modus vivendi in sichere Aus sicht stellt, so ist dies der klaren, sachlichen, die Verhältnisse kühl abwägenden Haltung der deutschen Regierung zu danken, die es vermieden hat, sofort Gcgenmaßregeln etntreten zu lassen. Sowohl für die Beurteilung ber Reichszollvereinsbestrebungen in England selbst, wie auch für das voraussichtliche Ergebnis des geplanten Wechsels der Zollpolitik kann es nicht gleichgültig sein, daß daS künstlich in die Angelegenheit hineingetragene Moment des Chauvinismus gegen Deutschland jetzt wieder aus geschieden werden soll. Der Tynaftiewechsel t« Serbien. , England hat seine zurückhaltende Stellung den neuen Machthabern in Serbien gegenüber noch nicht auf gegeben und dieselbe noch dadurch markiert, daß bei dem feierlichen TbronbesteigungSakte der britische Vertreter nicht anwesend sein wird. Die Angelegenheit kam gestern im Oberbause zur Sprache, worüber uns berichtet wird: * London, 19. Juni. Oberhaus (Fortsetzung). Der Minister deS Auswärtigen Marquis of LanSdowne drückt in der Antwort ans eine Anfrage betreffend Serbien seinen Abscheu vor de» Ereignissen aus, welche Belgrad geschändet haben und sagt, die späteren Nachrichten verminderten diesen Abscheu nicht. Liu Vor schlag zu einem gemeinsame» Borge-«» der Mächte Hz Bezug auf die neue serbische Regierung sei der engsischeü Regierung nicht gemacht worden; ich glaube auch nicht, fährt der Minister fort, daß ein solcher Vorschlag von uns mit Nntzeu ander» Mächte gemacht werden könnte. Was die diplomatischen Beziehungen betrifft, so liegt unseren Gedanken nichts ferner, als mit den aa den jüngsten Ereignissen beteiligten Personen die gewöhn lichen Beziehungen weiter aufrecht zu erhalten. Wir hatten »ar den Wunsch, daß der englische Vertreter in Belgrad bliebe, nm di« englischen Interessen wahrzunehmen und dem Gang der Ereignisse aufmerksam zu folgen, aber er ist angewiesen worden, seinen Ver kehr mit den Behörden streng auf daS zu beschränken, waS zu diesem Zweck notwendig ist und sorgfältig darauf zu achten, nichts zu tu», waS als amtlicheAnerkennungd er vor läufigen Regierung ausgelegt werden könnte, deren Fretseiu von der Mitschuld an den Ereignissen jener schreckensvollen Nacht noch dargrtau werde« muß, oder als zwingend für die englische Regierung, eine Autorität anzuerkenneu, die als Nachfolge in der Dynastie eingesetzt werden mag. Drei Mächte wenigsten«, nämlich Frankreich, Deutschland und Italien (?), beobachte» eine Haltung, welche der unsrigrn entspricht. Die Regierung hört, Fonrttotsn. Mr. Trunnell. Seeroman von I. Hains. Nachdruck verboten. Johnson fühlte sich durch seine Mahlzeit so gekräftigt, daß er sich vorn mit gespreizten Beinen auf die Boots ränder stellte, den Rücken an den Mast lehnte und sich in übermütigem Scherz vermaß, uns noch vor Abend einen Segler zu erspähen. Es dauerte auch gar nicht lange, da brüllte er aus voller Kehle: »Schiff in Sicht! Gerade voraus, Str!" Tschips fuhr unmutig auf. ,A<as soll das!" schalt er. „Uns ist wahrhaftig nicht spaßig zu Mute! Halt's Maul, du Affe, oder ich schmeiß' dich über Bord!" Johnson drehte sich zornig nach ihm um. ,^Ver spaßt denn, du Lorbas!" rief er. „Reitz deine Schwetnsaugen auf, dann braucht dir nicht erst ein andrer zu sagen, was los ist!" ,Ftuhig da!" gebot ich. „Wo ist das Schiff?" ,Ftechts voraus, Sir", antwortete Johnson; „es steuert gerade auf uns zu, wenn ich nicht sehr irre." Ich stellte mich auf die Ducht und suchte «die nördliche Kimmung ab. Johnson hatte recht gesehen. Es war ein Segler in Sicht, er zeigte jedoch erst einen so kleinen Teil seiner Leinwand über dem Horizont, daß ich seinen Kurs noch nicht erkennen konnte. Alle Manu erhoben sich, reckten die Hälse und ge bärdeten sich so aufgeregt, daß ich sie energisch zur Ord nung rufen mußte. Das junge Mädchen an meiner Seite aber blieb anscheinend ganz kalt und gleichgültig. Ich konnte nicht umhin, sie einigermaßen verwundert anzu blicken. Sie erhob ihre sanften Augen ruhig zu den meinen. „Ich wußte, daß das Schiff kommen würde", sagte sie. „Ich habe den ganzen Tag darum gebetet." Zwanzig Minuten vergingen in Furcht und Hoffnung. Dann wurden die Marssegel des Fremden oberhalb der blauen Runde der Kimmung sichtbar, und nun schwanden unsre Zweifel; das Schiff war scharf an den Wind gebraßt und näherte sich uns mit großer Schnelligkeit. »Es ist der „Pirat"!" rief der Zimmermann. „Seht doch seine Royals! Kein Steuermann, außer Trunnell, versteht es, die Segel so fein zu trimmen!" „Der „Pirat"! Hurra!" schrie jetzt auch Johnson. Es war der „Pirat" und kein andrer. Ich schaute hinüber und dann hinab auf das süße Ant litz an meiner Seite. Die tiefen Linien des Kummers und der Angst waren verschwunden. Die Augen blickten wieder so hell und so vertrauend, wie an jenem ersten Morgen, als wir die Leute vom „Sovereign" abholten. Ein inniges Glücksgefühl wallte in mir auf. Ich nahm des Mädchens Hand in die meine und drückte einen Kuß darauf. Aufschauend begegnete ich dem beobachtenden Seiten blick des alten Jenks; die Aufmerksamkeit der andern war ganz von -em berankommenden Schiff in Anspruch ge nommen. Achtzehntes Kapitel. Als der „Pirat" sich uns bis auf kurze Distanz genähert hatte, sahen wir einen Mann aus dem Vortopp herab kommen, woraus zu entnehmen war, daß jene uns früher in Sicht bekommen hatten, als wir sie. Trunnell stand auf der Luvseite des Quarterdecks, die Hand an einer Pardune; er sah zu den Segeln empor und schien der Wache zuzurufen, achteraus an die Brassen zu kommen. Er hatte die Absicht, die Großraa backzubrassen und das Schiff beizudrehen. Vorn lugte eine Reihe von Gesichtern über die Reeling, hinten, unweit der Kamvanjeluk aber stand Frau Sackett mit unserm Freund Thompson, den Antipoden bekannter unter dem Namen Jackwell, der Einbrecher. Als ich seiner ansichtig wurde, wie er zu der Dame redete und dabet mit der Hand auf uns deutete, da mußte ich unwill kürlich an den armen Jim Potts denken. „Ruder nieder!" hörte ich Trunnell gröhlen. Das Schiff war nur noch fünfzig Faden von uns entfernt. „Fier weg die Leebraffen! Stetig das Ruder!" Noch ehe das Schiff seine Fahrt gemäßigt hatte, rojten wir ihm bereits entgegen. Man warf uns eine Leine zu, das Boot schor an die Kreuzrüst heran und meine Leute kletterten eilfertig an Bord. 'Fräulein Sackett wurde sorglich über die Reeling gehoben und dann von ihrer Mutter unter Deck geführt. Johnson war der letzte im Boot, um die Davitstalfen anzuhaken, eine Arbeit, die ihm jedoch von den hülssbcreiten Matrosen des „Pirat" abgenommen wurde. Ich hatte mich kaum über die Reeling geschwungen, als auch schon Thompson auf mich zukam und mir warm die Hand drückte. ,Ach will gehängt werden, Mr. Rolling", sagte er, „wenn Sie nicht ein paar böse Tage hinter sich haben, he? Wie geht's den Leuten auf -em „Sovereign"? Wir sind sechs Tage lang nach Ihnen herumgekreuzt, und nun end lich haben wir Sie. Trunnell bestand mit aller Gewalt darauf. Ich wäre ja am liebsten gleich am ersten Tage wieder Kurs gesegelt, das gestehe ich ganz offen, der ver dammte kleine dickköpfige Kerl aber ließ sich auf nichts ein. Er hatte Sie von dem Wrack abfahren sehen und wollte Sie nun um jeden Preis auffischen. Wo sind Jim und Philippi und alle die andern?" Die biedermännische Herzlichkeit dieses Empfanges überrumMlte mich sozusagen, sodaß ich im ersten Moment tatsächlich -en Händedruck erwiderte. Dann aber besann ich mich. ,-Es ist jammerschade, daß Kapitän Thompson nicht noch zur rechten Zeit an Bord gekommen ist, als wir Melbourne verlieben", entgegnete ich sehr gemessen und kühl; ,^>ann wäre mancher brave Mann heute noch am Leben." Er ließ meine Hand los, lächelte gezwungen und seine Augen nahmen den mir bereits bekannten harten und stechenden Ausdruck an. „Da haben Sie also wirklich auf einen Menschen ge wartet, den Sie gar nicht kannten, he? Und als ich an Bord kam und sagte, ich wäre der Thompson, da glaubten Sie das, Sie blöder Narr, he? Wer bin ich denn über haupt, Ihrer Meinung nach?" „Es ist mir mitgeteilt worden, daß Sie Jackwell heißen", antwortete ich. ,Zeda, Tschips!" rief ich dann; der Zimmermann aber stand schon dicht neben mir. „Er innert Ihr Euch, Tfchips", fragte ich, „was Jim Potts uns von diesem Mann hier erzählt hat, und was er selber gewesen ist?" „Da nützt kein langes Reden mehr, Keppen", sagte Tschips. „Wir kennen Tie jetzt. Wenn ich Ihnen raten kann, dann machen Sie, daß Sic vom Quarterdeck herunterkommen, wo Sie nichts zu schaffen haben." „Trunnell!" rief Thompson näselnd. „Kommen Sic doch mal her! Was sagen Sie bloß, diese Menschen sind in ihrem Boote übergeschnappt, vollständig verrückt ge worden!" Der kleine Steuermann, der das Anbordnehmen des Bootes überwacht hatte, kam herzu und ergriff meine Hand, da sich ihm jetzt zum ersten Mal die Gelegenheit bot, mich begrüben zu können. „Freue mich mächtig, Euch beide wiederzusehen", sagte er mit aufrichtiger Herzlichkeit, indem er uns von oben bis unten musterte. „Die andern sind wohl an Bord des „Sovereign" geblieben?" „Denken Sie doch", fiel Jackwell ein, „die Kerls sagten mir soeben ins Gesicht, ich wäre nicht der richtige Keppen Thompson, ich hätte mir diesen Namen und den Kapitäns rang fälschlich angemaßt, als mir damals in Melbourne bekannt geworden, daß Keppen Thompson sich nicht recht zeitig an Bord eingestellt hatte. Hol' mich der Teufel, Trunnell, ich fürchte, wir müssen die Narren in Eisen legen!" Trunnell lächelte. „Das ist ja merkwürdig", sagte er. „Kommen Sie in die Kajüte, Rolling, und erzählen Sie, was Sie zu er- zählen haben. Ihr könnt mitkvmmen, Tschips, Euch wird ein rechtschaffener Schluck auch nicht zuwider sein. Es tut mir leid, daß in Euer«, Köpfen ein paar Schrauben lose geworden sind. Aber wir werden's bald wieder in Ord nung bringen. Können wieder vollbrassen lassen, Keppen Thompson. Das Boot ist binnenbords und festgezurrt." Damit schritt der kleine buschköpfige Mann uns vorauf über das Quarterdeck, die Treppe zum Hauptdcck hinab und hinein in die Vorkajüte, woselbst der Steward schon auf uns wartete, um uns nun auch seinerseits herzlich will, kommen zu heißen und sodann mit Grog und allerlei guten Bissen zu laben. Während des Essens berichteten wir unsere Erlebnisse. Trunnell lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit unü innerer Aufregung; als er die Untaten Andrews' ver nahm, kratzte er heftig den zottigen Kopf, und als «vir ihn« sagten, weswegen Jim an Bord des „Pirat" gekom- men war, da sprang er auf und lief vor sich hinbrummend und den Kopf wiegend lange auf und ab. „War Jim der einzige, der um die Sache wußte?? fragte er endlich. Wir bejahten dies und wiederholten, daß außer Tschips und mir niemand zugegen gewesen sei, alS der Detektiv uns seine Eröffnungen machte. Trunnell setzte sich wieder, und während wir unser Mahl beendeten, stierte er stumm und grübelnd vor sich hin. Als Tschips ihn jedoch aufsorderte, nunmehr das Kommando in seine Hände zu nehmen, da erhob er sich und stellte sich breitbeinig vor uns auf.
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