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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 22.07.1902
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-07-22
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19020722022
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902072202
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902072202
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1902
- Monat1902-07
- Tag1902-07-22
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Namentlich die große Ueberlegcnheit der Engländer an Artillerie erwies sich in allen größeren Kämpfen wenig wirksam, von der Goltz folgert hieraus und aus der Wirkung einzelner, geschickt auf gestellter Boerengcschützc, daß die Gefahr, die in zu enger Aufstellung liegt, erheblich gewachsen ist, und daß die Ver- mehrnng der Stückzahl anfängt, wirkungslos zu werden, wenn nicht zugleich der Raum wächst, in dem sie Verwen dung finden kann. Der Kampf der Infauterie gegen Infanterie hat von Neuem gezeigt, wie stark die Vcr- theidigung gegenüber einem ausschließlich frontalen An griff ist, und wieviel ein unerschrockener Vertheidiger in der Besetzung ausgedehnter Stellungen mit geringen Kräften sich herausnehmen darf, wenn er seiner Flanten sicher bleibt. Ferner ist in Transvaal auf das Drastischste zu Tage getreten, daß unter dem Gcschvßregen moderner Waffen über offenes Gelände schnylvs vvrzugchcn bet aller Bravour ungeheuer schwer ist. Die Anwendung b e - ritte ner Infanterie kann auch in europäischen Kriegen gelegentlich mit Bvrtheil stattfinden, wo cs sich nm Störung des Nachschubes und Beunruhigung der Be satzungen auf den Etappenlinien handelt. Lassen sich somit aus dem Boercnkriege Lehren auch für den euro päischen Soldaten ziehen, so liegt doch das Wichtigste, was wir aus ihm lernen können und sollten, auf anderem Ge biete. Glühende, selbstbewußte Vaterlandsliebe hat die Boeren überhaupt befähigt, den Kampf für ihre Frei heit gegen die ungeheure Ucbermacht auszunehmen. In vollem Bewußtsein dessen, was man auf s Spiel setzte, wurde der Entschluß zum Kriege gefaßt. Welche Stärke die Boeren dabei in ihrem Gottvertrauen fanden, ist bekannt. Dem lebenden Geschlechte in Europa muß dieser unwiderlegliche Beweis von der realen Bedeutung idealer Güter, wie Glaube, Vaterland und Freiheit, zu Nutz und Frommen dienen. Nicht minder sichtbar ist der Werth einer einfachen, harten Lebensweise ge worden: nnr durch eine solche Schule können Männer er zogen werden, die einen VerzweislungSkampf jahrelang fvrtsctzen. Die Rückkehr zu einem primitiven Cultur- zustande, nur um kriegerisch tüchtiger zu werden, ist freilich nicht möglich. Nöthig aber ist es, dem verweichlichenden Einfluß unserer höheren Gesittung mit sicherem Bewußt sein des Zweckes cntgegenzuarbeiten. In der gesammten Erziehung unserer männlichen Jugend soll sich das aus prägen, zumal im Dienste des Heeres. Die Fürsorge nm das Wohlergehen und die Bequemlichkeit des Soldaten hat immer dort ihre Grenze zu finden, wo man sich sagen muß, daß ein Mehr im Feldleben sich nicht verwirklichen läßt. Bor allen Dingen dürfen die großen Anstrengungen nicht fehlen, die die Kräfte stählen und das Herz des An fängers Härten. Nie sollte die Scheu vor Verantwortung dazu führen, daß nothwendige Hebungen unterblieben, weil sie gefährlich für die Betheiligten sind. Nur die all gemeine Befolgung solcher Grundsätze vermag die hin reichende Anzahl an starken Charakteren hcranzubildcn, deren wir in einem künftigen Kriege bedürfen, wenn eS uns nicht nn tüchtigen Führern mangeln soll. In unserer Jugend liegt heute ein frischer Zug, der sie den Körper nicht über dem Bücherstudium vernachlässigen läßt: aber auf fallender und bedauerlicher Weise hört der Deutsche im Allgemeinen viel zu früh mit der Pflege der körperlichen Ausbildung auf. Rüstigkeit und Frische, selbst der Wage muts) im Alter sind aber für uns von höchster Bedeutung, weil fast ausnahmslos an der Spitze unserer Truppen Be fehlshaber stehen werden, die eine ansehnliche Zahl von Jahresringen angcseyt haben, von der Goltz lernt lieber von den Boeren, als von den E n g ländern, findet es aber mit Recht sehr thöricht, wenn man nicht unter suchen wollte, welchen Eigenschaften diese den schließlichen Erfolg verdanken. Da steht an erster Stelle eine ent schlossene, auf große positive Ziele ge richtete Politik, die sich nicht am Lobe und der Er haltung des status guo genügen läßt. Die leitenden Staatsmänner Englands haben den richtigen Moment zum Handeln erfaßt. Der amerikanisch-spanische Krieg wurde von ihnen klug benützt, um eine Störung der Kreise Englands von jener Seite her ausznschlicßen. Die Kriegsscheu des festländischen Europa, in dem die großen Mächte durch gegenseitiges Mißtrauen sich die Waage halten, lag klar vor ihren Augen: von Rußland war wegen der Friedensliebe seines Herrschers nichts zu befürchten. Ein solcher Augenblick wäre in einem Jahrhundert vielleicht nicht wiedergckvmmen, und Chamberlain hat ihn nicht nur erkannt, sondern auch rücksichtslos benützt. Das war moralisch nicht schon, aber staatsmännisch folgerichtig. Die englischen Minister sind ferner fcstgeblieben, als der erhoffte leichte Sieg ausblieb. Das war ihr Verdienst. Verdienst des englischen Volkes war cs, daß es in seiner großen Mehrheit trotz der Mängel des Heerwesens und seiner Führung doch einmüthig beiden zur Seite stand. Dieser Patriotismus kann uns nicht minder zum Bor bilde dienen, als die männlichen und soldatischen Tugenden der Boeren. Wenn sie ungeachtet aller Tüchtigkeit vor dem Untergänge nicht bewahrt blieben, so trägt die Haupt schuld daran der Umstand, daß ihre gcsammte Kampf methode allein ans die B e r t h e i d ig u n g berechnet war. Es fehlte das positive Ziel, die Vertreibung der englischen Herrschaft aus Südafrika. „Mit Bestimmtheit in's Auge gefaßt", meint von der Goltz, „Hütte dies Ziel sie auch zu rechtzeitiger militärischer Offensive geführt, in der das Geheimnis; des Sieges im Großen liegt." Unter dem Titel „Das protestantische und das katho lische Deutschland" veröffentlicht der Reichstagsabgevrd- ncte K. Schrader lfrs. Vg.) in der „Nation" einen Artikel, der im Anschluß an die Vorgänge in Bauern die consessionellen Verhältnisse bespricht, die sich in Deutsch land entwickelt haben. Er führt aus: „Das Hauptbestrcben des Centrums ist heute, die Schule in die Hand zu bekommen. Der jetzt in Bayern geführte Kampf ist ein Stück des Kampfes um die Schule, den seiner Zeit Windt- horst angekündigt hatte. Je mehr hier die Confcssionalisirung fortschreitct, desto größer muß die Trennung auch unter den Er wachsenen werden; es wird auch von katholischer Seite das Mögliche gcthan, um ihre Leute in katholischen Vereinen, Brüderschaften u. s. w. zusammen und frei von der Berührung mit Andersgläubigen zu halten. Immer mehr wird die deutsche Nation auf diesem Wege in zwei Nationen, eine katholische und eine evangelische, getheilt werden. Leider finden diese katho lischen separatistischen Bestrebungen die Unterstützung der meisten protestantischen Kirchen, insonderheit der preußischen und der bayerischen. . . . Was man von Geistlichen noch ver stehen mag, ist bei deutschen Staatsmännern schlechthin unver zeihlich. Deutschland ist nach der Zusammensetzung seiner Be völkerung ein paritätischer Staat und wird cs bleiben. Tas Bestreben mnh also dahin gehen, von Jugend auf die Deutschen an gegenseitige Toleranz zu gewöhnen, denn zumal bei der fortschreitenden Mischung der Bevölkerung müssen Angehörige der verschiedenen Confessionen fast allenthalben mit einander leben und arbeiten. Wie soll das aber möglich sein, wenn die Kinder nach der genau entgegengesetzten Richtung hin erzogen werden? Und wenn nun, wie es ja die natürliche Folge ist, auch später die confcssioncllc Trennung möglichst aufrecht er hallen wird? . . . Alles wirkt zusammen, die Macht der katho lischen Kirche in Deutschland zu stärken. Gehorsam beugen sich unsere Staatsmänner vor der geschlossenen Macht des Centrums in den Parlamenten, das Lob des Papstes ist für sic von höch stem Werth, es zu verdienen, geschieht viel. Gegen das Cen trum zu kämpfen, gilt für aussichtslos, und cs ist aussichtslos, so lange man nicht wagt, auf kirchlichem und auf staatlichem Gebiete das einzig wirksame Mittel anzuwcndcn: freiheitliche Politik und Anerkennung freier wissenschaftlicher Forschung und individueller Glaubcsüberzcugung in der evangelischen Kirche. Damit läßt sich völlige Gleichberechtigung der katholischen Reli gion vereinigen; aber vor dem frischen Leben, vor einer Ge staltung der Staatscinrichtungcn, welche jede Begünstigung von Absondcrungsbestimmungcn unmöglich macht, und vor einem lebendigen Protestantismus würde ein ungebührlicher Einfluß der katholischen Zkirche nicht bestehen können. Alles weist aus die Nothwendigkeit einer solchen Politik hin. Die gegenwärtige Politik, welche sich mit Unrecht conservativ trennt, führt zu nichts weiter, als zu einer rücksichtslos geübten Herrschaft ein seitiger Interessen und kirchlicher Einflüsse. . . . Aber der Moment wird kommen, in welchem auch ihnen nichts übrig bleibt^ als den Kampf gegen Interessen- und Kirchcnpolitik auf- zunehmcn. Der Kämpf wird, je länger er hinausgefchoben wird, um so schwerer werden." Das ist ganz hübsch gesagt, aber wir haben bisher nicht viel von einem entschlossenen Kampf der freisinnigen Parteien gegen den UltramvntanismuS gemerkt; der figu- rirt nur noch auf ihre» Parteiprogrammen, um die sich kein Mensch kümmert. Und mit der Toleranz allein wird Rom nicht zu besiegen sein. In der „Westminster Gazette" erklärt „Diplomaticus", der zuerst die englisch-italienische Verständigung über den Status gua im Mtttelmcer bekannt gegeben hatte, er sei mit Lord LanSdownc'S Mittheilungen im Oberhause un zufrieden. „Diplomaticus" behauptet wtcderutn, die fran zösisch-italienische Entente verfolge eine der englisch-ita lienischen diametral entgegengesetzte Politik und fragt direkt, ob Lansdowne in dieser Hinsicht irgend welche Zu sicherungen erhalten habe Lansdowne sagte: „Vom eng lisch-italienischen Einvernehmen sind wenigstens wir nie zurückgctrctcu". Die Worte „wenigstens wir" zeigen nun, bemerkt „Diplomaticus", daß Italien keinesfalls seine fortgesetzte Treue für dieses Einvernehmen erklärt hat, wenn cs auch nicht ausdrücklich zurückgetreteu ist, und daß Lansdowne selbst im Zweifel über Italiens Haltung ist. Dies ist eine Situation von großem Ernste, und sie wird durch die Versicherung, daß der Verkehr mit Italien seine alte Herzlichkeit besitze, nicht erleichtert. Italien sucht allenthalben die größtmöglichen Bvrtheile. Es ist jetzt darauf erpicht, unsere Verpflichtung zur Ver- theidigung des Ltatug guo im Mittelmeer in seinem eigenen Interesse aufrecht zu erhalten, und verständigt sich gleichzeitig mit Frankreich, um denselben «tarus c;uo zu unserem Nachtheil zu stören. „Diplomaticus" be zweifelt nicht, daß Lansdowne über den Ernst der Situation im Klaren ist, sowie darüber, daß die herz lichen Sympathien aller Engländer für Italien von letzterem nicht aufrichtig erwidert werden. Es seien auch gegen Lord Currie fortwährend Jntrigueu seitens der englandfeindlichen Elemente im Spiel gewesen, und wenn Lord Lansdowne seine Augen jetzt verschließe, geschehe dies, nm Italien die Umkehr möglichst zu erleichtern. In Santiago de Compostella wurde ein spanischer katholischer Evngreß eröffnet, dessen For derungen so übertrieben sind, daß selbst der Primas von Spanien und andere Bischöfe es Vorzügen, der Versamm lung fern zu bleiben, wogegen aber gewesene conservative Minister, wie Silvela, Ugarte, Vadillo, sich in die Con- greßliste haben aufnehmen lassen. Der Congreß fordert alle Katholiken Spaniens auf, einen Angriffskrieg zur Förderung ihrer Interessen ins Werk zu setzen. Es wird nichts weniger verlangt, als die Wiederher stellung der weltlichen Macht des Papstes und die ausschließliche Berechtigung der Kirche auf die Leitung des Unterrichtes. Nebenher werden die Con- gregationen in Schuh genommen, wobei die Behauptung ausgestellt wird, daß deren Anzahl in Spanien „noch un genügend" sei: Deutsches Reich. s. Leipzig, 22. Juli. (Die Buchdrucker und die Soctaldcmokratie.) Tas Organ des Buch druckerverbandes, der „Cvrrespou den t", Übt an dem letzten Gewerkschaftscongresse in ver schiedener Richtung eine ebenso scharfe, wie bezeichnende Kritik. Vor Allem richtet sich der Widerspruch des „Correspondeuten" gegen die Erklärungen, die im Namen des Congresscs von seinem Vorsitzenden Bömelburg ab gegeben wurden. Dahin gehört zunächst betreffs der Niaifcier die Erklärung, man habe es gewissermaßen als selbstverständlich betrachtet, daß die Beschlüsse der Parteitage der deutschen Soctaldcmokratie über diesen Punct für alle auf dem Bodeu der modernen Arbeiter bewegung stehenden Arbeiter maßgebend seien. Hiergegen macht der „Correspondent" geltend: „Indem Bömelburg damit den Gewerkschaften die Möglichkeit raubt, über die Maifeier selbstständig zu befinden, zwingt er den Gewerkschaften eine parteipolitische Demon stration auf." — Wie sehr das Buchdruckerorgan eine derartige Verletzung der Neutralität der Gewerkschaften perhorreScirt, geht aus der Art hervor, in der es Bömel- burg'S weitere Erklärung: „Die deutsche Gewerk schaftsbewegung und die deutsche Svcial- demvkratie sind einö ", zurückwcist. „Da Bvmel- bürg", schreibt der „Correspondent", „auch noch davon sprach, daß „wir im nächsten Jahre abrechnen" werden (Reichstagswahl), braucht sich kein Gewerkschaftler zu wundern, wenn Gesellschaft und Negierung die gewerk- vcrcinlichen Gegenwartsziele mit den Zukunftsbestre- 3j Iwei Welten. Roman von Arthur Sewett. Nachdruck verboten. Ja, er hätte zufrieden sein können, wenn er nur den eiguen Vortheil, die eigne Annehmlichkeit im Auge gehabt hätte. Aber seinem weiter gerichteten Sinn fehlte eins, um in seinem Berufe wahrhaft glücklich zu sein. Es lag nicht an der Bictoriaschule und ihrem Direktor. Er war ei» vortrefflicher Pädagog. Es lag nicht einmal an der höheren Töchterschule als solcher, die mochte noch hingehen. Der Schaden schien ihm tiefer zu liege». Er sah ihn in dem System der ganzen weiblichen Erziehung, von welcher die Ausbildung in der höheren Töchterschule nur eiucu Bruchtheil bildete und leider für so Viele das Ganze, das Einzige war — für das Leben! Wie Wenige, die nach der Schule wirklich weiter arbeiten. Doch nur die, welche die Nothwendigkeit dazu zwang, und dann eine ver schwindende Zahl ernster Mädchen, die es von selber fühl ten, wie wenig sie bis jetzt gelernt hatten. Aber die meisten? Er sah sie vor seinen Augen im Handumdrehen aus Kindern zu jungen Damen sich entwickeln. In der ersten Classe schon begannen sic sich zu fühlen, in der Selecta slihltcn sic sich ganz erwachsen und fertig und wurden auch so behandelt. Aber weder die Ausbildung ihres Wissens noch die Tiefe ihres Charakters hielt mit dieser äußer lichen Entwickelung Schritt. Welch ein Widerspruch zwischen dem, was sic gewonnen zn haben glaubte» und wirklich gewonnen hatten! Wenn sie von der Schule ent lassen waren, dann war ihre Bildung zuw großen Thcil abgeschlossen. Mit ihrem angelernten Wissen, ihren un reifen Anschauungen traten sie in die Gesellschaft, in das Leben mit seinen gebietenden Anforderungen, wurden sie Gattinnen, Mütter gar! Doctor Mollinar war in seinen Betrachtungen an dem Berliner Thor angelangt; er wollte eben in die große Promenadcnstraße des neuen StadttheilS etnbiegen — richtig! — da sprangen sie ihm wiederum in die Augen, diese Riescnbuchstaben auf rosa Papier, die er jetzt auf dem kurzen Wege bereit« zum dritten Male hatte lesen müssen auf jeder möglichen Anschlagsäule, die er doch sonst nicht beachtete: „Circus Brotti.Wellhoff. Große brillante Er öffnungsvorstellung". Und all die vielen Namen und Anpreisungen auf dem gewaltigen Zettel tanzten vor seinen Augen aus und nieder und verschwammen dann in Ehrerbietung vor einem, der nun aus dem rosa Papier herauszutretcn schien und größer und großer ihm entgegcnstarrte und daun ganz nahe an ihn heraukam, wie ein Ungeheuer, das ihn narrte: „Miß Ellida auf ihrer Schimmelstutc Diana, die größte Parforcercitcrin des Cvntinents". Miß Ellida, die größte Parforeerciterin des CoutineutS, deine zukünftige Schülerin! Du bringst es immer weiter in der Kunst der weiblichen Erziehung, wirst am Ende noch Spccialist für Kunstreiterinnen werden, die auch ciu bis chen höhere Tvchtcrschulenbildung haben möchten, mur melte er grimmig vor sich hin und bestieg, um heute etwas schucllcr an sein Ziel zu kommen, die elektrische Straßen bahn. Aber siehe, von allen Anschlagsäulen, au welchen die elektrische Bahn vorübcrflog, stieg der Name auf rosa Papier herab und tanzte und grüßte vor seinen Augen und „Miß Ellida, Miß Ellida", so klang cs ihm entgegen aus dem wachsenden Winde, der durch die kahl gewordenen Bäume der großen Hauptstraße rauschte, aus dem Surren und Zischen des elektrischen Wagens, der ihn bald ans Ziel führte. „Guten Tag, Mutter!" „Guten Tag, Fritz!" Mutter und Sohn pflegten sich nie weitläufiger zu be grüßen. Es schien überhaupt zwischen Beiden wie ein schweigendes Abkommen, das jedes überflüssige Wort ver pönte. Auch jetzt wurde Fritz nicht gefragt, wo er gewesen, was er gethan und gelassen habe. Die alte Frau, die im altmodischen Lehnstuhl an ihrem gewohnten Fenster platz saß, wandte schwerfällig das Haupt und uicktc dem Eintretcndcn zu. Dann vertiefte sic sich aufs Neue in die Abendzeitung, die eben angekommen war. Fritz aber trank seinen Kaffee und laS dazu in einem Buche, das er sich mit gebracht hatte. Das Zimmer, das Beiden zur gemeinsamen Eß- und Wohnstube diente, war sehr groß, aber cs war zugleich be haglich, wa« große Zimmer nur selten lind. Seine Aus stattung war alt und einfach, eine besondere Sorgfalt war auf die weiten Wände verwandt worden, an denen fast zu viel Bilder angebracht waren. In einer Wandnische, dem alten Lehnstuhl der Matrone gegenüber, so daß sie es stets vor Augen hatte, hing eine Photographie in breitem schwarzen Rahmen; ein frischer Kranz von herbstlich ge- färbtem Laub umgab sie. Sie stellte einen Geistlichen dar im Talare, die Bibel in den starken Händen haltend. Auf dem eckigen Gesicht mit den hohen Backenknochen lag weltentfremdete Askese; streng, richtend fast blickten die klugen Augen unter den buschigen Brauen herab, nur um den Mund, der mit den feingeschnittenen Lippen in dieses grobe Antlitz kaum zu passen schien, stahl sich ein leiser Zug von Schwärmerei. Aber auch diese Schwärmerei hatte etwas Herbes, Weltfciudltchcs. Das war der Mann, dem Frau Mollinar vierzig Jahre ihres Lebens gedient hatte, nicht wie ihrem Gatten, sondern wie ihrem Herrn, zu dem sie jetzt cmporblickte wie zu einem Gotte, der Mann, dem zu Liebe sic ihr ganzes Wesen umgebildct hatte. Denn aus dem einst lebhaften, weltliebenden Mädchen war die schweigsame und strengdenkende Pfarrfrau geworden, die Mutter, die ihr einziges Kind von früher Jugend an genau nach dem Wesen und den Eigcnthümlichkcitcn ihres Mannes zu bilden suchte, die an diesem Sohne eins immer noch nicht verschmerzt hatte, daß er nicht ein Pastor ge worden war, wie der selige Vater. Aber Fran Mollinar war in der Schule ihres Mannes eine verständige Frau geworden. Dieser schmerzlichste Punct ihres Lebens war einmal zwischen ihr und dem Sohne berührt worben, vor zehn Jahren, als die Ent scheidung noch möglich war, dann aber, als sich Fritz rnhig und bestimmt gegen ihren Vorschlag aussprach, nie wieder. Seitdem lebten Mutter und Sohn in einem einzigartigen Verhältnis Er in Verehrung emporblickend zu der Mutter, deren treuer Cultus mit -cm Heimgegangenen Vater sie ihm nur um so ehrerbietiger erscheinen ließ, sie für ihn lebend und sorgend, ihm bienend, wie sie einst feinem Vater gedient hatte, wortkarg und ohne jedes Auf heben, aber mit derselben Aufopferung und Treue. Die Dämmerung, die in dem Zimmer begonnen, als Fritz eingetretcn war, hatte zugenommen. Die alte The rese, die bereits aus der Landpsarre in Wurow eine lauge Reihe von Jahren gebient hatte, brachte die Lampe und einen Brief für die Pastorin, wie sie ihre Herrin immer noch nannte. Frau Mollinar verließ ihren Platz am Fenster. Fritz stand auf und schob ihr schweigend ihren Lehnstuhl an den Tisch: dann las sie die Aufschrift ihres Brieses. „Von Gabriele! Endlich einmal! Besinnst Du Dich noch ans sie?" „Mutter, welche Frage!" Und kaum war der Name genannt; da stieg vor seinen Aitgen ein Kinderbild empor auS ferner Jugendzeit: Gabriele Hellwig, die Tochter des Besitzers von Turow, -es Kirchenpatrons feistes Vaters, der zugleich sein treuester Freund gewesen war. Nach dem frühen Tode der Eltern war die kleine Waise in das Haus des Pastors Mollinar gekommen ustd dort Jahre lang wie das eigene Kind erzogen worden. Als Stirdcnt und später als Candidat hatte er viel mit ihr ge spielt und keinen Menschen so lieb gehabt, wie dieses Kind. Lebhaft stand sic jetzt in seiner Erinnerung, wert» sie die goldenen Locken um den Hals schüttelte, bis ans den Kinderlvcken der Zopf des Backfisches wurde und Gabriele in die nahe Stadt zur Erziehung mußte. Von da ab sah er sie nur noch, wenn sie einmal in ihren Ferien zusammen zu Hause waren: dann war der Vater gestorben, die Mutter hatte das Pfarrhaus verlasset! und wär in die Stadt gezogen, von Gabriele hatte cr länge nichts mehr gesehen, nur selten einmal hatte die Mutter ihm einen Gruß aus ihrem Briese bestellt. Welche Weg? nivchte sic gegangen sein, welche Bahnen ihre Entwickelung ein geschlagen haben? Sie versprach so viel in ihrer kindlichen Frische und Ursprünglichkeit, wird sic cs gehalten haben? Er war seitdem nie wieder einem weiblichen Wesen näher getreten in seinem arbeitsreichen Leben, daö dem Berufe gehörte und seiner alten Mutter. Während er so seinen Gedanken nachhing, die in die Ferne sich verloren, hatte Frau Mollinar ihren Brief mit Aufmerksamkeit zu Ende gelesen. Jetzt legte sie ihn neben sich auf den Tisch und sandte einen nachdenklichen Blick zu ihrem Sohn hinüber. „Frttzj" „Mutter!" „Gabriele schreibt Mir eben, daß sic das Seminar durch gemacht hat, sic will sich nun wettcrbtlden, um Ober lehrerin zu werben." Fritz zuckte geringschätzig die Achseln: „Sine gelehrte Frau!" sagte er trocken. „Tu bist doch sonst so sehr für die Weiterbildung der Mädchen." „Gewiß, aber die gelehrten kann ich nicht vertragen, mit dem Seminar nnd eigenem Studium hätte sic allenfalls genug gehabt." „Sie gedenkt hierher zu kommen. Sie will die Dor- bereitungScurse für das Oberlehrerinnen-Ergmcn be suchen. Sie fragt nach einer passenden Pension." „ES giebt deren genug. Ich werde es Director Wöhr. Mltnn fassest." „Noch sticht, sie srägt astch nnr vorläufig an — es kann
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