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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 23.07.1902
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-07-23
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19020723024
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902072302
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902072302
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1902
- Monat1902-07
- Tag1902-07-23
- Monat1902-07
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Der hanseatische Bundesbevollmächtigte sah den Sturm kommen und suchte von vornherein zu beschwichtigen, indem er nach dem Anträge des Abgeordneten Blankenhorn auf nur mäßige Zollerhöhungen in Cement- und Ziegeleisabrikaten gegen über den hohen, die Dampfziegeleien Badens, Württembergs und deS Elsaß schädigenden Schutzzöllen der Schweiz die allgemeine Betrachtung nnd Erklärung einfließen ließ, daß der Zolltarif auf einem Compromiß beruhe, an dem man nicht rütteln dürfe. Wenn jetzt einzelne süddeutsche Staaten für sich Sondervortheile verlangten, so litten unter einer solchen Forderung die ganzen Küstenländer. Aber der badische Bundesbevollmächtigte ließ sich durch diesen bedeutsamen Wink nicht abhalten, von dem ihm zustehenden Recht der Geltendmachung deS besonderen Standpunktes seiner Negie rung in dieser Frage Gebrauch zu machen uvd den Antrag Blankenborn zu unterstützen. Dieses Zwischenspiel versetzte den Grasen Posadowsky in Erregung, und zum Schluß einer längeren Polemik gegen die fortgesetzten ZollerhöhungS- anträge bekannte er sich nach dem übereinstimmenden Bericht Berliner Blätter zu der Ansicht, daß auch er an dem Zu standekommen des Tarifs zweifeln müsse. Die Commission, in der diese Erklärung nach offensicht licher Ueberraschung lebhafte Entgegnung he» vorrief, ließ schließlich die Schlacke», zollfrei, erhöhte aber den Zoll auf Mauersteine, die jetzt zollfrei sind und nach der Vorlage 15 tragen sollen, auf 20 ^s. Inzwischen ist offenbar innerhalb der Regierung der Wunsch erwacht, den Eindruck der gestrigen Aeußerung des Staatssekretärs abzuschwächen, zvmal diese von einer Seite sensationell zu gespitzt worden war. Die osficiöse Lelegraphen-Agentur ver breitete daher zunächst folgende Mittheilung: Gegenüber anderslautenden Meldungen wird festgestellt, da!) der Herr Staatssekretär Graf Posadowsky am Schluffe seiner Rede in der Zolltarifcommission Folgendes erklärte: „Wenn Sie gegen über dem Tarifentwurf solche Zollerhöhungen annehmen, wir sie kürzlich beschlossen und heute wieder beantragt sind, fürchte ich, wird unsere handelspolitische Rüstung schließlich zu schwer werden, um darin erfolgreich zu kämpfen." Bald daraus erschien noch folgende weitere Mittheilung der Telegraphen-Agentur: In den letzten Sitzungen der Zolltarifcomniission waren Er- Höhungen angenommen, welche seitens der Vertreter Les Reichs und Preußens nachdrücklich bekämpft wurden. Besonders handelte es sich um gebogene Möbel, Holzschliff, Zellstoff und Pflastersteine. Als heute (Dienstag) ein Antrag auf Erhöhung des Zolles für Mauersteine gestellt wurde, warnte der Staatssekretär des Innern Graf Posadowsky nachdrücklichst davor, diesem Antrag stattzugeben: durch derartige Beschlüsse aus Zollerhöhungen möchte sonst unsere handelspolitische Rüstung zu schwer werden, um erfolgreich darin zu kämpfen. Der Zolltarifentwurf sei nach langen Verhandlungen im Bundesrath zu Stande gekommen und bilde in sich bereits ein Compromiß, welches man nicht durch Gellendmachung von Einzel- wünschen und Localinteressen gefährden solle. Die Meldungen hiesiger Blätter, Graf Posadowsky habe erklärt, er glaube, der Zolltarif komme niemals zu Stande, sind durchaus unzutreffend. Nun, so „durchaus unzutreffend" können wir auch nach dieser Correctur die erste Ausfassung der CommissionSbericht- erstalter, die übrigens die Zuverlässigkeit ihres Berichtes nach wie vor versichern, nicht finden. In einem Blatte wird sogar die neuerliche Fassung der PosadowSky'schen Erklärung nur für eine mildere Form „der Verzweiflung" erklärt, was zwar ganz witzig, aber nicht ganz richtig ist, insofern nämlich es die jetzige Stimmung dcs Staatssekretärs nicht trifft. Die „Verzweiflung" ließ sich eben aus der Erklärung nicht ganz eliminireu. Denn so viel gebt auö der ossiciösen Correctur hervor, daß Graf Posadowsky die Flinte noch nicht ins Korn werfen will, und das ist die Hauptsache. — Neber die geplante Pause in den Berathuugcn der Commission weiß die „Natlib. Corresp." noch zu "melden: Die Zahl der zurückgelegten Stationen, d. h. Positionen, bat das siebente Hundert überschritten: daö Endziel, die Nummer 964 winkt näher und näher und mit der kürzeren Entfernung bis zu dieser Endstation tritt auch die unbezwingliche Sehnsucht nach einer kurzen Pause für die Commissions arbeiten auf. Aber wie wir hören, soll diese Ferienzeit nur knapp bemessen sein. Man möchte die zweite Lesung möglichst bald der ersten folgen lassen, um sich dann, nach gänzlich gethaner Arbeit, vor Wiederbeginn der Plenarsitzungen des Reichstages eine längere Ruhezeit zu gestatten. Ob dies ausführbar, hängt selbstverständlich ganz und gar von dem weiteren Verlaufe der ersten Lesung ab. Es sind noch genug schwierige Positionen zu nehmen. Mit dem Cardinal Grafen Mieczyslaw Ledochowski ist einer der schärfsten Gegner der preußsschen Regierung, einer derjenigen Geistlichen gestorben, die am meisten zur Ent flammung und Schürung des preußischen Kirchenstreiteö beigetragen und die bis zuletzt mit größter Zähigkeit der Wiederherstellung deS Friedens eutgegenzuarbeiten versucht haben. Nur wenige Jahre hat er das vereinigte ErzbiStbum Posen-Gnesen geleitet, aber die kurze Zeit seiner Tbätigkeit war eine reiche Aussaat von Unheil zur seine Diöcese, sowohl in kirchlicher wie politischer Hinsicht. Diese für Deutschland bedeutsamste Periode der politischen Wirksamkeit dcs fanatischen Mannes schildert die „Köt- nische Zeitung" wie folgt: „Daß es nicht klug war, 1866 einen Mann auf den Sitz des Erzbischofs von Gnescn- Posen zu befördern, der einer polnischen Vollblut-Adels familie angehörte, sein ganzes Leben hindurch nur in den curialen Ucberlieferungen und in den jesuitischen Anschauungen sich bewegt hatte, niemals in der praktischen Seelsorge gestanden und mit den deutschen Verhältnissen ebenso un bekannt wie ihnen innerlich entfremdet war, darüber dürfte heute wohl kein Zweifel sein. Graf Ledochowski trat bis zum Jahre 1870 ur keiner Weise so aus, daß die Regierung ihren Schritt hätte bereuen müssen. Er erwies sich als ein strenger Herr gegenüber der Geistlichkeit, was in einer polnischen Diöcese etwas heißen will, für welche die Gerichtsacten über die Verlassenschaften der Geistlichen den Beweis liefern, wie eS mit deren Privatleben beschaffen war. Auch duldete er nicht, daß die Geistlichkeit bei den Wahlen I äußere politisch-polnische Agitation trieb. Daö Jahr 1870 ! führte den Erzbischof zu dem offenen Eintreten sür die I polnisch-nationalen deutschfeindlichen uns ultramoutanen Ve- I strebungen. Er war vom ersten Augenblicke an ein fanatischer Anhänger der auf die Erklärung der päpstlichen Unfehlbar keit gerichteten Bestrebungen; die dahinzielenden Eingaben tragen seine Unterschrift, er wurde auch zum Mitgliede der dogmatischen Commission deS Concils vom Vatican ernannt. Der 18. Juli 1870 gab seinem Streben die Krone; der Ein marsch der italienischen Truppen in Nom vernichtete seine kühnen curialen Hoffnungen. Sofort nach der Rückkehr aus Rom batte er die vaticanischm Dccrete verkündet und seiner Geistlichkeit anfS Schärfste deren Annahme vorgeschrieben. Nun glaubte er seine vermeintliche hohe politische Stellung im Interesse Noms benutzen zu können. Pius IX. hatte ibn während deS ConcilS zum „Primas in Polen" erhoben, ob schon PiuS VII. mit den Breves vom 6. October 1818 und 20. December 1819 den Erzbischof von Warschau zum krimas rsgui koloniao mit der ausdrücklichen Erklärung gemacht hatte, daß keinerlei Jurisdiction, Rechte oder Autorität daraus hergeleiiet werden dürften, welche ihm nicht nach der geltenden Disciplin schon als Erzbischof zuständen, mithin sollte diese Würde ohne politischen Beigeschmack sein. Der neue Primas sah sich aber an als den Nachfolger des allen Primats der Erzbischöfe von Gnesen, deren Inhaber den König krönte, den Reichstag berief und leitete. Im November 1870 begab er sich nach Versailles und ver suchte den König Wilhelm zu entscheidenden Schritten für die Wiederherstellung deS Kirchenstaats zu bewegen. Er richtete bekanntlich nichts aus, da Kaiser Wilhelm I. nicht gewillt war, das deutsche Volk für die unnütze weltliche Herrschaft der Päpste in einen blutigen Krieg zu stürzen, vielmehr entschlossen war, wie er das mit allen Mitteln bis zum letzten Athemzuge gelhan hat, nachdem er den ibm ausgedrungenen Krieg glänzend zu Ende geführt und Deutschland geeinigt hatte, dem Vaterlande den Frieden zu erhalten. Nunmehr kehrte Graf Ledochowski seine wahre Natur offen heraus. Daß er kein deutscher Bffchof sei, hatte er auf die Einladung zum Besuche der Fuldaer Bischossversamm- lung (30. August 1870) erwidert, er fühlte und zeigte sich nur noch als Pole und Feind der Negierung. Kein Wunder, daß auch die außerpreußischen Polen in Rußland und Oesterreich ihren PrimaS feierten und in ihm den Stellvertreter der polnischen Könige, wie ein ultramontaner Kalender von 1872 ihn nannte, anerkannten. Graf Ledochowski trug kein Be denken, davon auch öffentlich Zeugniß abzulegen. Am 6. Mai 1873 antwortete er den Bischöfen des österreichischen Galizienö: „Eingedenk . . . der großen Traditionen meines Bischofs stuhles, die mir die Bischöfe der Lemberger Provinz unter achtungsvoller Anerkennung der Bande der uralten Gemein schaft so schön in Erinnctung bringen, werde ich bestrebt sein, meine heilige Pflicht bis ans Ende treu zu erfüllen." In daS Priesterseminar zu Posen wurde kein Deutscher mehr ausgenommen, nur noch Polen hatten dort Zutritt, die Zahl der Jesuiten in Schrimm wurde von 8 auf 45 im Hand umdrehen vermehrt, auch sie waren fast alle dem polnischen Adel entnommen, die polnische Sprache wurde überall in den Vordergrund gestellt, die deutsche Sprache unterdrückt, in vielen Schulen seiner Diöcese wußten die Kinder nichts von preußischer Geschichte, wußten sie nickt einmal den Namen ihres Kaisers und Königs; deutsche Kinder wurden in großer Zahl geradezu zu Polen gemacht, deutsche Dörfer vollständig polonisirt, kein Wunder, daß der Erlaß der Kirckeugejetze hier den allcrschäifsten Widerstand fand. Am 15. April 1874 wurde er durch den kirchlichen Gerichtshof förmlich seines Amtes entsetzt, während der Papst ihn zum Tröste bald darauf, im März 1875» zum Cardinal erhob. Aus dem KreisgerichtSgesängniß zu Ostrowo, wo er zur Ab büßung einer gegen ihn erkannten zweijährigen Gefängniß- strafe saß, wurde er 1876 entlassen." — Die „Germania" hebt in ihrem Nekrolog rühmend hervor, als Generalpräsect der Congregation der Propaganda habe der Cardinal mii- gewirkt an der Lösung wichtiger kirchenpolitischer Fragen, die daS deutsche Reich interessiren. So bei der Frage des Pro tektorats über die Missionen im Orient: „Als Symbol des persönlichen Vertrauens, Lessen der Ver- storbene beim gegenwärtigen Kaiser sich Lieserhalb erfreute, ist das Geschenk des Letzteren an den Cardinal, die goldene Tabaks dose, ebenso berühmt geworden, wie die Flasche Steinberger Cabinet Les Fürsten Bismarck." Ob dieses Entgegenkommen das entsprechende Echo ge sunden bat, ist nicht bekannt geworden. Jedenfalls galt der Cardinal bis zuletzt als ein unversöhnlicher Feind des deutschen Reiches. Eine officielle Konstantinopeler Depesche berichtete über gemeinsame Schritte, welche Oesterreich-Ungarn und Ruß land angesichts der unhaltbaren und bedrohlichen Zustände in Makedonien und Albanien bei der Pforte unternommen haben. Man mußte auf der Pforte auf die jetzigen Schritte Oesterreich-Ungarns und Rußlands gefaßt sein. Dieselben entsprechen den Erklärungen, welche Graf Goluchowski in seinem Expos« über die äußere Politik in ter österreichischen Delegation am 7. Mai d. I. abgegeben hat. Nachdem der Minister des Aeußern damals auf die Zustände im classiscken Wetlerwinkel, die Wühlarbeit deS revolutionären ComileS, die unerquicklichen türkischen Verwaltungsver hältnisse hingewiesen, constatirte er, daß wiederholte Er mahnungen seitens Oesterreich-Ungarns und Rußlands an die Balkanstaaten viel dazu beigetragen, die Zuspitzung der Gefahren bis jetzt zu verhindern und daß auch die mili tärische Bereitschaft ver Türkei auf die Unruhestifter ab kühlend gewirkt habe. Nichtsdestoweniger habe die Ge staltung der Dinge auf jenem Puncte Europas ein sehr unfreundliches Aussehen und erheische eine konsequente und übereinstimmende Behandlung seitens der dort zunächst interessirten Cabiuette von Wien und Petersburg, um nicht eines TageS zu einer förmlichen Katastrophe zu führen. Ob die Pforte eS mit ihren Reformversprechungen diesmal aufrichtig meint, wird sich zu zeigen haben. Nach den bis herigen Erfahrungen, welche man in dieser Hinsicht mit ihr gemacht hat, bleibt der Erfolg deS Schrittes, welchen Oesterreich-Ungarn und Rußland mit einander unternommen haben, dahingestellt. Jedenfalls aber liefert derselbe wieder einen neuen wichtigen Beweis dafür, daß daS 1897er Balkan-Abkommen zwischen Oesterreich-Ungarn und Rußland fortbesteht. Hätte übrigens auch die jetzt wieder an die Pforte ergangene Aufforderung ver beiden Mächte, denen die friedliche Entwicklung der Balkan staaten besonders am Herzen liegen muß, nichts anderes zur Folge, als einerseits die Türkei von Unbesonnenheiten in ihrem Vorgehen gegen die Makedonier abzuhalten und andererseits die bulgarische Regierung in ihren Friedens bestrebungen den revolutionären CoinitsS gegenüber zu unterstützen, so würde dieser gemeinsame Schritt der beiden Mächte immerhin als eine Gewähr sür die nächste Zukunft, eine der wiederholt als wertbvoll erkannten Früchte des Balkan-Abkommens zwischen Wien und Petersburg zu betrachten sein. Das Abgeordnetenhaus der Bereinigten Staaten von Amerika hat genau eine Stunde und sechs Minuten auf die Feuilleton. 4) Zwei Wetten. Roman von Arthur Sewett. Nachdruck verboten. „Die arme Frau! Aber sage, Fritz, wenn Du dieses Mädchen unterrichtest, dann werde ich wohl dabei sitzen müssen." „Du, dabei sitzen müssen, weshalb?" „Schon des Geredes wegen, mein Sohn! Denn reden werden die Leute genug über diese Besuche, verlaß Dich darauf. Besonders hier in dieser Einsamkeit, wo Einer den Anderen so genau beobachtet." Der Doctor wurde nachdenklich. „Du möchtest Recht haben! Du könntest Dich mit einem Buche oder einer Handarbeit zu uns setzen." Damit war das Gespräch beendet. Seit langer Zeit erinnerte sich der Doctor nicht, je so ausführlich mit der Mutter über einen Gegenstand verhandelt zu haben. Um so beharrlicher schwiegen Beide den Nest dcs Abends über. Der Doctor las in seinem Buche weiter; ab und zu mußte er ganze Abschnitte zum zweiten Male lesen, weil er vergessen hatte, was in ihnen gestanden, und das ver droß ihn, denn cs war ihm lange nicht vorgekommen. Frau Mollinar aber saß ihm gegenüber und arbeitete an ihrem Strickstrumpf. Und lauter als sonst raschelten heute die Nadeln und klapperten einige Male hart und heftig auf einander, als hätten sic ein Zwiegespräch ge habt, bei dem die Meinungen sehr zusammcnsticßcn. Bald nach dem einfachen Abcndbrod erhob sich Frau Mollinar nach alter Gewohnheit und ging schlafen. Und nach alter Gewohnheit that sie es nie, ohne noch einen kurzen Blick in der Fensternische empor zu werfen, als wolle sie von dem Manne dort im Talar den Abendsegen sich holen. „Unser Vater hätte eine Kunstreiterin nicht confirmirt, nnd unterrichtet hätte er sie auch nicht." Sic hatte es mehr zu sich selber, als zu ihrem Sohne gesprochen. Der aber hatte es gehört und cs schien ihn zu kränken. „Gute Nacht, Fritz", sagte Fran Mollinar. „Gute Nacht, Mutter", gab er zurück. Sie küßten sich nicht, sie gaben sich nicht einmal die Hand. Es mar so hergebrachte Weise zwischen ihnen. Aber heute sprach aus diesem Gruß nicht der herzliche Klang wie sonst. Etwas Fremdes lag zwischen Mutter und Sohn. Und etwas Fremdes war auch in die stille Stube ge treten. Der Doctor fühlte es, als er jetzt allein war. Etwas Fremdes in sein Leben, das er bisher nicht ge kannt, nicht einmal geahnt hatte. Er sah die Beiden vor sich, wie sie hier auf derselben Stelle gestanden hatten, der geschwätzige, aufdringliche Vater in dem Gigerlcvstüm des Artisten, die elegante Tochter mit der wallenden Hut- fedcr, der kecken Nase und den glimmenden Augen. Er mar aufgestandcn. Eine unerträgliche Hitze herrschte in dem Zimmer. Er öffnete das Fenster. Tiefe Stille da draußen in dem ausgcstorbcncn Stadttheile. Am Himmel glühten die Sterne; sonst war es dunkel nnd einsam auf den Wegen. Drüben im Garten schlug ein Hund einige Male an; dann hörte man nur noch das Rasseln und Knarren der Kette, an die er gefesselt war, cs war wie auf dem Lande. Nur aus der Ferne klang das Surren und Zischen der elektrischen Bahn und ihr lärmendes Ge läute, das an die Großstadt mahnte und ihre aufgeregte Geschäftigkeit. Tas hatte ihm schon so oft das Idyll zer stört, in das er sich hineingeträumt. Es schien ihn auch heute zu verdrießen. Er schloß mit einem Ruck das Fenster, nahm sein Buch zur Hand und las mit angestrengter Auf merksamkeit noch weit über Mitternacht hinaus. Eircus Brotti-Wellhoff führte seinen Doppelnamen in folge etwas verwickelter Umstände. Er hieß früher mir Eircus Brvttt nach seinem ursprünglichen Besitzer. Als dieser aber starb, erhob seine schon bejahrte Wittwe, eine geborene Schipassy, die, als sie noch jünger und schlanker war, mit Grazie auf dem straffen Drahtseil gearbeitet hatte, einen Sohn aus früherer Ehe mit einem Schulrciter, der trotz seiner Jugend als erster Schulleiter bei der Ge sellschaft cngagirt war, zur Directvrwürde, theils aus Pietät, theils des Geschäfts wegen. Und weil er darauf bestand und sie einmal auch die Nachgiebigkeit dcs Weibes zeigen wollte, fügte sie seinen Namen dem ursprünglichen dcs Circus bei. Das war der erste nnd der letzte Wille des jungen Direktors gewesen. Fortan mußte er sich begnügen, ein Schatten der königlichen Gunst der Director Mutter, lediglich seinen artistischen Künsten zu leben, für die er Geschick »nd Energie besaß. Die eigentliche Gcschäfts- ftthrnng nnd kaufmännische Leitung aber blieb lediglich in den Händen der Frau Brotti, vcrwittwctcn Wellhoff, ge borene Schipassy, und Jederman unter den Artisten wußte, daß der Circus Brotti-Wellhoff trotz seines stolzen Doppelnamens eigentlich nur eine Frau Director hatte, die ihr Regiment, wie wiederum jeder Artist bezeugen konnte, mit recht straffer Hand führte, indes die Re präsentation des Eircus in den Vorstellungen dem eleganten jungen Director oblag. So theilten sich Mutter und Sohn nach ihren verschiedenen Fähigkeiten in die Führung des Unternehmens. Besagter Eircus Brotti-Wellhof gab seine Eröffnungs vorstellung. Das Haus war gefüllt bis unter das Dach, aber die Pferde zeigten, wie es in solchen ersten Auf führungen in einer fremden Stadt zu geschehen pflegt, eine derartige Unruhe und Aufgeregtheit, daß den Künst- lern die meisten Trics mißlangen. Auch der elegante Director hatte mit der Vorführung seiner schönen ara bischen Rapphcngstc nicht den gewohnten Erfolg. In der Mitte dcs Programms stand das Auftreten von Miß Ellida. Ein Diener führte ihre Tchimmelstute Diana in die Manege. Es war ein starkes Pferd mit breitem Rücken, wie es die Parforcereiter brauchen, dabei vor nehm in seinem Exterieur, in Körperbau und Haltung ohne Plumpheit, in den Fesseln vielleicht etwas weich für ein Parforccpfcrd, aber von sicherer Gangart und feurig.'m Temperament. Die unruhige Stellung dcs KopfcS, das laute Wiehern, mit dem das Pferd in die Manege trat, die weit geöffneten prustenden Nüstern, das alles zeigte.sofort, daß die Stute von der allgemeinen Erregung noch mehr ergriffen war als die andern Pferde. Jetzt trat Miß Ellida auf. die üppigen Haare hinten zum Knoten geschürzt, die schmieg same Gestalt in ein seidenes Jockcycostüm gekleidet. Die dunklen Augen funkelten mit sicgcsgcwisscm Blick über die dichten Zuschauerreihen, die fcingefvrmtc Hand klopfte den Hals dcs Thieres —in demselben Augenblick fast stand sie auch schon auf seinem Rücken und begann unter der Musik eines lärmenden Tvnstückcs ihre Touren. Die Stute, schärfer gezäumt als sonst, und deshalb noch unwillig, ging in unruhigem Tempo; alle Bemühungen deS kleinen Herrn Koralli, der bet seiner Tochter stets die Stallmeisterpcitsche führte, vermochte sie nicht in die gleich mäßige Gangart zu bringen, die für die Arbeit der Reiterin nöthig war. Schon zwei Mal hatte sie an der selben Stelle bedenklich gescheut. Herr Koralli winkte seiner Tochter ab. Diese zwang sic dennoch zum dritten Male, die Stelle zu passiren. Da sprang das aufgeregte Thier mit einem heftigen Satz zur Seite und schleuderte seine Reiterin mit voller Wucht gegen die Bande. Eine Panik entstand. Herr Koralli verlor seine Hal tung nnd stürzte mit einem schlecht unterdrückten Schrcckensrus auf seine Tochter zu. Der Director und einige Stallmeister stürmten in die Manege. Miß Ellida aber erhob sich elastisch wie ein Ball, der von den Banden znrückgcworfen wird, lachte, schüttelte den Staub des Sandes nnd der Sägespäne von dem eleganten Costüm und jagte, die Vorstellungen ihres Vaters mit einem kurzen Achselzucken zurückweisend, ihrem Pferde nach. Ein Ansatz, ein Sprung, er mißlang. Ein zweiter nnd kcrzcngrade steht Miß Ellida auf dem Rücken des Thieres, und während dieses, am ganzen Körper zitternd, durch die Manege dahinrast, vollführt sie ihre Evolutionen mit einer Wildheit und Sicherheit zugleich, daß, als sic abritt, der erste entscheidende Bcisall das riesige Gebäude durch tobte. Die Frau Direktor lächelte befriedigt. Der Erfolg war gesichert. Am nächsten Tage rühmten die Zeitungen übereinstimmend Miß Ellida als den Stern des Eircus; überall lagen ihre Photographien aus. Nur Doctor Mollinar sah nnd hörte nichts davon, und den Abschnitt, der in seiner Zeitung über den neuen Eircus berichtete, überschlug er. So etwas zu lesen, war ihm seine Zeit zu schade. Der Tag, den der Doctor für die erste Unterrichts stunde festgesetzt hatte, war gekommen. Er erwartete feine Schülerin in seinem Arbeitszimmer. Dieses grenzte an die große Wohnstube, aber cs ging nicht wie sic auf die Straße hinaus, sonocrn eröffnete einen weiten Blick in den Garten. An der Längswand dicht amFcnstcr^stand der große, mit Büchern und Schriften überhäufte Schreibtisch des Doetors, unmittelbar neben diesem, dem Arbeitssesscl des Doctors schräg gegenüber, war ein Stuhl gestellt, er war für die Schülerin bestimmt. Die ganze Einrichtung nnd Anordnung dieser Arbeits stube zeigte trotz des strengen Ernstes Gemüthlickikeit und Behaglichkeit. Besonders im Frühling und im Sommer, wenn die großen Fenster den ganzen Tag offen standen und da er draußen durch das dichte Laub die Sonnenlichter glitzerten nnd die Vögel sangen, konnte man sich kein Zimmer denken, das mehr zur Arbeit einlud, als dieses. Doctor Mollinar saß an seinem Schreibtisch; er schien zu arbeiten. Seine Mutter hatte auf einem der beiden
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