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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 26.07.1902
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-07-26
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19020726028
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902072602
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902072602
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1902
- Monat1902-07
- Tag1902-07-26
- Monat1902-07
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Die „Post" hemerkt dazu, sie wisse nicht, welche Beweggründe den Kammerherrn zu diese..« Schritte veranlaßt hätten, das aber stehe fest, daß ihr, ">er „Post'' aus nationalen Kreisen wiederholt ähnliche Wünsche entgegengetreten seien, welche von der lebhaftesten Besorgniß vor Ausbrüchen des aufs Höchste gesteigerten polnischen Fanatismus dictirt worden wär-n. Be sonders genaue Kenner deS OstenS und des politischen VolkS- charakterS sähen der Posener Kaiserreise mit recht bangen Gefühlen entgegen. — Wenn eö schon so weit gekommen fein sollte, daß der König von Preußen ganze Provinzen seines Staates meiden müßte, um nicht in Leibesgefahr zu kommen, so wäre ja die polniscye Bewegung in ihrer Ent wicklung glücklich in dem Stadium angelangt, das von der Jnsurrcction nur ncch durch einen Schritt getrennt ist, den zu thun vielleicht allein die Furcht verhindert. Das wollen wir zwar noch nicht glauben, aber auch so schon ist die bloße Nolhwendigkeit von Erörterungen über die Gefährdung de« Staates und seiner höchsten Personificirung eine sehr ernste Mahnung für Alle, die eS angeht! Die Zolltaris.ommissio» war beute sehr früh auf gestanden, um nach vierstündiger Sitzung sich ein paar Tage — bis Dienstag — Ruhe zu gönnen. Zur Er ledigung gelangten die Positionen über Edelmetalle. Bei den Eisenzöllen kam es noch zu keiner Abstimmung. Dem Schluß der Sitzung gingen aber einige stürmische Scenen, veranlaßt durch den socialbemokratischen Abgeordneten Hoch, voraus. Die Regierung muß indeß dem socialdemokratischen Redner zu äußerstem Danke verpflichtet sein, denn es konnte kuum eine bessere Rede zu Gunsten deS Tarifs gehalten werden, als dies beute durch deu Abg. Hoch geschah. Die ganze bisherige Taktik der Social demokratie wird dadurch über den Haufen geworfen. Sie bekannte heute offen, daß sie eben wider besseres Wissen und gegen ihre eigene Ueberzeugung alle Positionen des Tarifs und denselben in seiner Gesammtheit lediglich aus Agitations zwecken bekämpft! Der Socialdemokrat Hoch legte nämlich dar, die Negierung könne bei Handelsverträgen mit anderen Staaten nur Zugeständnisse er zielen, wenn sie selbst etwas zu bieten habe! Das ist genau dieselbe Erklärung, die der Staatssekretär Graf Posadowsky wer weiß wie oft im Plenum des Reichs tages und in der Commission abgegeben bat. Selbstver ständlich griff der Staatssekretär sofort die Worte des social demokratischen Redners auf, um feiner Partei die schreienden Widersprüche ihrer wirklichen Ueberzeugung über das Zu standekommen von Handelsverträgen mit ihrer Taktik im Reichstag, in der Commission und in ihrer Agitation gegen den Tarif vorzubalten. Abg. Hoch versuchte zwar den Rück zug anzulreten, gerieth dabei aber in immer größere Wider sprüche mit der ganzen bisherigen Taktik seiner Partei die Socialdemokratie zeigte sich beute als beredtester frei williger Regierungscommissar! Zn seiner zweiten Erklärung führte Ab. Hoch nämlich aus: Zeder vernünftige Mensch müsse anerkennen, daß Coucessionen nur herbeigeführt werden könnten auf dem Wege beiderseitigen Entgegenkommens. Wer nichts mehr zu bieten habe, um Zugeständnisse zu machen, könne natürlich nicht zu Handelsverträgen gelangen. Der Gegner dürfe aber nicht von vornherein erkennen, daß eS uns nicht ernst sei n.it Zollsätzen, die wir in unseren Zolltarif einstellen, sonst würde er vieLust verlieren, mit uns auf solcher Grundlage zu verbandeln. Deshalb müsse der Tarif so gestaltet werden, daß er die wirklichen Interessen berücksichtige! Wiederum genau dasselbe, was wiederholt vom RegierungS- tisch dargelegt ist und waS heute die Socialdemokratie als ihre zollpolitische Ueberzeugung verkündet! Und mit dieser Einsicht von der Nothwendigkeit von Compen- sationsobjecten zur Erlangung von Handelsverträgen ver langen die Socialdemokraten überall und für jede Position Zollsreibeit! Das war selbst dem freisinnigen Volkparteiler Müller-Sagan zu viel. Die Socialdemokratie hat sich beute in ihrer Stellung zum Zolltarif eine Blöße gegeben, die auch nur oberflächlich zu bedecke-, ihr nicht mehr gelingen wird. So ruhig, wie sich anscheinend die französische Regierung die Durchführung deS Schulgesetzes gedacht bat, ist eö doch nicht gewesen; die zahlreichen Kundgebung»., beweisen das. Herr CombeS mag im Recht sein, jedenfalls ist er gar zu hastig vorgegangen. In wenigen Ta^en fangen m Frankreich die großen, mehr als zwei Monate dauernden Schulferien an. Wenn Herr CombeS einen Theil der Congregatiou-schulen, oder selbst alle, ohne Aufsehen zu erregen, ohne Widerstand hervorzurufen, schließen wollte, so hatte er nur nöthig, bis zum 1. August zu warten. Statt dessen hat er gerade die Tage der feier lichen Preisvertheilungen in den Schulen, die dem Schluß des Schuljahres vor.' fgehen, benutzt, um sein Decret, daS mit einem Federzug gegen 2700 Congregatwns- schulen verbietet, daS momentan über 150 000 Schüler auf die Straße setzt, daS nach ungefährer Schätzung mehreren Zehntausenden dieser Schüler den freien Unterricht, verbunden mit freier Station während der Schulzeit, nimmt und das Tausende durch ihr» Mildthätigkeit sebr populäre Nonnen auv den Communen vertreibt, in denen sie viele Zähre lang thätig waren, zur Ausführung zu bringen. Die natürliche Folge dieser Maßregel war zunächst eine starke Agitation in der Presse und in der öffentlichen Meinung und dann, daß die Pariser Straßen (auch die Straßen ver schiedener Prvvinzstädte) wieder zum Schauplatz tumultuarischer Borgänge geworden sind. Sonderlich tragisch braucht man diese Vorgänge nicht zu nehmen. Die Polizei ist hier immer Herr der Situation, wenn sie rechtzeitig gewarnt ist und wenn sie ihre Schuldigkeit thun will. Daran aber, daß die Organe der Pariser Polizei, und um die handelt es sich in erster Linie, der Gehorsam versagen sollten, ist nicht zu denken. Immerhin Hal Herr CombeS sich zu einigen Zugeständnissen herbeigelassen. Verschiedene Schulen, die in diesen Tagen geschlossen werden sollten, sind vor läufig offen geblieben, von anderen heißt es, und wie eö scheint gut verbürgt, man würde sich mit ihnen arrangiren, sie nicht alle auf einmal zumacben, sondern allmählich, nach Maßgabe deS zu schaffenden Ersatzes durch Laienschulen. Eö ist daS eine Art Rückzug, den sich Herr CombeS leicht hätte ersparen können. Die Aufgabe Balfour's, daS englische Schulreform gesetz unter Dach und Fach zu bringen, gestaltet sich schwieriger. Der leitende Grundgedanke des Gesetzentwurfes war der, daß den verschiedenen religiösen Bekenntnissen oder Secten gestattet sein solle, Schulen zu haben, in denen die Kinder nach ihren religiösen Lehrsätzen erzogen werden. Aus diesem Grunde sollen neben den Staatsschulen auch die freiwilligen Schulen staatliche Unterstützungen erhalten. Nun ist aber in manchen Gegenden lediglich eine Schule vorhanden, und diese in der Regel in den Händen der Anhänger der Kirche von England. D>. übrigen Kirchengemeinschaften sind meistens nicht stark genug, auf eigene Kosten ebenfalls eine Schule einzurichten, und d^r Staat hält die Errichtung einer zweiten Schule in dem Bezirk wegen der geringen Bevölkerung vielleicht nia,. für erforderlich. Die Nichtconformisten, d. i. die außerhalb der Staatskircke stehenden, klagen nun darüber, daß in solchen Fällen ihre Kinder gezwungen seien, die Lehrsätze der Kirche von England zu lernen. Ander seits giebt es auch Gegenden, wo die Anhänger der Kirche von England in der Minderheit sind und wo diese eine ähn liche Klage vorzubringen haben, wie in dem andern Falle die Nichtconfc misten. Der „Daily Graphic" siebt nach den jetzigen Verhandlungen im Untcrhause keine Möglichkeit eines Ausgleiches der verschiedenen Forderungen, und ist der Ansicht, daß wohl daS Publicum schließlich zu der Ueberzeugung kommen werde, die Religion müsse aus der Schule verbannt und der religiöse Unterricht den Geistlichen der ver schiedenen Religionsgemeinschaften von Staatswegen über tragen werden. Deutsches Reich. * Leipzig, 26. Zuli. Die „Natlib. Corresp." schreibt: ,,^s wird nicht ausbleiben, daß die gerichtlichen Verhand lungen über den Zusammenbruch der Leipziger Bank und ähnliche Vorgänge auch im Reichstage zur Erörterung gelangen. Wie wir erfahren, haben den jetzt abgeschlossenen Schwurgerichtssitzungen zu Leipzig mehrfach außer höheren Beamt-n der sächsischen auch solche der preußischen Regierung beig.wobnt. Kürzlich weilte auch der Staats- s kretär des Neichsjustizamts in Leipzig. Ob daraus gefolgert werden darf, daß auch er Veranlassung genommen hat, einer Schwurgerichtsverhandlung i» Sachen der Leipziger Bank beizuwvhncn, wissen wir nicht." — Wir können dazu mittheilen, daß von einem Besuche des Staatssekretärs weder bei der Staatsanwaltschaft noch beim Landgericht etwas bekannt geworden ist. L Leipzig, 26. Zuli. Das Leipziger Gewerkschafts cart ell hat sich, wie erinnerlich, vor zwei Zähren aufs Schärfste gegen die Tarifgemeinschast im Buchdruckqewerbe ausgesprochen und ist infolge dieser Haltung aus der Liste der von der Generalcommission der Gewerkschaften anerkannten Cartelleausgeschlossen worden. Zetzt, nach dem Stuttgarter Ge- werkschaftscongreß, unterzog das Leipziger Gewerkschaftscartell einen Beschluß, betreffs der Tarifgemeinsckafteiner gründlichen Revision, indem es ihn für aufgehoben erklärte. Die General commission der Gewerkschaften findet damit die Differenzen zwischen ihr und dem Leipziger Gewerkschaft» cartell beseitigt, da die Generalcommission nichts anderes als die Anerkennung der Beschlüsse deS Frankfurter Gewerksckafts- congresses verlangt hätte. Das Organ desBuchdrucker- verbandes dagegen, welcher letztere naturgemäß in erster Linie betheiligt ist, erklärt, den Standpunct der General commission nicht zu theilen und seine abweichende Ansicht demnächst entwickeln zu wollen. Demnach wird der Streit zwischen dem Leipziger Gewerkschaftscartell und dem Buch druckerverband einstweilen noch nicht beigelegt werden. -r- Berlin, 25. Zuli. (Vom „Cartell der Linken") Das Organ des Abg. Eugen Richter bat sich vergebens be müht, den in einem hessischen Socialistenblatt aufgetauchlcn Sommernachtstraum eines„Cartells der Linken" von vorn herein als abgetban zu behandeln. Der Berliner fortschritt liche Verein „Waldeck" ist in einer jüngst abgehaltenen Versammlung auf diesen Sommcrnachtstraum ganz ernsthaft eingegangen. Der Referent, Rechtsanwalt Gottschalk, hält freilich auch seinerseits ein Cartell der gesammten Linken für zur Zeit nicht durchführbar, aber er hofft doch, die social demokratische Mauserung werde anhalten und damit enden, daß ein Cartell zwischen der socialen und der bürgerlichen Demokratie in Zukunft möglich sei. Für die Gegenwart ist nach der Ansicht des Herrn Gottschalk ein Zusammengehen zwischen Freisinn und Socialdemokratiegegenüber den Agrariern „nicht nur möglich, sondern sogar geboten"; eS dürfe nicht wieder vorkommen, WaS in Memel-Heydekrug passirt ist, daß ein Social demokrat von den Freisinnigen gegenüber einem Agrarier „im Stich gelassen" werde. Bezeichnenderweise hat in der Discussion nur ein einziger Redner dem Herrn Gottschalk widersprochen und darauf hingewiesen, wie groß die Gegen sätze zwischen der socialdemokratischen und der liberalen Welt anschauung sind und wie fehlerhaft auch taktisch ein Bündnis; der Freisinnigen mit der Socialdemokratie ist. Alle übrigen Diskussionsredner stellten sich, nach den vorliegenden Berichten, auk den Standpunct des Referenten. Die „Freisinn. Ztz." wird an der ganzen Versammlung wenig Freude gehabt haben, weil nicht nur das Anberaumen einer Versammlung mit dem fraglichen Thema, sondern auch die Behandlung des Themas der von ihr ausgege^enen Parole keineswegs entspricht. Wundern darf man sich indessen nicht darüber, daß spcciell der Verein „Waldeck" mit seinem politischen Radikalismus gerade der Socialdemokratie gegenüber gewissermaßen demon- strirt. Das ist nun einmal die Tradition dieses Vereins. Weil sie es aber ist, deswegen erscheint es höchst naiv, wenn der Freisinn sich darüber aushält, daß Persönlichkeiten, die sich als Radicale im Verein „Waldeck" hervorgethan, von der Regierung als xersoouo minus gratao behandelt werden. * Berlin, 25. Zuli. Die Geschichte von dem anti agrarischen Artikel des „Wehlauer KreiüblatteS" hat sich zu einer Comödie entwickelt. Das Blatt bestritt näm lich, daß die „Elb. Ztg." den betreffenden Artikel als ihr Eigenthum in Anspruch nehmen dürfe, und sagte, nur ihre Er scheinungsart habe es verschuldet, daß der Artikel im Kreisblatte später als in der „Elb. Ztg." erschienen sei. Nun kommt aber die „Elb. Ztg." aus dem Hinterhalt mit der höchst gelungenen Aufklärung und erzählt, daß der Artikel aus einer alten Nummer der „Berl. Pol. Nachr." stammt. Wir fürchten für Herrn Schweinburg, wenn er erfährt, daß ob der Autorschaft eines seiner Correspondeuz- artikel eine literarische Fehde entbrannt ist. Ueber alledem ist natürlich nicht zu vergessen, daß durch diesen Thatbestand die Bedeutung der Auflehnung eines Kreisblattes wider den Bund gar nicht berührt wird. Dieser Streit hat überdies der „Voss. Ztg." den gewünschten Anlaß gegeben, aus ihrem Herzen keine Mördergrube zu machen und endlich mit weiterem Material über die Stolper Rede des Ministers v. Podbielski herauszurücken. Die Zeitung schreibt: „Das amtliche Blatt faßt die Stolper Rede des Landwirth- schastsministers v. Podbielski als eine sehr ernste Kundgebung auf. Das war sie auch in der That, denn als Herr v. Podbielski sich erhob, um auf die ihm gewidmete Ansprache zu er- Feuilleton. 7j Zwei Welten. Roman von Arthur Scrvctt. Nachdruck verboten. Es war zwei Uhr vorüber, als der Doctor auf der Straße stand. Die Mittagszeit daheim war vorbei, aber er wußte, daß die gute Mutter es nicht so streng nahm und schon manches Mal, wenn er mit einem College» in der Stadt noch ein Glas Wein getrunken, auf ihn ge wartet hatte, ohne ihm auch nur eine unfreundliche Miene bei der Heimkehr zu zeigen. Im Gegcntheil, sic freute sich über jede Erholung und Zerstreuung, die der häusliche Sohn einmal im Kreise der College« sich gönnte. So würde er auch heute Gnade finden! dachte er bei sich und wollte eben die elektrische Bahn besteigen, da mit einem Male fiel ihm ein, daß sie ja noch einen Gast zu Hause hatten. Gabrieleu's Gestalt stand plötzlich vor seinem Ange. Er hatte sie gestern wenig beachtet; jetzt kam ihm plötzlich der wunderbare Wechsel zn Bewußtsein, der sich bei der Begrüßung in ihren Zügen vollzogen hatte. Die ruhige Stirn, den schlichten Scheitel der goldblonden Haare und die gemessene, fast prüde Haltung, die ihn nachher noch den ganzen Abend über geärgert hatte, alles das sah er in diesem Augenblick vor sich mit einer Genauigkeit, die ihm unbegreiflich war. „Die echte Kleinstädterin!" sagte er sich. Und wie sie sich verändert hat seit ihren Kinderjahren! Und neben ihr leuchtete eine andere Gestalt auf: die Kunstreiterin mit den krausen schwarzen Haaren und der kecken Nase, wie sie in reizender Lässigkeit den üppigen Leib an ihrem Bett streckte und ihm zulachte mir den brennenden Augen. Da war doch noch Natur undUrsprlinglichkeit! Das war Nasse! Rasse! Gin abscheuliches Gort! Er hatte sich oft genug geärgert, wenn eS einer seiner Bekannten einmal auf ein junges Mädchen angewandt hatte. Und heute? Aber auf Miß Ellida paßte cs nun einmal. Das war wirklich unverfälschte Raffe! Nein, nein! Die Lust, zum Essen nach Hause zu fahren, war ihm vergangen. „Schließ lich ist man im eigenen Hause nicht mehr heimisch", murmelte er verdrießlich vor sich hin. Die elektrische Bahn war längst vorübergesaust, er sah, wie die sprühenden Flammen hoch oben über die Leitungs drähte zischelten. Langsam schlenderte er den Weg zu Fuß zurück und kehrte in ein Weinlocal am Berliner Thor ein, wo er in einer einsamen Ecke ein nicht mehr warmes Mittagessen cinnahm, das ihm wenig mundete. — Die stillen Abende im Hause Mollinar hatten eine andere Gestalt bekommen. Gabriele hatte ein eigenes Talent, alles zu beleben und zu erhellen, was mit ihr in Berührung kam. Selbst die schweren Sorgen der alten Frau waren ihrem Frohsinn nicht gewachsen. Sie schlug sie, für Stunden wenigstens, in die Flucht. Nur der Doctor merkte von alledem wenig. Sowie er ins Zimmer trat, wurde Gabriele schweigsam. Sie las dann meist in einem Buche, von dem sie wenig aufsah, oder machte wohl auch eine leichtere schriftliche Ausarbeitung, die ihr ohne Mühe von den Händen ging. Fritz fing an, sich im Stillen über sie zu ärgern. Eines Tages war er unvorsichtig genug, seine Stimmung zu äußern. Als sie gerade fleißig arbeitete, neckte er sie mit ihrer Gelehrsamkeit. Sie legte die Feder aus der Hand, schob ihr Buch ein wenig zurück und sagte ohne die leiseste Erregung: „Du bist seit Jahren Lehrer an der höheren Töchterschule, da wirst Du vielleicht etwas parteiisch ur- theilen. Aber kannst Du Dir nicht vorstellcn, daß einem Mädchen die Ausbildung fürs Leben nicht genügt, die man ihm dort bietet, und auch nicht einmal das Seminar?" „Ich habe stets zugegeben, daß Eure Erziehung im System besser sein könnte." „Ach", erwiderte sie etwas schneller, „am System liegt eS nicht allein. Ein System in einer so persönlichen Sache, wie jede Erziehung ist, wird immer etwas Mangelhaftes bleiben." „An wem denn liegt eS?" „An uns selber", antwortete sie mit großer Offenherzig keit, „an der Frau und ihrer geistigen Trägheit. Und ist das ein Wunder? Seit Jahrhunderten hatte man sie gewöhnt, im Leben nur mechanisch ihre täglichen Pflichten zu thun. An eins aber dachte sie nicht und ein anderer erst recht nicht: daß sie doch schließlich selber eine Persön lichkeit war." „Haha!" lachte er höhnisch. „Die alte Rebellion. Ich aber stehe mit Deiner gütigen Erlaubnis, noch auf dem unmodernen Standpunkte, daß gerade die Erfüllung der häuslichen Pflichten, der Pflichten als Frau und Mutter der natürlichste und damit der besteVeruf für eine Frau ist." „Und meinst Du, ich stände auf einem andern? Meinst Du, es gäbe auf der großen Welt eine wirkliche Frau, die anders urtheilt?" „Was aber wollt Ihr denn?" „Uns auf diese unsere höchste Aufgabe besser und ge wissenhafter vorbereiten, sofern wir einst zu ihr berufen werden, uns selbstständig machen, wenn wir ihr nicht dienen können oder vielleicht nicht dienen wollen." „Und alles das durch ein geistiges Studium?" „In erster Reihe", erwiderte Gabriele schnell, „bringt es uns dazu, selbstständig zu denken und zu urtheileu. Oder hältst Du das nicht für nöthig? Soll sich denn die geistige Entwickelung -er Frau lediglich nur auf die Autorität ihrer Schulbildung stützen, die sie auf Glauben und Unglauben hinnimmt? Willst Du es billigen, daß sie als Kind, unreif durch und durch, mit den unglaublichsten Träumereien im Herzen in den nüchternen Ernst -es Lebens tritt? Soll sie gar an die schwerste Aufgabe, die einem Menschen gestellt werden kann, an die Erziehung anderer Persönlichkeiten einmal herantreten, ohne je sich selber erzogen zu haben? Ach, wenn Ihr wüßtet, welch ein nie zu verbesserndes Unglück oft für Haus und Er ziehung diese Acußcrlichkeit und Unselbstständigkeit der Frau ist, die Ihr für ihren Vorzug haltet, Ihr würdet anders nrtheilen." Gabriele hatte es Alles in so ruhiger Weise gesagt. Mollinar sah sie einen Augenblick an, ohne zu antworten. Zum ersten Mal kam ihm zum Bewußtsein, wie hübsch dieses Mädchenangesicht war, trotz der leisen Unregel mäßigkeiten um Mund und Rase. Und das Meiste, was sic da sprach, das war ihm aus so eigenster Seele geredet, das stimmte so ganz mit den Anschauungen überein, die er in seiner Thätigkeit gewonnen hatte. Und doch freute er sich nicht über diese Harmonie ihrer Ansichten. Im Gegen- theil, die sichere Art, mit der sie ihn Oberführte, verdroß ihn, weil er diese ganze Unterhaltung eigentlich nur be gonnen hatte, um sie seine Uebcrlcgenheit fühlen zu lassen. „Sage mir, was Du willst", erwiderte er mit kurzem, fast herrischem Ton, „ich sehe Eure ganze Frauenbewegung nur unter einem GesichtSpuncte, unter dem der Nothwehr." „Nothwehr? Wie meinst Du daS?" „Ich will eS Dir sagen, wenn Du e» wissen willst. DaS Mädchen, bas sich durch unsere gesellschaftlichen Verhält- ntfle, besonder» in den besseren Kreisen, oft nicht in der Lage sieht, den Beruf zu erfüllen, den auch Du für den ihr natürlichsten und nicht zu ersetzenden hältst, eS wehrt sich gegen die ihr aufgedrungene Unthütigkeit und Zweck losigkeit ihres Lebens, indem sie die Hand nach Arbeiten und Berufen ausstreckt, die weit ab von ihrer Sphäre liegen. Es ist ein verzweifelter Kampf, der schließlich mit einer Niederlage enden wird." „Das freilich ist eine recht äußerliche und arme Auf fassung", sagte sie traurig. „Und wenn cs auch unter uuS einige Ausnahmen giebt, welche den Blick bis in den Himmel richten und sich in der Ucberspanntheit ihres Wollens und Könnens in die maßlose Weite verlieren, können wir dafür? Ist cs nicht die alte Geschichte mit den Jkarusflügeln, die sich überall wiederholt?" „Gut. Aber auf Eins bist Du mir immer noch die Ant wort schuldig geblieben, was gerade Du mit allen Deinen Arbeiten erstrebst?" „So erlaube mir erst eine Gegenfrage. Glaubst Du nicht, daß es zwischen den beiden Extremen, die wir hier berührt haben, zwischen der geistigen Stumpfheit und der Ucberspanntheit der Fra» einen gesunden Mittelweg giebt? Nun, deu zu finden und ihn ruhig, zielbewußt zu gehen, wohin mich auch einmal das Leben stellt, das ist mein Bemühen." Sie hielt einen Augenblick inne. „Ich las vorhin", fuhr sie dann fort, „zum ersten Mai ein Buch, das Dir ge wiß längst vertraut sein wird: Jbsen's Nora." Ein kurzes Aufleuchten strahlte aus den dielen Britten gläsern. Ibsen war ein LicblingSdichtcr des DvctvrS und Nora war ihm die werthvollstc seiner Schöpfungen. „Nun, wie hat cs Dir gefallen?" fragte er in freund licherem Tone. „Gefallen? Gar nicht." DaS Leuchten war erloschen, trübe und verstimmt schauten die grauen Augen. „Das Werk ist schwer, Du hast eS nicht verstanden." „Du hast ganz Recht, ich habe cs nicht verstanden", ant wortete sie ohne die geringste Empfindlichkeit. „Nein, diese Nora verstehe ich nicht. Sic bestätigt nur meine An sicht. AlS Kind wird sic in ihrem Hause behandelt, weil sie eben nur ctn Kind ist. Und als eine seltsame Fügung ihr das selber in einem Augenblick zum Bewußtsein bringt. waS thut sic? Erkennt sie, wie viel sie verfehlt, trotz all ihres besten Wollens? Wie viel sic gut zu machen bat nun um so mehr den eigenen Kindern gegenüber? Wird ihr das bisher vertändelte Leben nun wirklich zur Ausgabe, die sic doch einmal wagen, die sie auf sich nehmen muß? Nichts von alledem! Nur an sich denkt sie! Dem Manne, den sic in seiner ganzen Erbärmlichkeit erkannt hat, mit dem auch eine Stunde nur unter demselben Dache zu bleiben ihr
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