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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 23.06.1903
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1903-06-23
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19030623023
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1903062302
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1903062302
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
- Monat1903-06
- Tag1903-06-23
- Monat1903-06
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Die Pariser Zeitung ,Fe TempS" sandte am Tage vor der Wahl einen Redakteur zum Reichstagsabgeordneten Singer nach Berlin, um ihn über die Stellung der Sozialdemokraten zu verschiedenen Fragen zu interpellieren. In der Nummer vom 17. d«. wird nun die Unterhaltung mit Singer aus führlich geschildert, und eS verdient diese Schilderung in den weitesten Kreisen bekannt zu werden. Vor allem wurde Singer über die Stellung der Sozialdemokraten zur elf aß- lothringischen Frage und über die in München aufge tauchte deutsch-französische Liga befragt. Mit einigen Um schreibungen erklärte Singer, daß die Sozialdemokratie sich nicht widersetzen werde, wenn Elsaß-Loih- ringen seine Rückkehr zu Frankreich verlange. Die Sozialdemokraten würden, wenn sie zur Herr schaft gelangten, eS den Elsäffern freistellen, selbst über ihre Zukunft zu entscheiden. In dieser erbärmlichen Weise spricht sich erner der Führer der Sozialdemokraten einem Franzosen gegenüber aus! Vergessen sind die schweren Opfer, die Deutschland im Jahre 1870/71 gebracht hat, vergessen sind die Wunden deS Krieges, die heute noch nicht vernarbt sind! Eine besondere Schmach ist eS für den deutschen Sozialistenführer, daß die franzö sische Zeitung zu seinen Absichten über Elsaß be merkt, die Elsässer selbst wünschten die Rücklehr zu Frankreich nicht und würden wohl zufrieden sein, wenn man ihnen wie den andern deutschen Provinzen nur die Selbstverwaltung gewähren wollte. Der Sozialistenhäuptling erklärte dann weiter, daß die Sozialdemokraten als Frei- hänvler alle Kräfte auspannen werben, um die Handels verträge zu hintertreiben, die nur dazu dienten, dem kleinen Manne die Lebenshaltung zu verteuern. Hierzu macht der „TempS"die Bemerkung, daß mit Verhinderung der Handels verträge dem kleinen Mann wohl kein Dienst erwiesen werde. Daß Singer dem Franzosen gegenüber sich auch gegen den Militarismus und gegen den Marinismus aussprach, welch letzterer der Landmacht Deutschlands die Herrschaft über die Meere geben wolle aus Kosten der Albeuer, war vorauS- zusehen, wie er auch erklärte, daß die deutsche Sozialdemo kratie sich einig fühle mit der französischen. Daß ein deutscher Mann sich einem Franzosen gegenüber in Vieser Weise äußern konnte, darüber brauchen wir kein Wort mehr zu verlieren; die einfache Tatsache müßte unseres Erachtens genügen, alles was deutsch fühlt, trotz aller Parteigegensätze, zum einmütigen energischsten Vorgehen gegen eine Partei an zufeuern, deren einflußreichster Führer im Namen feiner Ge nossen sich bereit ertlärt, die uns am meisten vor einem neuen Kriege bewahrenden Errungenschaften des Jahres 1870/71 preiszugeben und durch Vereitelung neuer Handelsverlräge der Industrie die Ausfuhr ins Ausland so gut wie unmög lich zu machen, vielen Tausenden von Arbeitern die Aussicht auf auskömmlichen Verdienst zu zerstören! TaS Zentrum und die Stichwahlen. Endlich nimmt auch daS einflußreichste Blatt der Zentrums partei, die.Germania", bestimmte Stellung zu den durch die bevorstehenden Stichwahlen aufgeworfenen Fragen und I richtet an ihre Leser die folgende dringliche Mahnung: „Für die ZeutmmSwähier muß selbstverständlich überall und unter allen Umständen die Parole gelten, daß es durchaus unzulässig ist, eine Stimme für den sozialdemokratischen Kandidaten, selbst bei der Stichwahl, abzugeben. Wessen Partei der Gegenkandidat sein mag und was auch immer gegen seine Persönlichkeit eingewendet werden kann, nichts kann einen Zeutrumswähler bestimmen, auch nur eineStimme für einen Sozialdemokraten abzugeben und sich so positiv an der Wahl eines solchen zu beteiligen. Soweit unS Nach richten über die Stichwahl-Bewegung vorliegen, wird diese Stichwahl parole von feiten des Zentrumswahlcomitös ja auch durchweg ausge geben, und es ist ebenso dringend zu wünschen, als bestimmt zu erwarten, daß die Zentrumswähler auch dieser Wahlparole Folge leisten werden." Nicht überall freilich wird diese Mahnung beherzigt werden, am wenigsten in Baden. Dort aber stehen in den Wahlkreisen Villingen, Lörrach, Freiburg, Heidelberg und Sinsheim nationalliberale und Zentrumskandidaten einander gegenüber. Die Entscheidung liegt bei den Sozialdemokraten, und da tritt den Zentrumswählern die Versuchung sehr nahe, die sozialdemokratischen Kandidaten in Karlsruhe, Pforzheim und Offenbach wider ihre nationalliberalen Gegner zu unterstützen. Immerhin ist es recht frag lich, ob eS dem Führer des badischen Zentrums durch diese rein rechnerische Wablpolilik gelingt, die badische Regie rung von der patriotischen Gesinnung seiner Partei zu über zeugen. Anderwärts, wo solche Veisuchungeu au d>e katho lischen Wähler nicht herantreten, ist man der Mahnung der „Germania" zuvorgekommen. So auch in Magdeburg, wie folgender Bericht beweist, welcher der „Magdeb. Ztg." von zuständiger Seile zugeht: „Vergangenen Sonntag abends 7 Uhr fand im St. Josephs- Hause eine Versammlung der Vorstände der katholischen Vereine von Magdeburg behufs Stellungnahme zur bevorstehendeu Stich wahl statt. Nachdem Herr Rachvoll Leu Vorsitz übernommen hatte, berichleteHerrPsarrerWerner.BtzirksprSsidentdeskatholiichenVolks- Vereins, über die Lage und die Stellungnahme der einzelnen Par teien zur Stichwahl. In einem längeren Bortrage zog er einen Vergleich zwischen den beiden zur Stichwahl stehenden Gegnern. Wenn auch viele Differenzen von den Nationalliberalen trennten, so sei die Sozialdemokratie doch der bei weitem gefährlichere und gehässigere Gegner. Der Sozialismus ist der Feind der staatlichen und wirtschaftliche» Ordnung und jeglicher Religionsfreiheit. Kein Katholik könne die Sozialdemokratie unterstützen. Aber auch bei Wahlenthaltung sei der Sieg des Sozialismus in Magdeburg zu befürchten. Nur die geschlossene Einmütigkeit seiner Gegner könne seinen Sieg verhindern. Deshalb hätten auch die anderen Parteien bei Hintansetzung ihrer Sonderinteressen sich zur gemeinsamen Bekämpfung geeinigt. Da sei es auch Pflicht der Zentrumswähler, sich anzuschließen, um nach getrenntem Marsche nunmehr vereint mit den anderen Ordnungsparteien den schlimmsten Gegner zu schlagen. Hierauf wurde einmütig der Beschluß gefaßt, lenergisch für die Wahl des Herrn Arendt einzutreten I und in einem besonderen Wahlaufrufe an die Zentrumswähler zu I dessen Wahl auszusordern. Auch ein Vorstandsmitglied des polnische« Verein- erklärte sich für den Anschluß au die geeinten "-arteien. Ungarische Kabinettskrise. Tisza hat die Mission zur Kabinettsbildung in Ungarn in die Hand des Königs zurückgelegt, und nun ist dieselbe auf Khuen-Hedervary, den bisherigen Statthalter von Kroatien, übertragen worden. Vorsichtiger Weise spricht man zunächst nur von einer .Mission", um sich vor läufig über die Ausnahme zu orientieren, welche einem Ministerium Khuen bereitet würde. Falls die Orientierung ein zufriedenstellendes Resultat ergibt, worüber Graf Khuen dem Kaiser zu berichten bat, wird die offizielle Be trauung mit der Kabinettsbildung erfolgen. Vielerlei Gründe haben die Wahl der Krone auf den Grafen gelenkt. Er ge nießt in Wien ein besonderes Vertrauen, vor allem aber sieht man in ihm die nentrale Persönlichkeit, welche dem Spiele der parlamentarischen Rivalitäten keinen Anlaß gibt. Auch scheint, so wird der „Nat.-Ztg." geschrieben, an maßgebender Stelle die Auffassung vorzuherrlcken, daß nationale Konzessionen nicht durch denjenigen geboten werden dürfen, der agitatorisch für solche eingctretep ist, sondern nur durch einen Staats mann, dessen Individualität eine Gewähr dafür bietet, daß die Wogen rasch errungener Popularität ihn nicht haltlos fortreißen werden. Ein solcher Mann ist Graf Khuen, der nun nationale Konzessionen bieten, dabei aber sorgfältig darauf bedacht sein wird, daß die Gemeinsamkeit der Armee nicht Schaben nehme. Der bisherige BanuS von Kroatien ist allerdings in Ungarn nicht populär, obgleich er in Kroatien seiner .magyarischen Neigungen" wegen verhaßt war, was aber bedeutet solche vage, grundlose Unbeliebtheit. Sie ist noch nie von Bestand gewesen, wenn sie durch Akte einer liberalen volksfreundlichen Politik überwunden werden soll. Eine andere Frage ist, ob Gras Khuen staatsmännische Ideen in das Minlsterpräsibium milbringt, durch welche die Entwick lung deS Landes gesördert werden kann. In diesem Falle aber würde der jetzt gefürchtete Mann in sechs Monaten der populärste ungarische Minister werden können. Die Regie rungen in Ungarn sind seit Wekerle, was wirtschaftliche Arbeit betrifft, leider ziemlich steril gewesen. Die Minister gingen in den Alltagsschwierigkeiten unter, in deren Bewältigung sie ihxe beste Kraft verzettelten. Schöpferische Ideen hat kein Regime des letzten Jahrzehnts verwirklicht. Ungarn sehnt sich nach einem Manne, welcher daS Prestige deS Landes wieder hebt und dasselbe einer Aera wirtschaft lichen Wohlergehens entgegenführt. Weiß Graf Khuen diese Sehnsucht zu erfüllen, dann wird sich der Respekt vor ihm und seinem Regime von selbst einstellen, ist der Erfolg auf einer Seite, dann wird eS ihm an der Autorität nicht ehlen. Ob Graf Khuen wirklich der ersehnte Mann ist, kann beule noch niemand wißen. Soviel ist aber sicher: Graf Khuen wird, wenn er mit Anerbietungen von Porte- feuilles kommt, nicht wie Tisza geschlossene Türen finden. Es heißt, der Graf werbe auch mit verschiedenen oppositionellen Politikern konferieren. Seine Aufgabe besteht vor allem darin, ein gewisses sachliches Entgegenkommen an den Tag zu legen, wodurch die gemäßigten Elemente inner halb der Opposition in die Lage versetzt werden, mit den Radaupolitikern und Terroristen fertig zu werden. Die Italienische Ministerkrists ist beendet. Nachdem Sacchi und Marcora, die Führer der bürgerlich-demokratischen Gruppen, nach den Besprechungen mit dem Ministerpräsidenten die Teilnahme an der neuen Regierung abzelehnt hatten, entschloß dieser sich zu der einfachsten, aber den Stempel des Vorläufigen tragen den Lösung. Er tritt mit seinen bisherigen Mitarbeitern, außer den Herren Giolitti und Bertolo, die zur Zu rücknahme ihrer EntlafsungSgesuche nicht zu bewegen waren, und deren Dienstzweige inzwischen von ihm selbst und Herrn Morin übernommen wurden, vor die Kammer, die sich Donnerstag wieder versammelt. Die anderen Minister, von denen besonders der Postminister Galimberti als enger per sönlicher Freund GiolittiS das Kabinett zu verlassen gedachte, haben zugesagt, im Amt zu bleiben und sich mit ihrem Führer einem Votum der Kammer auszusetzen. Lange werden sie auf ein solches nicht zu warten brauchen, denn die Opposition ist gewillt, den Kampf gegen die Regierung unverzüglich wieder aufzunehmen, weil sie eS mit den Ueber- lieferungen der italienischen Politik für unvereinbar hält, daß ein Kabinett mit ungenügendem und unsicherem parlamen tarischen Anhang während der langen Sommerferien die StaalSgeschäste führt. Der AuSgang deS Kampfes kann kaum noch zweifelhaft sein: das durch den Rücktritt GiolittiS gcschwächte und durch den Verlauf der Krisis um ein gutes Stück seines Ansehens gebrachte Kabinett wird fallen, und ehe die Kammer in die Ferien geht, wird eine neue Regierung gebildet sein. Beruhigung mit Hindernissen in Marokko. Aus Tanger, 15. Juni, schreibt man unS: „Die Rebellion des Rogm schwindet immer mehr dahin. Auch in der letzten Woche sind die drei HeereSabteilungen deS Sultans unter siegreichen Kämpfen gegen die dem Prätendenten »och au- hängenden Hiania, Benigarain und Gbiatta nach Tazza zu vorgerückt, die Nachricht, daß Rogui zur Feier deS MuludfesteS nach Tazza gekommen sei, war ebenso Erfindung, wie eine an gebliche Proklamation Muley MohammedS; irgendwie nennens werte Kämpfe kamen sonst nirgends vor, abgesehen von einem, der zwischen zwei Stämmen bei Casablanca mit dem Siege der Anhänger deS Sultans endete, und einem räuberischen Anfalle auf einen von Laracke nach Fez gebenden Transport von auf zwanzig Kameele geladenen Gelöststen, welcher zurückgeschlagen wurde. Und dennoch ereignete sich in Tanger selbst einer jener Zwischenfälle, die nicht vorhergesehen werden und doch so leicht verhängnis voll werden können. Wegen eine« gefangenen Subalternen kam eS am 8. dS. MtS. zwischen dem Oberst der Be- satzungStruppeu und dem Gouverneur von Tanger zu einer Meinungsverschiedenheit und zu heftigen Auseinandersetzungen in der Residenz vonMobammed TarreS,welchem der vom Meere aufsteigenden und die Stadt halbierenden einzigen Hauptstraße gelegen ist. Die anwesenden ASkariS nahmen für ihren Obersten Partei, und riefen aus allen Teilen der Stadt ihre Kameraden hinzu, wobei sie ihre Flinten luden und abzuschießen drohten. Es entstand eine furchtbare Panik, die Leute flüchteten, die Läden wurden geschloffen, und eS schien em Blut bad bevorzustchen, wenn auch niemand wußte, weshalb. Allerhand schlimme Gerüchte verbreiteten sich natür lich, z. B. das, Raisuli sei mit seiner Bande eingerückt und Rogui folge ihm, woraufhin sogar die Stadttore geschlossen wurden. Wie der Streit dann plötzlich beigelegt wurde, wer dafür verantwortlich zu machen ist, weiß man I noch nicht, Tatsache ist aber, daß nach einer halben I Stunde von seinem AuSbruch an gerechnet, alles vorbei und »die Stadt wieder so ruhig war, wie vorher; trotz allen Feuilleton. 2" Mr. Trunnell. Seeroman von I. HainS. Nachdruck verboten. Nachdem wir uns zwei Tage auf diese Weise herum geschlagen hatten, gelangten wir in die sogenannten Dol- drums, in die Gegend, wo zumeist Windstille angetroffen wird. Hier lagen wir mit aufgegeiten Untersegeln auf der lang und ruhig rollenden See. Das Schiff drehte sich träge nach allen Strichen des Kompasses, das Steuer rad stand verlassen, die Branrsegel schlugen und scheuerten gegen die Stengen und nutzten sich auf diese Weise mehr ab, als im stärksten Sturm. Trunnell nahm die Gelegenheit wahr und gab nach dem Mittagessen der Mannschaft die Erlaubnis zu einem allgemeinen Zeugwaschen. Denn nun hatten wir frisches Wasser im Ueberfluß. Wenn eine der schweren Regen wolken sich über uns entleerte, dann stürzte die laue Flut in solchen Mafien herab, daß, trotz der sechs fünf zölligen Spetgatten auf beiden Seiten, das Wasser mitt schiffs im Nu einen halben Fuß hoch an Deck stand. Die Gewalt eines solchen Regengusses raubte einem fast den Atem, aber es war eine Wonne, sich dieser reinigenden Dusche bis zum Gürtel entblößt auszusetzen. Die Speigatten wurden verstopft, und bald glich das Hauptdeck, das vierzig Fuß breit und sechzig Fuß lang war, einem kleinen See, aus dessen Mitte die Luken wie Inseln hervorragten. Die Leute schleppten in geschäftiger Eile ihre Decken, Jumper, Wollhemden, Hosen usw. herbei und warfen alles in diesen See, um nach und nach jedes Stück einzeln vorzunehmen und zu waschen. Die Decken wurden nach vorn geholt, wo das Deck all mählich anstieg, und hier, halb in dem flachen Wasser, halb auf den trockenen Planken liegend, tüchtig mit Seife eingerieben; dann glitten und stampften die Leute mit nackten Füßen darauf herum, wie auf einer Eisbahn, bi- der Wollstoff hoch mit schmutzigem Schaum bedeckt war. Zum Schluß zogen sie die Decken wieder in das tiefe Wasser, um sie hier auszuspülen. Ich betrachtete das geschäftige Treiben vom Quarter deck aus. Auf dem Hinteren Teile des Hauptdccks stand daS Wasser zwei Fuß hoch; wenn das Schiff mit der Schwell überholte, dann rauschte die Flut so gewaltsam nach der einen oder anderen Seite hinüber, daß die Wäscher sich kaum auf den Füßen erhalten konnten. Einige hatten die Luken erklommen, um hier von trockenem Sitz! aus ihre Siebensachen auszuwringen« Unter diesen befand sich auch mein alter Freund, der Kandidat für den Posten des dritten Steuermannes. Die Garderobe des alten Gesellen beschränkte sich auf das allernotwendigste; sie bestand zunächst aus der Be deckung, die die Natur ihm verliehen — Haut und Haaren, sodann aus einem Wollhemd und schließlich aus einem Paar zerschlissener Hosen aus blauem Baum wollenstoff. Das Hemd hatte er während seiner ganzen Seefahrzeit, und wahrscheinlich auch schon vorher, auf dem Leibe getragen; cs war so eng geworden, daß er es nur mit großer Mühe hatte abstreifen können. Nach dem er es eine halbe Stunde lang mit Salzwasserseife eingerieben hatte, spülte er's sorgfältig und breitete es dann auf der Luke zum Trocknen aus. Nach getaner Arbeit zog er die Knie zur Brust empor, schlang die Arme um die Schienbeine und stierte vor sich hin, mit dem Ausdruck tiefsten und traurigsten Grübelns auf dem gedunsenen Gesicht. Trunnell hatte seine Kleidungsstücke auch ins Wasser werfen lassen. Jetzt zog er das Hemd ab und stieg die Treppe zum Hauptdeck hinunter, nur mit der Hose be kleidet, die durch einen breiten Ledergurt empvrgehalten wurde. Zum ersten Male hatte ich Gelegenheit, die ge waltige Muskulatur seines Rückens, seiner Schultern und seiner Arme zu bewundern. Er erschien mir wie ein Riese der Urzeit, den man in der Mitte durchgcschnitten und auf ein Paar unverhältnismäßig kleiner Beine ge setzt hatte, die jedoch ebenfalls aus lauter Muskelknoten bestanden. Als er mit dem Maschen seines Hemdes fertig war, betraute er den Matrosen Johnson mit dem Reinigen der übrigen Stücke. Dann fiel sein Blick auf den unglücklich dreinschauenden alten Menschen auf der Luke, der jetzt sein einziges Hemd in den Händen hielt, um eS möglichst trocken werden zu lassen, ehe er es wieder anlegtc. Wann dies erreicht sein würde, war freilich gar nicht abzuschen, da der Regen alle fünf Minuten von neuem in Strömen herniedergoß. „Ich habe nichts, rein gar nichts mehr aus dieser Welt", klagte er schmerzversnnkcn vor sich hin. „Nicht mal ein lumpiges zweites Hemd. Hier sitze ich als armer Schiff brüchiger auf einem Schiff, wo alles vorhanden ist, was ein Mensch braucht, und habe nicht mal ein einziges Hemd zum Wechseln." „Geduld, alter Sohn", sagte Trunnell; „Ihr seid nun bald wieder an Land, da gibt's Schnaps und Kleider im Ueberfluß." „Was frage ich nach Schnaps?" entgegnete der in Schmerz Versunkene. ,^Vas anzuziehen brauch' ich, nicht Rum. Sehen Sie denn nicht, daß ich hier so nackt wie Adam säße, wenn ich die alte Hose nicht noch hätte? Ja, wenn ich hier an Bord angcmustert Hütte, wie die andern, dann könnte ich mir die schönsten Sachen von achtern auf Kredit holen. Aber so! Als armer Schiffbrüchiger habe ich nichts zu ver langen, und dabei kommen wir wahrscheinlich bald in die Gegend, wo's Eis und Schnee gibt. Ach, ich armer Kerl, es geht mir doch gar zu hundsschlecht!" Trunnell dachte einen Augenblick nach, dann sagte er: „Da sind vorn im Logis eine Masse Wanzen und solch Zeugs, was?" „'ne Masse ? Sagen Sie lieber hunderttausend Millio nen, dann treffen Sie's ungefähr", antwortete der Alte. „Gnt", sagte Trunnell wieder. „Ich will Euch sagen, was Ihr tun sollt. Ihr besorgt Euch eine Segelnadel und dazu ein Ende Garn, etwa einen halben Faden lang. Versteht Ihr?" „Ich verstehe." „Schön. Damit kriecht Ihr überall im Deckhaus herum, in den Gängen, hinter den Kojen, unten und oben, in allen Ecken und Winkeln, auf diese Art verdient Ihr Euch mit der Nadel einen neuen Anzug. Wenn Ihr das Garn bis hinauf ans Nadelöhr voll von dicht aufgcreihten Wanzen habt, dann bringt Ihr mir's achteraus. Für ein Garn voll Wanzen gebe ich Euch ein Glas Schnaps, für hundert Garne kriegt Ihr ein Hemd oder ein Paar Hosen. Seid Ihr damit einverstanden?" „Damit bin ich einverstanden", antwortete der alte Mensch. „Aber noch eine Frage. Wenn ich Ihnen mein Ehrenwort gebe, daß ich Ihnen heute noch vor abend ein Garn voll Wanzen bringe, wollen Sie mir dann das Glas Rum jetzt schon verabreichen, damit ich mich nicht er kälte?" „Das will ich", sagte Trunnell. Der Alte stand auf nnd arbeitete sich mit größter An- strengung in sein Hemd hinein. Dasselbe war jetzt so etngelaufen, daß die Aermel kaum bis zum Ellbogen, daS untere Ende aber nicht einmal bis zu den Hüften reichte. Er hielt den Brustteil mit der Hand zu und sah den Ober steuermann ernst und traurig an. „Lasten Sie mich die Arbeit anfangen, um Gotte willen, lasten Sie mich anfangen!" sagte er in beschwören dem Tone. „Vor allen Dingen aber den Rum!" Trunnell ging in die Vorkajüte, und der andre folgte ihm eilig. Was für ein Mann dieser kleine Riefe doch war! „DiS. ziplin ist Disziplin", daran hielt er fest, und niemand bekam etwas umsonst an Bord feines Schiffes. Einundzwanzig st es Kapitel. Wir kreuzten den Aequator unter dem 24. Grad west licher Länge, unweit der St. Pauls-Klippen. Diese merk würdigen Felsspiyen erheben sich steil aus der See, aus einer Tiefe von ungefähr zweitausend Metern. Ter Tag, an dem wir die nördliche Halbkugel er reichten, war heiß und dunstig, die bisher leichte Brise flaute wieder einmal ab, so daß wir, wie in den Doldrums, die Untersegel aufgeien mutzten. Jackwell, wie ich ihn von jetzt an nennen muß, erschien nicht anders als in gewähltester Kleidung an Deck und erwies den Damen jegliche Aufmerksamkeit. Mir wich er soviel als möglich aus; da aber sowohl ich, wie auch der Zimmermann nichts mehr von der Geschichte er wähnten, die uns Jim Potts erzählt hatte, so wurde er immer zuversichtlicher, nnd verkehrte schließlich auch mit den Matrosen ganz leutselig und freundschaftlich. Seit der Begegnung mit dem „Sovereign" war uns bis jetzt kein andres Schiff in Sicht gekommen. Hier aber, unter der Linie, wo sich die Fahrzeuge aller seefahrenden Nationen zusammenfinden, um den Nord- oder Südost pafiat aufzufangen, sahen wir bald Schiffe in Menge, so wohl nordwärts, wie südwärts segelnde. Eins derselben war die Brigg „Shark", ein kleiner Walfänger von dreihundert Tonnen, befehligt von Kapitän Henry, einem amerikanischen Schiffer, der lange Jahre Handelsfahrzcuge auf weiten Reisen geführt hatte, ehe er sich dein Walfang zugewendet. Die Brigg batte un signalisiert, wir tauschten unsre Neuigkeiten aus und schließlich erhielten wir eine Einladung zu einem Besuch an Bord. Jackwell war sogleich bereit, mit den Damen zur Brigg zu fahren; das gäbe eine nette Abwechslung, meinte er. An das Ausspringen einer Brise war vorläufig nicht zu denken, die Fahrzeuge lagen kaum eine halbe Meile vor»
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