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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 12.07.1902
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-07-12
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19020712014
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902071201
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902071201
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1902
- Monat1902-07
- Tag1902-07-12
- Monat1902-07
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Reclameu unter demRedaction»strtch sä gespalten) 7V vor den Familienua^» richten (3 gespalten) 30 Tabellarischer and Zifferusatz entsprechend höher. — Gebühren nlr Nachweisungen und Offertenannahm» L5 (exrl. Porto). Grtra»Beilagen (gefalzt), uur mit der Morgea-An-gabe, ohu« Postbefürderung SO.—» mit Postbefördernng ^l 70.—. Ännahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: vormittags Iv Uhr. Morgeu-AuSgab«: Nachmittag» L Uhr. Anzeigen find stet» an die Expedition za richten. Die Expedition ist Wochentag» ununterbrochen geöffnet von früh 8 bi» Abend» 7 Uhr. Druck uud Verlag voa S. Polz in Leipzig Nr. M. 98. Jahrgang. Sonnabend den 12. Juli 1902. Zur Criminalität in Deutschland. ?. Kürzlich ist der dritte Bcrwaltungsbericht des könig lichen Polizeipräsidiums von Berlin veröffentlicht worden, welcher die Jahre 1891 bis 1900 umfaßt. In dem Capitel über die Thätigkcit der Criminalpvlizei findet sich eine Zusammenstellung der Strafthaten, wegen deren die Crimi- nalpolizei cinznschreitcn gezwungen war, und wir ersehen daraus, das; die Zahl der Strafthaten von 1891 bis 1897 in der Reichshauptstadt beständig im Wachsen war, mährend sich seitdem ein merklicher Rückgang fühlbar ge macht hat. Aber wie groß ist auch in diesen letzten, günstigeren Jahren die Zahl der begangenen Verbrechen, Vergehen und Uebertretungen! Im Jahre 1'900 wurden noch immer 188 569 Lachen bearbeitet! Im ungünstigsten Jahre 1897 stieg die Zahl bis auf 173 567 Lachen. Immer hin ist dieser Rückgang erfreulich, wenn man bedenkt, daß Berlin doch um 300 000 Einwohner in dem in Frage kommenden Zeiträume gewachsen ist, und überdies nicht weniger als 56 neue Rcichsgesctze strafrechtlichen Inhaltes erlassen wurden, die neue Gelegenheit zu Gesetzesüber tretungen geben. Berlin steht mit seiner Criminalität trotz der oben genannten hohen Ziffern hinter Hamburg und Bremen zurück, ist also keineswegs die Stad», in welcher am meisten gegen Gesetz und Ordnung gesündigt wird. Obenan steht in der Liste der Dclicte der Diebstahl. Von den im Laufe der lO Jahre festgenommencn 55 944 Per sonen waren allein 30 476 Diebe. Besonders stark ist der Fahrrad-Diebstahl, so daß man ein besonderes Ver- brecher-Albun? für Kahrraddiebe cinrichtcn mußte. In der Zunahme waren auch die Verbrechen und Vergehen gegen die Sittlichkeit, im Abnchmen die Einlieferungen wegen Majestätsbeleidigung, Widerstands gegen die Staats gewalt und Bcamtcnbclcidignng begriffen. Es ist dies ein Lpeeialbild die Criminalität einer deutschen Großstadt. Es fragt sich nun, ob das, was sich hier im engeren Rahmen uns zeigt, auch für die allgemeine Crimi nalität in Deutschland maßgebend, gewissermaßen nur ein Miniaturbild des gesammten Ganze» ist. Professor Lcuffert in Bonn, dem wir manche inter essante Untersuchung auf dem Gebiete der Criminalistik verdanken und dessen Arbeiten sich immer durch eine so enge Fühlung mit dem praktischen Leben auSzeichnen, Hai vor einiger Zeit eine Ltudie über „die Bewegung im Strafrechte während der letzten 30 Jahre" »Dresden, Verlag von Zahn Jacnschj veröffentlicht. Es ist zum großen Theile Zahlcnwerk, das hier nicdergelegt ist, und man pflegt gemeinhin die Statistik eine trockene Wissen schaft zu nennen nnd über ihre Ziffern oft achtlos mir den Augen hinwcgznglcitcn. Mit Unrecht! Wie beredt werden diese Zahlen, wieviel erzählen sie, wenn man ihnen Aufmcrsamleit schenkt, wenn man sich Mühe giebt, den Erscheinungen des Lebens nachzuspürcn, die in ihnen einen prägnanten, nüchternen Ausdruck finden! Senfsert's Darstellung ist ein werthvoller Beitrag zur Charakteristik unserer Zeit. Lcuffert meint, daß ein Merkmal dieser Zeit die criminelle Reizbarkeit, criminelle Nervosität sei. Es werde vielznvicl nach dem Strafrichter gerufen. Andererseits sei die Rechtspflege in der Strafbemessung zu milde. Alles daö führe zu einer Vermehrung der Straf- thatcn. Dazu komme noch, daß in Deutschland vielzuviel Strafgesetze geschaffen würden. Darüber seien sich alle Nechtslchrer einig. Seuffert stellt auf Grund der Statistik fest, daß die Verurtheilungen in Deutschland fast in jedem Jahre zu genommen haben. Es ergiebt sich also das gcgentheilige Bild von dem, was die Erhebungen über die Criminalität in Berlin zeigen. Nur die Zahl der Landstreicher, Bettler, Trunkenbolde, lüderlichen Dirnen uud Arbeitsscheuen, der sogenannten potito oriininalitö, welche die Vorschule des großen Verbrechcrthums bildet, ist im Rückgänge be griffen. Sie hat sich z. B. in Bauern während der letzten Jahre von 96 000 auf 48 000, also gerade um die Hälfte vermindert. Trotzdem finden in Deutschland alljährlich rund eine halbe Million Verurtheilungen wegen der Uebertretungen nach 8 861 Nr. 3 bis 8 statt, und die Nückfälligkcit ist hier besonders groß. Eine vierzig jährige Frau in Hessen konnte kürzlich das Fest ihrer 100. Verurthcilung begehen. Seuffert findet es nicht für angebracht, das die Reichscriminalstatistik, die er feinen Untersuchungen zu Grunde legt, gerade diese potite erimi- nalitö außer Auge läßt. Die Zahl der Verurtheilten in Deutschland ist nur einmal iu der Abnahme begriffen gewesen, und zwar im Jahrc1888, in den übrigen Jahren ist sie seit 1882 beständig gestiegen. Es wurden im letzteren Jahre 329 968 Verur theilungen festgestellt, 1898 aber 477 807, wobei, wie gesagt, die Uebertretungen außer Betracht bleiben. Die Erhöhung der Criminalitätsziffer ist namentlich durch die Zunahme der Nückfälligkcit bedingt, während die Zahl der erstmalig Verurtheilten procentual abgenommeu har. Im Uebrigcn zeigt die Criminalitätsbewegung in Deutschland im All gemeinen dasselbe Bild, wie diejenige Berlins, daß näm lich die schwere Criminalität (Mord, Todtfchlag, Raub u. s. w.j. in der Abnahme begriffen ist. Sie stand 1899 um 47 Procent günstiger, als 1882. Was nun den Unterschied der Geschlechter anlangt, so ist die Zahl der verurtheilten Männer im Jahre vier- bis fünfmal so groß, als die der Weiber. Im Jahre 1882 wurden 267 353 Männer und nur 62 615 Weiber vcrnrthcilt. Im Jahre 1898 war das Verhältnis? 399 839 zu 77 968. Bei den Männern fällt dabei die Verletzung der Wehrpflicht in die Waagschale, auch, daß sie mehr in den Kampf um das Dasein gestellt sind, als die Frauen. Eine verhältnißmäßig hohe Ziffer weist das weibliche Geschlecht bei den aus Neugierde begangenen Vergehen, wie z. B. unbefugtes Oeffnen vor: Briefen, aber auch bei Arrestbruch, Meiueid, einfachem Diebstahl und Hehlerei, auf. Hinsichtlich des Alters der Strafmündigcn lwelchc das 12. Lebensjahr vollendet habens ist eine be ständige Zunahme der Verurtheilungen von Ingcndlichen zn constatircn, und zwar ist diese Zu nahme im Verhältnis? erheblich stärker, als bei den Er wachsenen. Sie betrug z. B. in der Zeit von 1882 bis 1897 nicht weniger als 47,1 Procent, während bei den Er- wachsen«» im gleichen Zeiträume nur 39,7 Proccnt sich ergaben. Anscheinend hat das Alter von 30 bis zu 40 Jahren die höchste Criminalitätsziffer. Aber auch hier wirkt der Unterschied der Geschlechter mit. In der Jugend sind die Männer, im Alter die Weiber crimineller. Die Konfessionen sind nicht nach dem Verhält nisse ihrer Anhänger an der Criminalität betheiligt. Die Evangelischen bildeten 62,8 Procent der Bevölkerung und waren mit 58 Procent bei den Verurtheilten betheiligt, die Katholiken bei 35,8 Procent der Bevölkerung mit 39,4 Pro cent. Die Juden sind in der Gcsammtcriminalität nicht in dem Maße betheiligt, wie cs ihrer Bcvölkerungszahl entspräche. Sie sind wenigerbetheiligt bei' Maje stätsbeleidigung, Gewalt und Drohung gegen Beamte, Hausfriedensbruch, Arrestbruch, Vergehen gegen den Per sonenstand, Doppelehe, Unzuchtsverbrechcn, Mord, Todtfchlag, Kindesmvrd, fahrlässiger Tödtung, Kör perverletzung, Schlägerei, Vergiftung, Nöthlgung und Be drohung, Diebstahl, Unterschlagung, Rauto überhaupt bei Verbrechen durch gewaltsame Handlungen. Bei den Sprengstvfsvcrbrechen und vorsätzlicher Eisenbahn gefährdung waren sie überhaupt unbetheiligt. 11882 bis 1892.) Mehr betheiligt sind dagegen die Inden bei der Verletzung der Wehrpflicht, Ver gehen gegen dfc Verordnungen über die Beschäftigung der Jugend, Verstößen gegen die Conccssionspslicht, Münz verbrechen und -Vergehen, Betrug, Meineid, Kalscheid, Kuppelei, Aergernißcrrcgung, Beleidigung, Zweikampf, fahrlässiger Körperverletzung, widerrechtlicher Freiheits beraubung, einfacher Erpressung, gewohnheitS- und ge werbsmäßiger Hehlerei, Untreue, Bankerott, Glücksspiel, Wucher, überhaupt bei solchen Verbrechen, bei denen cs sich um Täuschung handelt. Bei den einzelnen Strafthaten ergiebt sich in dem Zeiträume von 1882 bis 1898 eine Abna h m e bei Arrestbruch, Meineid, Mord, Vollstreckungsvereitelung, Fischercivergehen, vorsätzlicher Brandstiftung, Wucher, Verletzungen des Ninderpeslgesetzes, Unterschlagungen im Amte, Diebstahl nnd Rückfallsdiebstahl (einfacher und schwerer). Wesentlich in der Abnahme i ft der Meineid begriffen. Eine erhebliche Zunahme er giebt sich in der gleichen Periode bei Widerstand gegen die Staatsgewalt, Gefangencnbefretnng, Hausfriedensbruch, öffentlichen Gewaltthätigkciten, Bigamie, Ehebruch »260 Prvccntj widernatürlicher Unzucht, Littlichkeilsverbrccheu, Beleidigung, Verbrechen gegen das keimende Leben »139,7 Procent), fahrlässiger Tödtung, einfacher Körperverletzung, schwerer Körperverletzung, Nöthigung und Bedrohung, Fälschungen, Unterschlagung, Betrug, Untreue, Glücks spiel, einfachem Bankbruch, vorsätzlicher Sachbeschädigung, fahrlässiger Eiseubahngcfährdung, wissentlicher Verletzung der Absperrungs- oder Aufsichtsmastregeln oder Einfuhr verbote, welche zur Verhütung des Einführens oder Ver breitens von Viehseuchen angeordnet worden sind, Ver gehen gegen das Nahrungsmittel-, Butter- und Weingesctz, gegen die Vorschriften über Beschäftigung jugendlicher Ar beiter, über die Sonntagsruhe, über die Conccssionspslicht und die Sichcrhcitsvorrichtungen »8 14" der Gew.-Ordn.). Besonders gewachsen ist die Ziffer der gefährlichen Körperverletzungen »Messeraffärcn», die im Jahre 1882 erst 38 291 Berurtheilte, im Jahre 1898 dagegen 90 826 aufmies. Die Zunahme beträgt 137,2 Proccnt. Bei dcn jugendlichen Verbrechern ist sogar eine Zunahme von 180 Procent zu eonstatiren. Bei Nöthigung und Bedrohung beträgt die Steigerung gar 228 Procent. Von hohem Interesse sind auch die Ergebnisse der geographischen Criminalstatistik. Seuffert fußt auf dem Zeiträume von 1883 bis 1892, da für die folgenden Jahre das Material noch nicht Vorgelegen hat. Darnach kamen ans 10 000 strafmündige Perforier» in Schaumburg- Lippe 39,9 Berurtheilte. Das ist die geringste Zfsser. Die höchste Ziffer weist der Regierungsbezirk Bromberg mit 189,2 auf. Der Regierungsbezirk Potsdam ist mit 99, Regierungsbezirk Magdeburg mft 97,3, Regie rungsbezirk Stettin mit 107,9, Regierungsbezirk Breslau mit 127,5, Regierungsbezirk Posen mit 148,1 u. s. w. vertreten. In der Kreishauptmannschaft Leipzig kommen auf 10 000 Ltrafmündige 93,3 Berurtheilte, in der.Kreishauptmannschaft Dresden 89, in der Kreishaupt- manuschasl Zwickau »Chemnitz) 94,3 und in der Krcishaupt- mannschaft Bantzeu 66,1. Stark betheiligt ist der Lüden, namentlich Bauern. Iu Oberbayern steigt die Ziffer aus 139,4. Bei den größeren Städten kommen auf 10 000 Straf mündige in Breslau 204,8 »Stadt), 159,2 »Land),- in Königs berg 203,»; »Stadt), 179,5 »Land); in Berlin 124; in Frank furt a. M. 115,8; in Hamburg 125,4; in Köln 101,2 »Stadt», 90,5 »Land); in München 134,2 »Stadt), 204,9 (Land); in Stuttgart 99,4 »Stadt), 86,9 »Land»; in Dresden 106,3 'Stadt», 102,1 »Land» und in Leipzig 129,5 »Stadt», 100,!» »Land). Bei Gew alt nndDrohnngengeg en Beamte stehen die Hafen- und Kabrikstädte Hamburg, Kiel, Elbing, Danzig und Chemnitz obenan. Sie werden nur noch von Breslau übertroffen. Bei gefährlicher Kör perverletzung hat Oberbayern, Niederbayern und die Nheinpfalz den Reccorü. In Sachsen beträgt dcr Durchschnitt 7,5, in Bayern 29,2. Die meisten Verbrechen und Vergehen fallen hier auf die Sonntage. Bei Dieb- stahl nnd Betrug fallen die östlichen Bezirke der preußischen Monarchie, Ostpreußen, Westprenßen, Posen, Obcrschlcsien, beim Betrug auch Oberbayern und Theile von Württemberg und Baden auf. Der Reichsdurch schnitt beträgt beim Diebstahl 27,8. Der Kreis Johannis- burg in Ostpreußen kommt aber auf 116,2, Sachsen steht mit 28,8 in der Nähe des Durchschnitts. Beim Betrug ist das Mittel 4,6. Bayern, Sachsen (5,9), Württemberg und Vaden stehen über dem Mittel, die übrigen Staaten darunter. In größeren Städten kamen auf 10 000 Straf mündige wegen Betrugs Berurtheilte in Berlin 6,5, Ham burg 7,8, Breslau 9,4, Dresden 9,4 und Leipzig 9,8. Die Nückfälligkcit der Verbrecher hat nur in der Periode von 1882 bis 1897 ge waltig zugenommcn. Die Gesammtzahl der Vcr- urthcilten ist 1897 um 133 617 höher, als 1882. Die Zahl der Erstmaligen steigt um 32 169, die der Vorbestraften aber um 101 448, also mehr, als das Dreifache, gegenüber dcn Erstmaligen. Tie erstmalig Bestraften hatten um 12,97 Procent, die Vorbestraften nm 123 Proccnt -«genommen. Die meisten Bedenken erweckt bei dieser Verbrechens bewegung die große I u g e n d r ü ck f ä l l i g k e i t. So wurden z. B. 1897 insgesammt 45 329 Jugendliche ver- nrtheilt. Darunter befanden sich 8449 Vorbestrafte, eine Zahl, die nur noch 1894 überschritten wurde, wo von 45 554 Jugendlichen 8472 vorbestraft waren. Auch die mehr malige Jugendrückfälligkeit ist fortgesetzt im Wachsen. In dcn von Professor Conrad hcransgcgcbencn „Jahr büchern für Nationalökonomie und Statistik" hat der Dircctor des kaiserlichen Statistischen Amtes, H. von Scheel, die Ergebnisse von 1882 bis 1899 fortgesetzt; er kommt dabei zu denselben Resultaten, wie Seuffert; auch iu dem von ihm mit hinzngczogeneu weiteren Jahre hat die Criminalität Angenommen. Für die zwei lctztvcr- gangcnen Jahre steht uns eine Statistik zu Gebote. Wie soll dem erschreckenden Zunehmcn begegnet werden? Seuffert sagt, daß wir in erster Linie ein Gesetz brauchen, welches die Strafmündigkeit hinauSrückt, damit keine schulpflichtigen Kinder mehr in die Gefängnisse kommen und nachher die Gcfängnißeindrücke in den Tchulzimmern verbreiten. Tic gefallenen Kinder sollen nicht unbehelligt Feuilletsn. Norwegische Federzeichnungen. Von Klaus Hennings. Nachdruck virboten. Wieder lenkt nun die schöne „Hohcnzollern" ihren schlanken Bug dcr norwegischen Küste zu und wieder führen deutsche, norwegische und dänische Schiffe Tausende von Landsleuten in das Land der Fjorde und Fjeldc, das in so kurzer Zeit ein so beliebtes Reiseziel geworden ist. Wie manches liebe Mal sah ich nun Norwegens Kclsküste aus dcn Flutlicn dcr Nordsee vor mir auftauchcn, wie manch liebes Mal nahm ich ihr Bild in mich auf, indeß das Schiff nordwärts strebte! Und dennoch berührt mich noch heut dies Bild, wenn ich cS wieder sehe, kaum weniger eigenartig, als beim ersten Anblick. An dcn wilden öden Felsen vvrübcrfahrend, durch ein Labyrinth von Schären, Klippen, Inseln, Fjorden, Canälen dahinglcitcnd erblickt man diese von Wind und Wetter mitgenommenen und dennoch freundlichen rvthcn Holzhäuser, die, weit und breit vereinsamt, in dcr Fclscnwildnis? dcr Küste sich er heben oder gar an einer sccumranschtcn kleinen Insel klippe kleben; und der Gedanke, wie die Menschen in dieser Einsamkeit leben und werden mögen, drängt sich uns auf. Tag um Tag scheu sie an ihren? Häuschen wie ein Phantom das große Leben dcr Welt an sich vorüber ziehen, das dcr Hamburger Dampfer oder das Localboot, das von Arendal nnd Stavanger gen Norden dampft, an Bord trägt; oft können sie, wenn das Schiff ihr Haus passirt, die Stimme» dcr Reisenden deutlich vernehmen und die Sprachen von halb Europa hören »so eng ist oft das Fahrwasser!) — aber nichts von diesem Leben dringt zu ihnen hinein; die Stimmen verhallen, die Rauchwolke verschwindet und ihnen bleibt nur die Einsamkeit. Eine Reise ists bis zur nächsten Ortschaft, und wenn Krankheit auf dcr Klippe einkchrt, dann dancrts ost Tage, bis der staatlich angestelltc Districtsarzt im Hause sein kann. In einem verhältnißmäßig dichtbevölkerten Bezirke nahe bet Bergen hat dcr Districtsarzt 20 Stunden bis zum ent ferntesten Puncte seines Bezirkes zu reisen; wie mag es dann erst in dcr Einsamkeit von Norrland oder der Fels küsten nnd Felseninseln sein! In solchen Einsamkeiten erwachsen dann die Menschen, die Björnson geschildert hat, die Grübler, deren Herz voll und deren Mund stumm ist. Und von diesem Charakter steckt etwas in allen Norwegern, wie ja auch die Natur des weitausgedehnten Landes bei allen Verschiedenheiten in den einzelnen Landestheilen im Ganzen denselben Grundzug eines erhabenen Ernstes macht. Hier giebt es Menschen, die ein Leben lang neben einander hergehen, ohne das erlösende Wort zn finden; tiefer und immer tiefer verstricken sie sich in Mißverständ nisse, und wenn sie dann endlich alt, einander entfremdet, erbittert sind, dann fällt wohl einmal endlich das Wort, das, ein Menschenalter früher gesprochen, ihrem Leben einer andere, glücklichere Wendung gegeben hätte. Daher die große Wichtigkeit des Wortes im norwegischen Leben und auch in dcr norwegischen Literatur. Man kann Ibsen nicht verstehen, wenn man dies nicht begreift. Alle seine jüngeren Dramen »d. h. etwa die nach „Nora") enthalten nicht sowohl eine eigentliche dramatische Handlung im alten und strengen Sinne dieses Wortes, als vielmehr eine Reihe von Aussprachen, von lang aufgeschobenen, er lösenden oder verderbenden, aber jedenfalls entscheidenden Aussprachen. Typisch dafür sind z. B. „RoSmcrsholm" und die „Frau vom Meere". Und wenn bei Ibsen und bei Björnson so oft und leidenschaftlich Wahrheit und Offenheit verlangt wird, so ist dies wiederum aus der Hochschätzung des Wortes, der Rede zu erklären. Man könnte wohl auch sagen: aus Ueberschätzung. Geduldig gknubt der Norweger den politischen Führern, die schöne und kraftvolle Worte gebrauchen, und nur sehr langsam kommt er zur Erkenntnis? des Widerspruchs zwischen Wort und That. Mit einer rührenden Gläubigkeit, die in dcr an ein kritisches Publicum gewöhnten deutschen Presscwelt vielleicht ein Gefühl deS Neides erwecken mag, lesen viele Norweger ihre Zeitungen. Norwegen ist ein Paradies deS gedruckten Wortes und der Einfluß der Presse ist sehr bedeutend. Die Einsamkeit, in der ein großer Theil der Norweger zu wohnen u»O> zu leben genöthigt ist, hat dem National, charakter noch manchen anderen bezeichnenden Zug auf gedrückt. So ist die Gastfreundschaft in Norwegen etwa- Anderes, als in Deutschland; sie hat noch etwas Altger- manisches an sich. In einem Hause, das so ganz wcltabgc- schieden liegt und von der Fluth des großen Lebens ab geschnitten ist, bildet die Ankunft eines Gastes ein überaus freudiges Ercigniß. Er bringt Leben, Abwechselung. Interessen mit, und die Gastfreundschaft ist darum weniger eine Pflicht, als ein Recht und eine Freude. Ich erinnere mich, wie ich vor Jahren auf einer Wanderung in Nor wegen mit meinen Gesellen an einen Pfarrhof gelangte, auf dem einst Björnson'S Vater amttrt hatte und den ich deshalb gern in Augenschein nehmen wollte. Mit welchen überströmenden Herzlichkeit, mit welcher Freude gleich sam über das unerwartete Geschenk einiger Gäste nahm der prächtige alte geistliche Herr die Fremden auf! Längst hatte er sein bischen Deutsch vergessen und wir konnten damals noch verzweifelt wenig Norwegisch. Da war die Verständigung schwer und dcr würdige Herr beklagte ein mal übers andere die dab.vionisst sproxkorvirrinx. Aber wir sollten doch nur über Nacht bleiben; die Tochter und der Adjunct seien pua. kjolclet, kämen aber zum Abend wieder zurück, und die könnten Deutsch und dann wollten wirs gemüthlich haben. Nun, wir konnten damals die freundliche Einladung nicht annchmcn; aber noch heut steht mir dies Bild echt norwegischer Gastfreundschaft un verblichen vor Augen. Will aber dcr Gast sich ganz das Herz seiner Wirthe gewinnen, so mag er zu verstehen geben, das? er sic durch Musik erfreuen könne. Die Liebe der Norweger zur Musik ist außerordentlich. Obwohl unser Vaterland seit 150 Jahren die Mutter und Hüterin der Musik ist, darf bezweifelt werden, ob bei uns eine geradezu leidenschaft liche Liebe zur Musik ebenso allgemein in allen Classcn der Bevölkerung verbreitet ist, wie bei den Norwegern. Die schweigende und schwere Seele dieses Volkes findet in Tönen am ehesten und leichtesten Ausdruck und Befreiung. Die norwegischen Volkslieder sind schön, eigcnthümlich im Rhythmus, gewöhnlich schwermüthig, sehnsüchtig und er füllt von einer inneren und gleichsam zurückgestauten Kraft der Empfindung. In der Einsamkeit der nor wegischen Landschaft hört man oft, von fern hergetragcn, die seltsamen melancholischen Töne einer Ziehharmonika, die ein Bauer irgendwo spielt; cs ist, als wären die Töne die Stimme der Landschaft selbst. Mancher Vauernjnnge, der das Vieh ans dcr Täter hütete nnd dabei die Geige strich, ist ein bekannter Musiker geworden. Die Namen des Geigers Ole Bull und des phantasicvollcn und gc- müthrcichen Komponisten Eduard Grieg zählen zu denen, die in der ganzen Welt bekannt geworden sind. Auch die bescheidenste musikalische Gabe findet in dcr Gesellschaft dankbare Anerkennung, und selbst ein arg beschädigter Bicrbaß mag da mit ein paar deutschen Volksliedern noch zu Ehren kommen. Die Musik ist die eine Liebe der Norweger und die andere ist die Natur. In diese gewaltige Natur hiuetnge- stellt hatte das norwegische Volk die Ausgabe, ein Verhält- ntß zu ihr zu finden. In der großen Einsamkeit lauscht es unausgesetzt auf ihre Stimme, wie sie sich im rauschen den Meere, im brausenden Sturme, in der unendlichen Verlassenheit des Fjelds ausdrückt. Seine altgermauische Götterlehrc war im ausgeprägtesten Sinne eine Natur religion nnd alte wunderliche Hausgötter spuken wohl noch heute in dcr Baucrnphantasie. Es ist eine große, ernste, oft niedcrdrückcnde Natur, die das Land bietet, und sie cAülltc die Norweger mit einer eigenthümlichen dämo nischen Natnrphantastik. In Fjord und Kjeld tummeltz sich die Trolle; das schöne Lied vom Niels Finn kennt dcr Leser vielleicht aus einer der Björnson'schen Bauern Novellen. In diesen Novellen, die vom Standpuncte der Weltliteratur doch wohl immer noch als das charak teristischste Erzeugnis? des norwegischen Volksgeistes gelten dürfen, bildet die Natur nicht allein dcn Hintergrund dcr Erzählung, sondern sie spielt mit uind beeinflußt deu Menschen. Jbsen's „Frau vom Meere" ist ein reines Natnrdrama über das Thema des dämonischen Reizes dcr Scc, die „lockt und zieht". Lauscht man norwegischer Musik, so taucht oft das Bild des Wanderers vor uns auf, dcr einsam über das wüste steinige Kjeld dahinschrcitct, oder des BovtcS, das auf den Wellen des Fjords tanzt. Sv bietet die norwegische Natur allcrding den einzigen Schlüssel znm Verständnis? des norwegischen Volkes. Sie entfremdet und sie nähert die Menschen einander, sie ver schließt und sic öffnet ihre Seelen und ihre Züge spiegeln sich im Vvlkscharaktcr wieder: die Frische der See, die starre Unbeweglichkeit dcr Felsen, der düstere Ernst der engen Fjorde, in die die Sonne nicht hinabsteigt, das unendliche Schweigen des Kjelds. Die wenigen gröberen Städte sind noch immer etwas Fremdartiges in diesen? iveiten Lande, am meisten die Hauptstadt, die erheblich mehr europäische?? Charakter oder vielmehr europäische Charakterlosigkeit hat, als etwa Stavanger, Bergen oder Drontheim. Natur und Kultur umarmen hier einander nicht, wie iu dcr Schweiz oder in unseren? Thüringen; sic stehen fremd, ja feindlich nebeneinander. Hier giebt es keine Burgen und Schlösser ans dcn Bergen, keine grünende Matten oder blühende Ortschaften ii? der Nach, barschnst deS ewige?? Schnees und von dcn Höhe?? um faßt der Blick nicht wohlangcbautc Gefilde, srcnndlichc Dörfer und Städte, geschichtliche Schauplätze. Unberührt und unzugänglich bleibt das Fjcld, und zuweilen ragt cS, wie z. 3». in Bergen, trotzig mitten in die Kultur hinein, wie ein Protest der Natur gegcr? das Menschenwerk. Aber freilich bilden eben diese Verhältnisse für de?» Reisende?? zugleich wieder einen Reiz, der nicht leicht zu erschöpfe?? ist; nnd so sehr auch der Touristenstrom, der sich Jahr um Jahr nach Norwegen wälzt, angcschwollcn ist, so bleibt cs doch noch immer dasLand, in dcn? man der Ursprünglich keit der Natur und Kultur an? leichteste?? nahe treten kann.
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