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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 06.08.1902
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-08-06
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19020806026
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902080602
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902080602
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1902
- Monat1902-08
- Tag1902-08-06
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Es muß eben Alles den focialdemvkratischen Parteizwecken dienen. Abgesehen von den wirthschaftspolitischcn Fragen, nehmen in dieser Agitation die finanzpolitischen Verhältnisse den breitesten Raum ein. Hier wird nach der alten Dema- gogenart gearbeitet, indem man alle bestehenden Steuern für schlecht erklärt und dem Volke vor Augen hält, wie schön es bestellt sein könnte, wenn die jetzigen Steuern nicht existiren. Mit diesem alten demagogischen .Uniff läßt sich in Deutschland immer noch manche Unzufriedenheit erregen, da der Gedanke, daß Reich und Staat selbstver ständlich nicht ohne genügende Mittel ihren Aufgaben nachkommen können, noch nicht so Platz gegriffen hat, wix dies nicht blos im Interesse des Staates und der Gesell schaft, sondern auch der einzelnen Individuen zu wünschen wäre. Reich und Staat sind doch schließlich nur dazu öa, den einzelnen Bürger besser zu stellen. Die Steuern, die aufgebracht werden, werden nicht für irgend welche chimä rischen Zwecke,.sondern dazu verwendet, Reich und Staat nach außen zu sichern und im Innern die Cultur zu fördern. Daran, daß dies geschieht, hat der einzelne Bürger das größte Interesse. Es werden ja die Steuer zahler im Allgemeinen an Reich und Staat nicht mit großer Freude bestimmte Theile ihres Einkommens abgeben, aber dahinter, daß die Demagogen auch die Stcucrfrage nur in ihrem eigenen Interesse ausnützen, könnten immerhin schon mehr Staatsbürger gekommen sein, als dies thatsüchlich der Fall ist. Nunkannundsoll ja nichtgcleugnetwerden, daßdie Finanzlage des Reiches sehr viel zu wünschen übrig laßt und daß daran die Verzögerung der Inangriffnahme einer organischen Reichssinanzreform einen wesentlichen Antheil trägt. Und wenn der socialdemokratische Bericht diese Verzögerung rügte, so wäre dagegen nichts einzu wenden. Aber er erwähnt. die üble Finanzlage nur, um für sie die Regierungen und diejenigen Parteien verant wortlich zu machen, die für die Wehrhaftmachung des Vaterlandes die nöthigen Summen bewilligt haben. Daß diese Gelder den Frieden und damit die stetige Ar beitsgelegenheit ermöglicht habeit, wirb wohlweislich verschwiegen. In der Steuerpolitik soll niemals die ein zelne Steuer an sich, sondern nur im Verhältnis zu dem Zwecke, -em sie dienen soll, beurtheilt werden. Thut man dies, so wird man aber sagen müssen, daß auf dem Ge biete der Wehrhaftmachung des Vaterlandes in Deutsch land wahrhaftig nichts übertrieben ist. Und wenn die Socialdemokratie weiter die Behauptung aufstellt, daß die Mittel, welche das Reich durchaus braucht, nicht aus der indirekten Besteuerung geschöpft werden dürften, sondern aus einer Rcichseinkommen- und Vermögenssteuer ge zogen werden könnten, so ist dies wiederum ein dema gogischer Kniff,' denn es ist selbstverständlich, daß, da die Einzelstaaten zusammen mit den Communen die Ein kommen und Vermögen bereits hoch belasten, das Reich nicht noch eine weitere Schraube anlcgen darf, ohne die Gefahr heraufzubeschwören, daß die Individuen in der Ausnutzung ihrer Energie gelähmt werden. Die Social demokraten würden, wenn sie die politische Macht be säßen, auch nicht aus einer einzelnen Stcuerquclle die für Reich, Staat und Commune» nöthigen Mittel aufbringen können. Eine solche Steuerpolitik müßte, wenn sie ver sucht würde, scheitern, weil sie an sich unmöglich ist. Die Locialdemokraten wissen dies auch,- wenn sie trotzdem bei ihrer Agitation andere Ziele als erreichbare auf stellen, so thun sie es lediglich, weil leider immer noch ein sehr großer Thcil der deutschen Nation mitschilt, sobald über das Steuerzahlen geschimpft wird. Das im Leitartikel'unseres heutigen Morgenblattes be sprochene gemeinsame Vorgehen der Nationalliberalen und der Freisinnigen im Reichstagswahlkreise Forch heim-Kulmbach scheint erfreuliche Folgen für ganz Bayern haben zu sollen. Wie nämlich der „Fränk. Kurier" meldet, hat in einer liberalen Wahlversammlung in Streitberg der Vorsitzende deS LandeSauSschusscs der nationalliberalen Partei in Bayern, Justizrath Frei herr von Kreß aus Nürnberg, erklärt, daß bezüglich ocS von den Freisinnigen in Kulmbach geäußerten Wunsches, es möchten Mittel und Wege gefunden werden, um ein allgemeines Zusammengehen der beiden liberalen Parteien bei künftigen Wahlen zu ermöglichen, im Princip auf beiden Seiten die Bereitwilligkeit vorhanden sei, zusammenzugehen und sich zu unterstützen. Damit werde mancher Kamps und manche Feindschaft vermieden werden. Diese Ankündigung wurde von der Versammlung mit lebhaftem Beifall ausge nommen. Der „Fränk. Kurier" bemerkt hierzu, er könne be stätigen, daß auf freisinniger Seite an maßgebender Stelle die Bereitschaft bestehe und auch an maßgebender liberaler Stelle ausgesprochen worden sei, bezüglich künftiger Wahlen zu einem Einverständnisse zwischen beiden Parteien zu gelangen, und daß dieser Gedanke bei den maßgebenden Persönlich keiten der anderen (nationalliberalen) Seite auf ver- ständnißvolles Entgegenkommen gestoßen sei. Jeden falls handelt eS sich bei diesen Einigungsbestrebungen in erster Linie um die Reichstagswahlen, einmal weil diese früher stattfinden, als die nächsten bayerischen Land tagswahlen, und zweitens weil für die letzteren bereits ein moäus vivoulli besteht. ES ist wahrlich für die liberalen Parteien Bayerns, wo die Parteiverbältnisse ganz anders sind, als z. B. bei uns in Sachsen, höchste Zeit, an eine folche Einigung zu denken, denn eö handelt sich heute nickt mehr um das Cent rum als einzigen Gegner, sondern in immer steigendem Maße auch um die Social demokratie und um den Bund der Landwirthe. Was den letzteren anlangt, so sei nur daran erinnert, daß er soeben bei den ReichstagScrsatzwablen in Bayreuth und Forchheim eigene Candidaten aufgestellt und daß er bei der letzten all gemeinen Wahl in der Pfalz (Kaiserslautern) einen national liberalen Wahlsitz erobert hat. Für die steigende Anmaßung der Socialdemokratie aber spricht die nachfolgende Auslassung der socialistischea „Münchener Post": „Im katholischen Süddeutschland wird in absehbarer Zeit das politische Kampsseld nur noch von zwei Gegnern beherrscht werden, von der Socialdemokratie und dem Centrum . . . Man mag die allmähliche Ausreibung des bürgerlichen Liberalismus be dauern oder preisen, sie entspricht einer Entwickelung, die sich nicht aushalten läßt, und ihre stärkste Ursache liegt in diesem Libe- ralismus selbst." Nun liegt ja für die Gegenwart in dieser Behauptung eine starke Uebertreibung, denn die Liberalen Bayerns sind im Reichstage, vor Allem aber im bayerischen Landtage noch erheblich stärker vertreten als die Socialdemokratie, daß aber die Behauptungen deS socialdemokratischen Blattes sür die Zu kunft nicht zur Wahrheit werden, dafür kann nur eine Einigung zwischen den liberalen Gruppen forgen. Freilich hat wenigstens hinsichtlich der ReichStagöwahlen diese Einigung, da der Liberalismus nur in der Pfalz, im Norden von Alt-Bayern und in München und Kempten-Jmmenstadt auf Erfolge rechnen kann, nur einen beschränkten praktischen Werth, und auch diesen nur, wenn die Einigung sich zwischen allen liberalen Gruppen erzielen läßt, also auch hinsichtlich der süddeutschen Volkspartei. Es käme dann in Frage 1) der Wahlkreis Speyer, der bis zum Jahre 1878 immer liberal vertreten gewesen ist und erst in diesem Jahre an die Socialdemokratie überging; 2) der Wahlkreis Landau, der zwar noch nationalliberal vertreten ist, aber bei den letzten Wahlen nur noch mit einer Mehrheit von 1100 Stimmen in der Stichwahl behauptet werden konnte, während früher das Centrum niemals auch nur in die Stichwahl gelangen konnte; 3) der Wahlkreis Zweibrücken, der früher immer mit erheblichen Mehrheiten behauptet wurde, während diesmal in der Stichwahl dem Centrum nock nicht 300 Stimmen fehlten, um zum Siege zu gelangen; 4) der Wahlkreis Kaiserslautern, der aus nationalliberaleu Händen in den Besitz des Bundes der Landwirthe übergegangen ist; 5) der Wahlkreis H o f, der durch die Socialdemokratie ziemlich gefährdet ist; 6) der Wahlkreis B a y r e u t h, in dem die Socialdemokratie ebenfalls von Wabl zu Wahl an Stimmenziffer zugenommen bat; 7) der Wahlkreis Forch heim, der vom Centrum zurückzuerobern ist; 8) der Wahl kreis Erlangen-Fürth, der bei den letzten allgemeinen Wahlen zum ersten Male der Socialdemokratie in die Hände gefallen ist und 9) der Wahlkreis Kempten-Jmmenstadt, der trotz der bei Weitem überwiegenden katholischen Bevölke rung sür den Liberalismus erobert werden kann, wie die Wahlen von 1871—81 und 1887 beweisen. ES wäre immer hin schon von großem Werthe, diese Wahlkreise dem Libe ralismus zu sichern bezw. sie neu zu erobern. Die weißen Arbeiterführer in Witwatersrand in Südafrika haben jüngst eine Vereinigung gebildet, welche die Ausarbeitung und Durchführung eines poli tisch c n R e f v r m p r o g r a m ur s bezweckt. Es ist sehr radilär und enthält folgende Punctc: 1) Stimmrecht für alle Weißen, die das 18. Lebensjahr überschritten haben; 2) Besteuerung der Bodenwerthe ohne Berücksichtigung von Verbesserungen; 3) gleiche Wahlbezirke nach Maßgabe der weißen Bevölkerung; 4) alle Wahlen sollen an einem und demselben Tage abgehaltcn werden, der zu einem öffentlichen Feiertag gemacht werden soll, und zur Sicherung der Reinheit der Wahlen sollen am Wahltage alle Wirthschaftcn geschlossen bleiben. Andere befür wortete Maßregeln sind: Geheimhaltung der Abstimmung; Besoldung der Mitglieder der Volksvertretung und der Vollzugsräthe, eine gewählte Erste Kammer, die An erkennung der Achtstundenarbeit in allen Regierungs bureaus und Werkstätten, die Anwendung des Fabrik gesetzes, die Regelung der Arbeitsstunden, die Abschaffung der Unterverpachtung von Contracten und des Schwitz systems, die bessere Ventilirung von Bergwerken und ge sunde Wohnungen für Bergleute. Die Vereinigung wird überdies befürworten: Die Verstaatlichung der Eisen bahnen, der Pferdebahnen, der Post, des Telegraphen und des Telephons, der Wasserversorgung und der öffentlichen Beleuchtung in Städten und Flecken, ferner die Untersagung der Einführung asiatischer Arbeitskräfte, die Begründung eines südafrikanischen Bundes, die Ver staatlichung des Verschleißes berauschender Getränke, -en Schulzwang, das Zwangs-Schiedsgerichtsverfahren in allen Arbeitsstreitigkeiten, die Festsetzung eines MindestlvhneS für Weiße und Schwarze, einen Gesetzent wurf zur Ermunterung der Ansiedelung nach neusee ländischem Vorbild und eine abgestufte Einkommensteuer auf Gehälter in der Höhe von über 500 Pfund Sterling. Die Arbeiter, so heißt es, würden die Goldminen industrie getreulich unterstützen und nicht dulden, daß sie übermäßig besteuert würde. Der australische Staatenbund ist dasjenigeLand, wo die socialistischen Ideen und Bestrebungen am meisten Eingang und Verwirklichung gefunden haben. Es wäre aber sehr falsch, zu glauben, daß nunmehr die wirthschaftliche und sociale Lage der einzelnen Staaten eine glückliche und daß im Besonderen die Arbeiterbevöl kerung mit dem, was sie thatsüchlich erreicht hat, zufrieden sei. Nachdem die Arbeiter ihre Forderungen, betr. die gesetzliche Einführung des Achtstunden-Arbeitstagcs und eines freien Nachmittags in derWoche, sowie dieGcwährung ganz außerordentlich hoher Lohnsätze, üurchgesetzt haben, sind sie neuerdings mit weitergchenden Ansprüchen her- vorgetrcten, die sich auf die Beschränkung der Zahl der Lehrlinge, auf die Zulassung der Streiks als Agitations und Kampfmittel, endlich auf die Streichung der zur Hebung der europäischen Einwanderung ausgeworfenen Summen sich erstrecken. Wie erinnerlich, hat das Bundes parlament durch Annahme der „Einwandererbcschrän- kungsacte", durch welche die farbigen Arbeiter von den australischen Arbeitsplätzen ausgeschlossen werden, den auf die Fernhaltung cvncnrrenzfähiger und billigerer Arbeits kräfte abziclendcn Bestrebungen der „Labour Party" be reits Rechnung getragen. Es ist den socialdemvkratischcn Einflüssen weiter gelungen, die Ausdehnung des Verbotes auf italienische, portugiesische, griechische und russische Ar beiter zu veranlassen, vorzugsweise als solche, die an nie drige Löhne und einfache Verhältnisse gewöhnt sind. Nach solchen Erfahrungen und nach den sichtbaren Erfolgen der socialistischen Führer scheint jetzt endlich den übrigen Schichten der australischen Bevölkerung, besonders den nichtsocialistischcn Mitgliedern der gesetzgebenden Körper schaften, dasBewucktscin zu kommen, daß sie durch ihr nach giebiges Verhalten gegenüber den maßlosen Ansprüchen der Arbeiterpartei nicht nur sich selbst jeden Einflusses auf die Gestaltung der politischen und wirthschaftlichcn Lage des Landes begeben, sondern auch die in erfreulicher Ent wickelung begriffenen industriellen und landwi^thschaft- lichcn Unternehmungen der australischen Staaten dem finanziellen Ruin nahe gebracht haben. In den Parla menten sowohl der einzelnen Staaten wie im Bundes parlament dominirt die Socialdemokratie, die Regierungs partei ist nicht nur völlig ohnmächtig, sondern sogar so weit den socialistischen Theorien und Einflüssen verfallen, daß sie ihrerseits die Forderungen der Arbeiterpartei unter stützt und alles thut, um die Wünsche dieser „Herren der Situation" zu befriedigen. Sv wird berichtet, daß bei Gelegenheit eines Streikes von Werftarbeitern in Neu- Süd-Walcs die Negierung dieses Staates sich erbot, für die Ausständigen staatliche Werften zu errichten und in Betrieb zu nehmen, wenn die betreffenden Arbeitgeber die socialistifchen Forderungen nicht bewilligen sollten. Be kanntlich ist der Staat auf demselben Wege zur Ucber- nahme des Betriebes der Eisen- und Straßenbahnen ge- Ferrillrtsn. — Das Fraulein von Saiut-Sauveur. sj Roman von Grevkl le. (Nachdruck verboten.) „Nun, Yolande?" sprach die Mutter. „Was denn, Mama?" „Welchen Wagen sollen wir zum Bahnhof schicken, um Herrn Jehan von Olivettes abzuholen?" Yolande lag auf einer Chaiselongue in ihrem Boudoir zu Schloß Tournellcs, das nach englischer Art mit wenig bequemen Sitzgelegenheiten und dünnleibigen Möbeln ausgestattct war und zum Uebcrfluß einen Fries aus übergroßen, holzgcschnitzten Sonnenblumen aufwicS. Nachlässigen Tones erwiderte sie: „Nun, ich denke doch, den englischen Sandschncider mit dem besten Pferde." „Könnte man nicht den Landauer oder die Victoria.. Yolande fiel ihr ungeduldig ins Wort: „Einen jungen Mann kann man nur mit einem Sand schneider abholcn lassen; ein anderer Wagen wäre nicht schicklich." Die schlauen Augen der Notarwittwe glitten durch den ganzen Raum, um auf ihrer Tochter haften zu bleiben, die, nach der Mode der jungen englischen Damen gekleidet, von einer geradezu unerlaubten Magerkeit war. Die würdige Dame rückte unruhig auf ihrem Sitze hin und her und sagte endlich: „In diesem kleinen Salon giebt cs aber nicht einen bequemen Sitz! Und dann muß ich Dir auch sagen, daß Du sehr unvorthcilhaft gekleidet bist! Dieses Gewirr gelben Moussclins kleidet Dich durchaus nicht." „Das ist Gcschmacksache, Mama!" erwiderte die liebens würdige, junge Dame trocken. „Ich menge mich nicht in Deine Toilettenfragcn; bitte, laß mich auch in den meinige» nnbehelligt." „Aber wenn Dir das Zeug wenigstens gut zu Gesicht stünde!" versetzte die Mutter. „Aber mit diesem zer knüllten Jammcrfetzcn siehst Du aus, als hätte man Dich aus dem Wasser gezogen . . . Und zum Uebcrfluß diese geblähten Bänder, die Dein Gesicht noch länger erscheinen lassen . . ." „Mama, Du bist freilich unschuldig daran, daß Du die neuesten Moden nicht kennst; aber wenn ich Dich schon frei mit meinem Vermögen schalten und walten lasse, so, bitte, laß mich unbehindert in allen Dingen, die sich auf meine Toilette beziehen." Das ließ sich die Notargattin gesagt sein. Wenn Yolande in fvlchcm Tone über die Verwaltung ihres Ver mögens sprach, so war sie niemals ganz sicher, daß ihrer Tvchler gewisse Verrechnungen, die recht schwierig zu er klären gewesen mären, unbekannt seien. Nachdem sie die Augen nochmals durch alle Ecken des Raumes hatte gleiten lassen, nahm sie die Unterhaltung wieder auf. „Dieser Herr ist gewiß sehr reich, wie? Seine Gedichte müssen ihm ein Heidengeld cintragcn, nach dem Lärm zu urtheilen, den sic machen." „Ich denke auch", erwiderte Yolande. „Das ist aber nicht das Wichtigste. Weit größere Bedeutung lege ich der Stellung bei, die er in der Künstler- nnd Schriftstcllcrwclt einnimmt." Die Notarwittwe nagte an der Unterlippe, wie immer, wenn sie angestrengt nachdachte. Dann sagte sie mit einem Male: „Der Mann ist wohl sehr berühmt?" „Du stellst lächerliche Fragen, Mama" erklärte Yolande. „Wäre er nicht berühmt, so hätte ich ihn nicht cingcladen. Du weißt doch, daß man sich in Nizza förmlich um ihn riß." „Du würdest ihn also heirathcn?" Yolande richtete sich in ihrer ganzen Höhe empor, wo bei die Falten ihres aus Mvusselin Liberty angcfcrtigtcn Kleides weit an ihr nicdcrflossen. „Ob ich ihn heirathcn werde oder nicht, hängt von sehr vielen Dingen ab. Aber sein Vermögen wird jeden falls die geringste Rolle dabei spielen, verstehst Du, Mama? Vor allen Dingen will ich den Damen in Bourges zeigen, daß wir die Einzigen sind, die einen Pariser Dichter im Hause haben. Sodann bin ich reich genug, um mir einen Gatten zu bezahlen, der arm ist wie eine Kirchenmaus . . ." „Vorausgesetzt, daß Du Dir die freie, unbehinderte Verwaltung Deines Vermögens vorbchältst", meinte die vorsichtige Mutter. „Selbstverständlich", erklärte Yolande. „Wann willst Du unser erstes Diner geben? Wir müssen dem Mann zeigen, daß wir vornehmen Verkehr haben." „Am Sonnabend, wenn cS Dir recht ist", gab die Mutter zur Antwort. „Ich kenne aber eine Menge Leute, die sich zu einem Diner nicht einfindcn werden . . .". „Weshalb nicht s fragte Yolande hochmüthig. „Weil sie uns nicht auch zum Speisen laden wollen. Die Familie Saint-Sauveur beispielsweise. Eher kämen die Leute noch zu einer. . . einer. . . Wie nennst Du das? Ein Fest im Park mit Musik und Erfrischungen..." „Du meinst eine „Garden-Party"", erklärte Yolande mit ernster Miene. „Wenn Du willst, Mama, kannst Du die Sachen sehr schön machen. Am Sonnabend also ein Diner mit nicht zu vielen Gästen. Herr und Frau von Landois, der Oberst mit seiner Frau und noch einige Andere. Am Dienstag oder Mittwoch sodann eine „Garden-Party", zu welcher wir alle irgendwie in Be tracht kommenden Personen einladen werden." „Dann werden wir zugleich ermessen können", sagte die Wittwc, „wer gegen und wer mit uns ist." „Da irrst Du, Mama", sagte das junge Mädchen, die Falten seines weichen Mousfclinkleides über dem hageren Busen zusammenziehend. „Die Leute werden aus Neu gierde, nicht aber aus Sympathie kommen. Zum Bei spiel diese Antoinette von Saint-Sauveur, die ich so wenig leiden kann, und die dies sicherlich von Herzen erwidert. Sie wird aber gleichwohl mit ihrem Vater kommen, ob schon sie die Nase so hoch trügt. Auch sie ist ästhetisch ver anlagt und wird hocherfreut sein über eine Gunst, die sic mir übrigens thcucr bezahlen soll." „Nun gut", sprach die Mutter. „Ich gehe jetzt in mein Zimmer, in dem ich ein paar weiche Fauteuils habe und überlasse Dich Deinen dünnleibigen Möbeln. Ueber- dicö wird mir übel, wenn ich Deine Sonnen blumengarnitur sehe." Yolande lächelte geringschätzcnd, wobei sie ihre Zähne sehen ließ, die weder schön noch weiß waren, und damit trennten sich Mutter und Tochter, ohne ihre wahren Ge danken enthüllt zu haben. „Er wird mich auch mit Ausschluß der Gütergemein schaft heirathcn", dachte sich Yolande. Sie war nicht um sonst die Tochter eines Notars. „Wenn sich nur Antoinette von Saint-Sauveur in diesen Tölpel vergassen möchte", sagte sich die Mutter im Stillen. „Da sie gewohnt ist, in Allem und in Jedem ihren Willen durchzuseycn, brauchte ich mich wenigstens diesmal nicht zu beunruhigen." Viertes Capitel. Jehan von Olivettes stieg aus dem Sandschncider, der ihn vom Bahnhöfe abgcholt hatte, eilte die Stufen der Freitreppe hinauf und trat in die Vorhalle, wo ihn die beiden Damen erwarteten. Er küßte ihnen mit großer Förmlichkeit die Hände und verbeugte sich dabei wie ein Edelmann aus längst ver gangenen Zeiten. Wäre sein kleiner Filzhut mit einem Fcdcrbusch geschmückt gewesen, so hätte derselbe sicherlich den Boden gestreift. Doch ist derlei nicht mehr in der Mode. In sehr verständlichen Worten — denn unverständlich war er nur in seinen Gedichten — erkundigte er sich nach dem Befinden der Damen, sprach dann auch Einiges über sich selbst und ließ sich sodann in das für ihn bestimmte ästhetische Zimmer führen. Während er sich umkleidete, ließ Frau von Tournellcs ihren Gedanken freien Lauf. „Er ist gut gekleidet", sagte sic zu ihrer Tochter, „und gleichwohl sieht er nicht aus, wie Einer, der etwas hat. Ich möchte wissen, ob er mit sich selbst wirklich so zufrieden ist, wie er sagt. Auch kommt er mir viel häßlicher vor, als er in Nizza war. War das vielleicht die Wirkung der südlichen Sonne? Er erschien mir mehr . . ." „Um Gottes Willen, Mama, lassen wir ihn doch zu frieden. Warten wir doch wenigstens, bis er sich ge waschen nnd nmgekleidct hat. Im Gespräch werden wir schon sehen, wer sich verändert hat, er oder wir . . ." „Nur bei richtiger Beleuchtung kann man den wahren Werth der Dinge erkennen", meinte die Notarwittwe, die sich entfernte, nachdem sie diesen Partherpfeil abgeschossen. Eine Stunde später kam Jehan zum Vorschein; doch hatte man keine Zeit, sich ein Urtheil über ihn zu bilden, denn wie auf Verabredung fanden sich, von der Neugierde getrieben, alle Damen, die am Sonnabend geladen waren, zu einem kurzen Besuche ein. Olivettes hatte sich aufs Entschiedenste geweigert, den hohen geschnitzten Stuhl zu besteigen, den ihm Frau von Tournellcs anfänglich durchaus anwciscn wollte, damit er ja von Jedermann gut gesehen werde. In einer Fenster nische lehnend, verstand er, sick die Damen zuzugescllcn, die ihm interessant dunklen, gleichviel ob sie gerade kamen oder sich bereits entfernten. Die hübsche Frau von LandoiS nahm ihn während einer ganzen Stunde in Anspruch, worüber Yolande nicht wenig aufgebracht war. Doch was sollte sie gegen dieses reizende Geüch» und gegen diese unerschöpfliche Quelle neuester Nachrichten anfangcn? Olivettes bekundete gegen Jedermann das gleiche gönnerhafte Wohlwollen, ohne mit Jemand zu sprechen oder Jemand zuzuhören; allein Frau von Landois ließ
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