Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 05.07.1903
- Erscheinungsdatum
- 1903-07-05
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
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- Public Domain Mark 1.0
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- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-190307053
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- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-19030705
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-19030705
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
- Monat1903-07
- Tag1903-07-05
- Monat1903-07
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- Titel
- Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 05.07.1903
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Reklamen mttrr dem Redaktiousstrich ftgrspalle«) 7t vor den FamUiemrach' richte» «spalten) VO Tabellarischer ttnd Ziffernsatz entsprechend hoher. — Gebühren für Nachweisung«« uud Offerteaaunahme Lk (exrl. Porto). Extra-Beilage» (grfalzy, nur mit der Morgeu-AuSgabe, ohne Postbrsörderung 60.—, mtt PostbrsSrderung ^l 70.—» Auuahmrschluß fiir Äuzeizen: Sbeud-Au-gab«: vormittag» 10 Uhr. vtorgeu-SuSgabe: Nachmittag» 4 Uhr. Anzeige« sind stet» au dia Expedition zu richte». Die Expedition ist Wochentag» vnnnterbrocheu geöffnet von früh 8 bi« abeud» 7 Uhr. Druck und Verlag voü L. Polj in Leipzig. Nr. 33«. -MLSMSMS Aus -er Woche. Hat man in den letzten MonalrN vor der Reich»tags- wahl im Bolle eine eigentliche Bewegung vermißt, so geben jetzt, nach dem Sturme, die Wogen ziemlich hoch. Es sieht fast so au», alS sollte der 16. Juni nicht einen Abschluß, vielmehr einen Anstoß zu neuer Entwicklung gebracht haben. Der sozial» demokratische Erfolg ist e«, der sv viel zu denken, zu reden nnd hoffentlich auch zu handeln gibt. l/sxeös äu Wal ou ckvvieut Io rsmdcks. Wenn e» gar zu schlimm geworden ist, fängt oft die Besserung an. Deren Keime sind schon jetzt in den ernsten Betrachtungen zu erkennen, die von den Organen der nstionalliberalen Partei angestellt werden. Am unmittelbarsten ist in Baden die' Wirkung gewesen. Der Mißerfolg Bassrrmann» bat den ersten Fürsprecher der Verständigung mit dem Zentrum veranlaßt, von der Leitung des Karlsruher Nationalliberalen Vereins zurück^utreten. Aus diesem Schritte ist jedoch nicht der Schluß zu ziehen, daß »ine Ver ständigung sich als wirkungslos erwiesen hätte. Die Karlsruher Niederlage ist vielmehr eine Folge davon, daß eS nicht gelungen war, sich zu verständigen. Damit aber haben wir den Kern der ganzen Frage. Es gibt keine haltbare Verständigung mit dem Zentrum. Der Ultramontane ist kein verläßlicher Bundes» genosst für den Kampf gegen die Sozialdemokratie. Die Iunglibrralen Badens und Gesinnungsgenossen von ihnen in Sachsen, Bayern und in Köln vertreten bewußt oder unbewußt den sebr richtigen Gedanken, daß der Besitz von Mandaten nickt der Güter höchstes sei, ja zum Uebrl werd«, wenn si« nur durch Bündnisse zu gewinnen sind, welche di« eigne Tatkraft lähmen und langsam aber sicher Partei« gruppen abstoßrn, auf di« man rechnen dürfte, w««» «Sv allein stände und Nickt verantwortlich gemacht werden könnt» für fremde Fehler. Bei un» in Sachsen bricht sich diese Er kenntnis «rst jetzt Bahn, da kein einziges Mandat mehr vor handen ist. Die Verständigung mit anderen Parteien wollen wir nicht als den einzigen Anlaß zu diesen Verlusten bezeichnen. Daran aber ist nicht mehr zu rütteln, daß sie nicht genügt hat, dem bürgerlichen Anspruch« auf NeichStagSmandate auch nur bescheidenste Befriedigung zu verschaffen. Der panik artige Nuf nach Beseitigung deS exklusiven sächsischen Land- tagSwahlrechtS ist eine spontan« Rückwirkung dieser explosiv über die Menschen gekommenen Erkenntnis. Bei solcher Stimmung gilt e» jedoch, sich in den Täten nicht zu über stürzen. ES häite keinen Sinn, rin allgemeines, gleiches und direkte» Landtags-Wahlrecht zu schaffen, weil man gesehen hat, daß diese» Recht aus dem Reichstage alle bürger lichen Kandidaten Dachsen» vertreibt. Man darf nicht kapitulieren vor der Sozialdemokratie, der eben doch auch in Sachsen vi« stattlichsten Minoritäten, wenn matt zählt, die imposantesten Mehrheiten, wenn man die St»nm«n wägt, gegenübergestanden haben. Es gilt jetzt vielmehr, zu einem wahrhaft liberalen, der Be sonnenheit darum nicht baren Entschluss« zu kommen. Da» ist es ja, was die Sozialdemokratie am meisten fürchtet. Au« der Geschichte müssen ihre Führer und Publizisten wissen, daß radikaler Wechsel ohne schwere Erschütterungen unmöglich ist, daß nur Reform und nicht die Revolution im stände ist, ein Uebcl zu beseitigen, ohne daß an seine Stelle sofort ein andere«, meist schlimmeres tritt. Wenn schon jetzt bei dem ersten Zeichen der Geneigtheit zu wahlrechtlichem Entgegen kommen der „Vorwärts" schreit: entweder das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht oder gar nichts, — so verbirgt sich d^inter die Angst, daß gesunde Reformen auch in Sachsen den Sinn der Bevölkerung von der Sozialdemo kratie wieder abwenden möchten. Diese sozialdemokratischen Beklemmungen sind ein wertvoller Fingerzeig für da», was unsere Liberalen jetzt zu leisten haben. Mit dem „Scharf machen" wird wenig zu helfen sein. Einer Partei, die drei Mil lionen Wähler an die Urne gebracht hat, ist mitPolizeimaßregeln nicht beizukommen. Nur eine produktive, die Mißstimmung hebende Politik, nach der auch in den Reihen des maßvollen Bürgertum« immer lebhafter verlangt wird, birgt die Aus sicht auf Beseitigung de« großen Minus in sich. Auch in der Nervosität, mit der im „Vorwärts" der von Bernstein angeregte Wunsch, die Partei im Präsidium de« Reichstags künftig vertreten zu sehen, abgelehnt wird, zeigt un», wie unheimlich den Führern der Sozialdemokratie eine Abschwächung deS Gegensatzes zu den anderen Parteien wird. Di« Sache selbst hat so viel )ncht auf sich. Sie ist insofern unter einen falschen Gesichtspunkt gebracht worden, als sie sofort mit dem Namen Singers verquickt worden ist. So liegen aber die Verhältnisse denn doch nicht, daß in irgend einem Falle die Parteien die Verpflichtung haben könnten, einen von der Sozialdemokratie präsentierten Be werber zu wäblen ohne Ansehen der Person. Der gesamt« Reichstag, nicht aber die zweitstärkste Fraktion wählt den Vizepräsidenten. Maa räumt ihr nur gewohnheitSgemäß daö Recht de» Vorschläge- ein. Aber kaum ein Sozialdemokrat ist al» Mitglied de- Präsidium» für die anderen Parteien so unmöglich, wie Siager- Daß er viel Geld und einen unproletarischen Beruf Sonntag den 5«. Juli 1903, bat, macht nicht sein unwürvigrSBetragt«, wie e« zur Schänd« des Reichstag« die Dezembrr-Kämpf« gezeigt haben, vergesse«. Der Mann, den von rrchtSwegm di« Diener au« dem Saale hätten hinausfüyren müssen, gehört nicht an de« Präsi- denteutisch. Dagegen würde gegen Leut« wie v. Vollmar kein persönlicher AblehnungSgrund geltend zu machen sein. Und wen« lediglich di« Stärke dtt Partei dazu ge führt hat, daß in den letzten Jahren ein Zentrum«ma«n die erste Ehrenstelle im Reichstag« eingenommen hat, so ist nicht einzusehen, warum nicht au« demselben Grunde die zweite Stell« einem Sozialdemokrat«» zukvMmen sollte. Aber der Kaiser muß doch die Präsidenten empfangen, so wird mit bebenden Lippe» eingrwrNdet. Da möchten wir nun meinen, daß ein solcher Gesichtspunkt doch nur sehr wenig bedeuten konnte, Aufgabe de« Präsidenten ist es, Vie Verhandlungen gerecht Uttd geschickt zu litten. Berechtigte Zweifel daran, ob t« Sozialdemokratin gibt» die da« zu leisten vermögen, müßten vollste Beachtung finde». Die repräsen tativen Aufgaben dagegen können wir nicht so hoch ait- schlagen. Der die Absätze zusammenklappendr Kavallerist und der tief sich beugende Kammerherr habe» durch Jahre dem Kaiser die falsche Vorstellung erwecken könne», al« seien diese Chargen gewissermaßen typisch für die Zusammensetzung des Rtick-tags. Sieht aber der Kaiser, so oft it den Präsidenten des Reichstage» begegnet, unter ihnen an zweit«» Stelle einen Sozialdemokraten, so wird da» di« Illusion brs«Itigen, al« könne man mit «in paar Tischreden oder Ermahnungen an Kruppsche Arbeiter „mit der Sozial demokratie fertig werd»»". Dem NeickStag selbst wÜrd« eS zu dem recht förderlich sein, wen» al« Leite« de« Verhandlung ein Sozialdemokrat einmal am ktg«n«n Leibt spürte, welche Hemmnisse ein«, geBihlnhe« Arbeit durch di» bauernden Zwischenruf« und »bstruktivn-artige» Manöver in den Weg gelegt w«td«n. Aber da« fürchten st« grrad«. Wie woll«u si« später bei den Wahlen über Unterdrückung klagen, Wenn doch auch ihnen zu einflußreichstem Wirken di« Bahn frei geworden ist! Voller Angst schreibt der „Vorwärts": „Wir kennen nur zu gut die Schwierigkeiten, die un- au« der Teilnahme am Präsidium erwachsen können. Wir haben auch nichts dagegen rinzuwenden, wenn die groß« Mehrheit der bürgerlichen Parteien durch eine Nechtsvergewaltiguag sogleich bei Beginn der nächsten Gesetzgebung-Periode sich al« eine geschlossene reaktionär, Masse gegenüber der Sozialdemo kratie, der Dreimillionen-Partei de« arbeitenden Volke», er weisen will!" Diese Angst ist nicht fingiert. Der Kompromiß ist es, den sie am meisten fürchten. So ein bißchen Mille rand würde auch in den deutschen Wein der Sozialdemokratie Wasser gießen, die agitatorische Schwungkraft lähmen. Jeden falls ist eine derartige direkt« Aufforderung, «« beff«r zu machen, ein bessere» Mittel gegen die Sozialdemokratie, al» die rührselige AnbiederUngSdevis« de« „ehrlichen National liberalen", von dem di« „Köln. BvlkSztg." zu «»zählen weiß, daß er seine Parteifreunde ermahnt habe: »Fasse» Sir nicht den Vorsatz, nach fünf Jahren Vergeltung zu üben, wenn dann etwa der Zentrum-kandidat mit dem sozialdemokratische» Kandidatin in di« Stichwahl kommen sollte; da« wär« un klug. Wir wollrn di« wahlfreien Jahre bruutzen, uns besser verstehen zu lernen, damit, wenn wiederum dir Ruf: „Auf zur Wahlschlacht!" erschallt, da- Zentrum bereit ist, un«, oder wir, dem Zentrum b«izust«hra mit aller Macht für die staatlich« Ordnung, für Thron und Altar/ Diese Stich- wahl-Jeremiade mag nach dem Hrrzrn d«< „Krruzztg." s«in, liberal ab«r ist sie nicht, und auch, nicht klug, weil «den gerade diese Wahlen gezeigt haben, daß auf da» Zrntrum nur dann Verlaß ist, wenn es sich für einen Point, d«n «« un« zukommen läßt, deren zwei für die eigen« Rechnung sichert. Da- liberale Bürgertum muß die Kraft wiedergewinnen zum Kampfe gegen zwei Fronten. Wie wir unser Deutsche- Reich nicht hätten, wenn mit Franzose» 1866 gegen Oester reich oder mit fremder Hüls« 1870 gegen Frankreich Preußen gekämpft hätte, ebensowenig kann durch «in Bündni« von Ultramontani-mu» «ad Liberalismus der sozialdrmokratea-reine Staat geschaffen werdrn. Selbst wenn e« gelänge, so wäre di« Zeche, die wir in die Hand der schwarzen Freunde zahlen müßten, sehr viel beträchtlicher, al« vorher die an die Sozialdemokratie verlorene Summe politischen Einflusses war. Was nun? Unter dieser Ueberschrift richtet die „Straß. Post" infolge der Erfahrungen, die da- Straßburger Bürgertum bet den RcichstagSevahlen gemacht hat, eine höchst be- herzigenswerte Mahnung an seine Leser. Knüpft sich diese Mahnung auch an speziell Straßburger Verhältnisse, so verdient sie doch allgemeine Beachtung,' denn im großen und ganzen trifft das, was die „Straß. Post" an diesen Verhältnissen zu tadeln und zu bessern findet, auf da ganze Deutsche Reich zu. Die Mahnung lautet: Zentrum und Sozialdemokratie haben den großen einigenden Gedanken: Religion — Ar beiterherrschaft und wissen ihre Anhänger darauf zu entflammen, zu begeistern, zu fauatt- fieren. Was kann brr bürgerliche Libe ralismus, der nicht mit Schlagworten ope riert, nicht mit Phrasen arbeitet, keine Utopien kulti viert, sich nicht ans Gemüt, sondern au den nüchternen Verstand wendet, an wervendrr Kraft dagegen einsetzen? Nur wenig, daher findet er seine Anhänger auch nicht in den Massen, die auf die Parole hin marschieren, sondern in den Schichten der politisch Gebildeten und Bildungs fähigen. Und dazu sind natürlich viele, die sozialdemo- kratich wählen, nicht deshalb auch Sozialdemokraten, sondern eigentlich liberal gesinnte, aber aus irgend einem Grunde Unzufriedene Bürger. Ihre Stimmen aber gehen dem Liberalismus verloren. Weshalb dieser Zwiespalt zwischen Anschauung und Bekenntnis bei diesen Pseudo- Sozialdemokraten. die man unter dem Namen der „Dfit- läufer" zufammenfatzt? Ein Wort gibt Antwort auf die Frage. Es heißt: Unzufriedenheit. Die Leute sind unzufrieden. Warum? Weil ihnen irgend etwas nicht patzt iw Reiche. Und da beginnt das große Sammel becken der Unzufriedenheit. Die Einzelheiten sind oft er wähnt worben. Dem einen sind die Steuern zu hoch,' ein anderer beschwert sich über die Rechtspflege, be sonder- in Strafsachen: der -ritte ärgert sich über den zu nehmenden Byzantinismus, die Neigung zu äußer lichem Prunk und Pomp, die immer wachsende Pensivnslast und die unaufhörlichen Veränderungen in der Be k l ei - u n g u n b AuSrüstung der Armee,' wieder ein anderer empfindet das Protektions wesen, den Kastengeist, die Vertiefung der Klüfte, welche die verschiedenen Stände trennen. Abhülfe? Ein Zettel mit dem Namen eines »Sozialdemokraten! Noch andere werden durch persönliche Erlebnisse und Vor kommnisse beeinflußt. Mangel an Wohlwollen seitens eines Vorgesetzten: ein Protokoll; die Zurückweisung eines Gesuches, das unter annähernd gleichen Verhältnissen einem anderen Bittsteller genehmigt wurde. Quittung: ein Wahlzettel Mit dem NaMen des „Feindes der Regie rung". Nützt es auch Nicht unmittelbar, so „sollen sie sich doch -rgernl" Die Gteuerzettel sind noch nicht verteilt worden, „Aha, man will und absichtlich täuschen!" Zettel für Bühle. „Der General Farny hat keine Aufenthalts erlaubnis bekommen." Zettel für Bühle. Und so weiter und so weiter. Abhülfe wäre da nur möglich durch eine richtige Erziehung in politischem Sinne, aber — da liegt der wunde Punkt der politischen Arbeit auf liberaler Seite. Mir wollen mit rückhaltloser Offenheit sprechen, im Gefühle unserer Pflicht und unserer Verantwortung. Wir wollen alles aufbieten, was nur in unseren Kräften steht, um unsere politischen Freunde Zu erhöhter Wachsamkeit anzuspornen und um das Bürgertum üus seiner Lauheit, seiner Gleichgültigkeit aufzurütteln. Soöarfesnicht noch einmal gehen! Wir müssen irns anf liberaler Sette rüsten, um nicht, wie diesmal, zu vorgerückter Zeit ohne systematische Vorbereitung ungeschult in den Kampf zu gehen, alle Einrichtungen Zu improvisieren, im letzten Augenblick alle Hülfstrnppen zirsammenzu-raffen und in einer Schlutzattacke, bei welcher Mann und Pferd die letzten Kräfte ausgevumvt werden, den Sieg an unsere Fahne zu fesseln. Wir müssen die Organisationen, die war haben, auch wirklich benutzen; wir müssen, wie die Sozialdemokraten, die Zeiten, in denen Nicht gewählt wirb und keine politischen Entscheidungen im Vorder grund« -er öffentlichen Aufmerksamkeit stehen, kurzum die politische nFriedeuszetten, zur Vorberei tung anf die Wahl, auf die politische Schlacht benutzen. Wir müssen exerzieren. Paraden und Manö ver abhalten, müssen Unausgesetzt mit -er Vervollkomm nung unseres politischen Heeres und der Erhöhung seiner Schlagfertigkeit beschäftigt fein, müssen «ohlgerttstet, ge sammelt und ruhig in die Schlacht ziehen. Wie sieht es jetzt aus? So traurig, daß nur die Not uns zwingen kann, es offen einzugestehen. Die Katholiken sind auf seiten der bürgerlichen Parteien am besten organisiert, so weit wir es beurteilen können. Anf fetten der Libe ralen besteht zwar der Straßburger Bürgerveretn, und selbst die politischen Gegner werden ihm zugestehen müssen, baß er in der Wahlzeit mit Anspannung aller Kräfte ge arbeitet hat und erfolaaekrönt au- der Entscheidungs schlacht hervorgegangen ist; aber feine Unterstützung durch die weiten Kresse der liberalen Bürgerschaft, die ein geborene wie die eingewanderte, läßt — alle- zu wünschen übrig. Die Mttgliederzahl istvielzu gering; infolgedessen sind auch die Mittel, über welche die Organisation verfügt, viel zu gering. Unzählige liberale Bürger wollen eben nur kritisieren,aber nichtmit arbeiten! Sie haben an allen grundsätzlichen Ent schließungen und an allen AuSführungsmaßregeln eine Unmasse auszusetzen. Fragt man dann kühl zurück: „Ja, warum haben Sie denn bas im Bürgerveretn nicht offen gesagt?" so erhält man die ganz verwunderte Antwort: „Im Bürgerveretn? Ja, ich bin ja gar nicht Mitglied!" Und im demokratischen Verein steht es ebenso, oder viel leicht noch schlimmer! Da ist der Hebel anzusetzen! Es muß ernst und ztelbowußt gearbeitet werben! Wer sich für das politische Leben interessiert und in ihm Einfluß ausüben will, der muß vor allem seine Anschauungen auch dadurch betätigen, baß er einer politischen Organisation nicht nur beitrttt, sondern in ihr auch sein« Kräfte positiv entfaltet. Die politischen Verein« aber dürfen sich nicht darauf beschränken, nur Mahlvereine zu fein, sondern in ihnen mutz ein wirkliches politisches Leben herrschen, ein frisches, reges Lebcn, das an die Tages begebenheiten änknüvft und, von ihnen ausgehend, den Blick ins Weit« richtet. Ts mutz studiert werden. Herr Bühle sagte neulich in der Bersammlimg im „Union- Hotel" nicht mit Unrecht, daß man sich in bürgerlichen Kreisen viel zu wenig mit sozialen Kragen beschäftige; er hätte ruhig sagen können: mit politische» Kragen über- Haupt. Die Sozialdemokraten haben regelmävige politische Versammlunaen, DebattierklubS, Besprechungen. Da werden Zeitungen voraelesen und kritisiert; da werden neu erschienene Bücher besprochen, exzerpiert und kritisiert; da übt der junge Mann, der ins politische 87. Jahrgang. Leben eintreten will, feine Kräfte, da regt er die Schwingen zuerst im Kresse der Gesinnungsgenossen und zeigt sich, wenn rr fpäter einmal in einer gemischten Ver sammlung auftritt, meist als geübter Redner. Auf jeden Fall gewöhnt er sich daran, öffentlich zu sprechen, seine Gedanken zu entwickeln, die Einwürfe der Gegner zu widerlegen, kurzum, zü debattieren. Das müssen wir auch! Wir müssen der Heran wachsenden Generation die Liebe zu „Äaats- und gelehrten Sachen" zu Politik und Sozio logie beibringen; wir müllen uns selbst im Kreise der Ge sinnungsgenossen offen aussprechen; wir müssen sehen, daß wir kenntnisreiche und wirkungsvolle Redner heran ziehen, die zur Wahlzett — und auch sonst, denn wir sind dafür, daß nichts so erziehend UN- bildend und stärkend wirkt, wie die Aussprache in öffentlichen Versammlungen — unsere Ideen, die Ideen deS freisinnigen, jedem gesWiden Fortschritt holden Bürgertums verfechte», Deutsches Reich. Leipzig, 4. Juli. Das konservativ-offizielle,Mater- land" mahnt In beherzigenswerter Weise und in UebereiNstimmung Mit dem, was das „Leipz. Tagebl." kürzlich ausgeführt hat, zu größere* Opfer willigkeit der staatserhaltenden Par teien. Die Sozialdemokratie verfüge über ein Heer von Führern und Rednern, deren wirtschaftliche Existenz auf das innigste mit ihrem politischen Tun und Treiben verknüpft sei. Sie ständen unter fortwährender Be wachung, und sobald ihr Esser erlahme, flögen sie hinaus und würde» biötloS. Es liege auf der Han-, daß solche Leibeigene und Fronkwechte der Sozialdemokratie die Parteibefehle blindlings und mit Einsetzung ihrer ganzen Persönlichkeit durchführten. Den Führern der Ord- nungsparteieN erwüchsen au- ihrer mühevollen politi schen Tätigkeit keinerlei materielle Vorteile; im Gegenteil, sie müßten meist noch erhebliche finanzielle Opfer bringen. Auch könnten sie nicht die gleiche strenge Zucht üben; andernfalls wäre eine allgemeine Fahnenflucht die Folge. Die Vereins-Versammlungen der OrdnungSparteien seien in der Regel nur gut besucht, wenn ein Konzert ober ein Ball damit verbunden sei, wetl die VereinSmitglteber ihren Stammtisch, ihren Skat« und Kegelabend ober gesellschaftliche Verpflichtungen haben, die den staats bürgerlichen vorgehen. Große Opfer darf man von diesen Leuten nicht verlangen, selbst wohlhabende Herren glauben durch Bezahlung eines Jahresbeitrages von wenigen Mark ihren Verbindlichkeiten gegen die Partei vollauf genügt zu haben. Erhebliche Lummen zahlten nur wenige, sie würden der beständigen Geldforberuugen endlich überdrüssig und setzten ihre Leistungen herab. Die weit überwiegende Mehvzahl lasse sich selbst von sozialdemokra tischen Arbeitern weit Übertreffen. In folge dieser Knauserei sei beständiger Geld mangel in den Kaffen fast aller Parteien von der äußersten Rechten bis zur blauen Demokratie. Aus der Geldverlegenheit erkläre sich in erster Linie, warum die Agitation gegen die Sozialdemokratie soviel zu wünschen übrig lasse. Von der allgemeinen konser vativen Parteileitung in Berlin seien zwei Parteibeamte angestellt, ebensoviele von der nationalliberalen; in Sachsen hätten beide Parteien nur je einen Beamten ständig im Dienst. rn Berlin, 4. Juli. lWohnitngSgesetzgebung.j Die ersten Grunbzttge des vor einigen Tagen bekannt ge worbenen Entwurfes eiNesWohnungsgesetzes für Preußen wurden im preußischen Staatsnrinisterium bereits vor Jahr und Tag festgcstellt. Insbesondere war es auch der frühere Ftnanzminister. der verstorbene vr. v. Mtquel, welcher der Frage besserer Wohnungsfürsorge ein weit gehendes Interesse zuwanbte. Nachdem er früher der Ansicht gewesen, daß in erster Linie das Reich mit seiner Gesetzgebung auf diesem hervorragend wtchtigen Gebiete sozialer Reformbestrrbungen vorzugehen habe, neigte er später mehr und mehr der gegenwärtig immer allgemeiner zur Anerkennung gelangenden Auffassung zu, daß in erster Linie die Einzelstaaten berufen seien, die Klinke der Gesetzgebung In Anspruch zu nehmen. Die Meinung würde eine irrige sein, als vb dadurch das Reich ausge schaltet werden sollte. Dies wird ebensowenig der Fall sein, wie eS Überflüssig sein wird, daß die Kommunen un ausgesetzt -er WvhnungSsürsorge ihre Aufmerksamkeit zu wenden. Kür den Reichstag wird der Zusage gemäß, die -er Staatssekretär deS Innern vr. Graf v. Posa- domSkyin diesem Frühjahre gegeben hat, eine Denk- schrlft ausgearbeitet, in der alle- zur Darstellung ge langt, was in den EinzelsMaten zur Verbesserung der MohnnngSverhältnisse der unbemittelten Klassen geschehen ist. Als der bestgeeignctfte Weg, sowohl fitr das Reich, wie für den Staat nnd die Kommune, den nfinder benrittelten BevülkerungSklassen billige und allen billigen sanitären Ansprüchen genügende Wohnungen zu schaffen, wird unter allen Umständen der der Anwendung deS E^r-bbau- rechts anzusehen fein. Nur wenn Reich, L-taat und Kommune in dieser Weise dauernde Eigentümer des Grund und Bodens bleiben und wenn auf dem Wege der GcnofsenschaftSbtlbnng billige Wohnstätten für die unbemittelten Klaffen errichtet werden, wird eS müg. lich sein, der Grundstücksspekulation in der Umgebung der Städte, namentlich der Großstädte, wirksam und dauernd eutgrgenzntrcten. Werden die Preise für Grund und Boden in der Umgebung der sich entwickelnden Städte weiter getrieben in der Weise wie bisher, so Mrd eS aus die Länge der Zeit geradezu unmöglich werden, sür die ärmere» BevöskerungSklassen noch billige Wohnstätten in erreichbarer Nähe ihrer Arbeitsstätte zu schaffen; denn nicht in den Kosten des Baue- der Wohnstätten, sondern im steigenden Preise des Grund und Bodens liegt dann eine solche Erhöhung d«r Mieten, daß sie von -en ärmer«» Klassen nicht mehr aufgebracht werden können.
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