Suche löschen...
Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 16.08.1903
- Erscheinungsdatum
- 1903-08-16
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-190308161
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-19030816
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-19030816
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
- Monat1903-08
- Tag1903-08-16
- Monat1903-08
- Jahr1903
- Titel
- Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 16.08.1903
- Autor
- Links
-
Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
BezugS'PreiS Ur der Haaptexpedttto» oder deren Ausgabe- stelle» ab,« holt: vterteltlldrltch ^S S.-^ bet zweimaltoer täglicher L«ß»ll««a ius Hau» S.7K. Durch di» Post vezoae» str Deutsch land u. Oesterreich vierteljährlich ^S 4.50, für di« übrige» Länder laut Zeitungspreisllste. Lrdaktto« und Lrpedttto«: Ioh«»nttgaff« 8. Fernsprecher ISS «mb ÜLS FUl«1svp,dM»»mr r Alfred Hahn, v«chhmrdlg„ Unwersttätsstr.s, it. itdsche, «athartnenstr. 14, «. «Snigspl. 7. Haupt-/tlialr vresdea: Marimstratze SL Fernsprecher Ami I Ar. 171S. Haupt-Filiale Lerliur Carl Luncker, Hrrzgl. Vayr. Hosbuchhandlg^ Lützowstraß« 10. Fernsprecher Amt VI Nr. 4S0L, MWger.TWMaü Anzeiger. ÄmtsMtt -es Äömgttchen Land- «nd -es Königlichen Amtsgerichtes Leipzig, -es Rates nn- -es Volizeiamtes -er Ltadt Leipzig. Mrrzetgerr-Pret- die 6 gespaltene Petitzeile LS H, Reklamen unter dem Redaktionsstrich (4 gespalten) 75 H, vor den Famllienuach» richten (S gespalten) 50 L». Dabellarischer and Ztffernsa- entsprechend höher. — Gebühren für Nachweisungen und Offertenaunahme 25 (excl. Portos Grtra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgab«, ohne Postbesörderung 50.—» mit Postbesörderung 70^—. Anuahmrschluß für Äuzrigeu: Abeud-Ausgab«: vormittag« 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittag- 4 Uhr. Anzeigen sind stet« mr die Expedition zrr richte«. Di« Expedition ist Wochentag« ununterbrochen geöffnet vo» früh 8 biS abend« 7 Uhr. Druck und Verlag von L Polj in Leipzig. Nr. 414. Sonntag dm 16. August 1903. 97. Jahrgang. Aus der Woche. Auswärtige Ereignisse haben der hochsommerlichen Stille «in vorzeitige« End« bereitet und der politisch» Schulbeginn findet das deutsche Reich vor einer Reihe von Tatsachen, die zwar nicht ganz unerwartet kommen, unsere Interessen auch nicht unmittelbar berühren, aber dem internationalen Takte unsere- Auswärtigen Amte- doch eben so viele heikle Auf gaben stellen. Der kühne Federstrich, mit dem der „FriedenS- zar" Nikolaus den Admiral Alexejew zum Statt halter der Mandschurei ernannte und hierdurch di« reife Frucht endgültig für Rußland pflückte» ist zweifellos noch mit derselben Tinte geschrieben, die den ost astatischen Dreibund zwischen Deutschland» Frankreich und Rußland unterzeichnete, für un« Deutsche also nur die end liche Lösung einer Frage, die höchstens England Kopfzerbrechen mache« kann. Nicht ganz ohne Staunen können wir dabei wieder beobachten, wie Rußland sein stolzes „Wladi Wostok!" (Be herrsche den Osten I) gerade in dem Augenblicke vollendet, da der heftig erneuerte Aufruhr auf dem Balkan die Kräfte de- Bären in der alten Orientfrage völlig zu binden schien. Seit dem österreichisch-russischen Sonderabkommen für den Balkan ist eben der Dreibund au« einer „Wacht am Rhein" auch eine unbeabsichtigte „Wacht an der Save" geworden, und der Zar kennt eben Deutschlands Friedens liebe und Oesterreichs FriedenSbedürfni» viel zu gut, um mit so starker Rückendeckung im Westen seinen Vorteil im Osten nicht auSzunützeu. Wenn eS am östlichen Horizont überhaupt Wetterwolken gibt, die Deutschland« strenge Neutralität «inst noch auf eine harte Probe stellen können, so schweben sie nicht über der europäischen Türkei, sondern leider viel näher über unserem Bundesgenossen Oesterreich-Ungarn, der im Begriffe steht, daS operative Kunststück der Trennung siamesischer Zwillinge an sich zu vollziehen. Vielleicht wird schon die schwierige Wahl, die Kaiser Franz Josef für da neue ungarische Ministerium trifft, einen Fingerzeig geben, ob wir eS im Habsburger Staate künftig mit einem ganzen Alliierten oder zwei halben Freunden zu tun haben werden. Mit einer gewissen Wehmut muß eS un« jedenfalls berühren, daß Oesterreich, dem schon der k. k. Hofrat Grillparzer nur mehr Talent zum „Musikmachen" zuerkannte, bei all seiner inneren LebeuSnot und äußeren Einflußlosigkeit noch so viel Tat kraft aufbrachte, um durch sein Beto gegen Rampolla die Wahl eines fanatischen Dreibundfeindes zu verhindern. Ob un- Oesterreich mit der Beseitigung eine- offenen Deutschenfeiude» einen sonderlichen Dienst erwiesen hat, wie uns die berufsmäßige Vergnügtheit der Offiziösen glauben machen will, kann sich freilich erst zeigen, wenn das un beschriebene Blatt Pius X. die ersten Züge de- noch un gewordenen päpstlichen Staat-sekretärS aufweisen wird. Daß unsere Ultramontanrn unter verdächtigem Schmollen auf Oesterreich- „Verrat an der hl. Kirche" sich bereit- mit dem Gedanken einer Aussöhnung zwischen Quirinal und Vatikan befreunden und an Stelle der unge treuen katholischen Mächte da- deutsche Reich mit einer Art Protektorat über di« Rechte der „Alleinseligmachenden" be glücken wollen, bedeutet nicht- Gute-. Man weiß nicht, ob die römischen Danaer gefährlicher sind, wenn sie Geschenke geben oder wenn sie Geschenke empfangen. Die Bundes staaten, die da- Iesuitengesetz glücklich noch einmal auf die lange Bank schoben, werden vor einem „deutschfreund lichen" Papstkanzler doppelt auf der Hut sein müsse«. Schon wieder bat die königliche Regierung in Liegnitz, wie bisher unwidersprochen gemeldet wurde, eine« Pastor Kobbelt wegen „agitatorischen Auftreten-" gemaßregelt, weil er nämlich in Ausübung seiner Rechte als Protestant und Staatsbürger einen Kandidaten über seine Stellung zum Iesuitengesetze interpelliert hatte. Angesicht» der fanatischen Beharrlichkeit, mit der die Ultramontanen ihre katholische Parteigemeinschaft fortwährend über alle StaatSinteressen stellen, wird da auch einmal eine halbamtliche Etikettsrag« zu regeln sein. In ihrer Begrüßung de- neuen Papste- gebrauchte die „Nordd. Allg. Ztg." mit einer gratulierenden Verbeugung u. a. auch die Wendung „unsere katholisch«» Mitbürger". Der Berliner Ofstziosus stellt sich damit offenbar, wenn auch sehr tolerant, auf den Standpunkt eine« regierenden Protestanti-mu-, der neben seinen evangelischen Staatsbürgern auch eine besondere Klass« von katholischen Staatsbürgern kennt und anerkennt. Abgesehen davon, daß die Reichsverfassung einen solchen Unter schied amtlich gar nicht kennt, müssen die Ultramontanrn in dieser auch bei so feierlichem Anlasse wiederkehrendrn hochoffiziöse» Wendung eine Anerkennung ihre- katholischen „Staate- im Staate" erblicken, die ihre Anmaßung nur noch stei gern kann. Wir rasch und gründlich de» Offiziösen diese- häßliche Dienern vor der klerikalen Nebenregierung abgewöhnt werden sollte, zeigt gleichzeitig eine noch viel maß- gebeodere Begrüßung de- neue» römische« Papa». Der „unwürdige Diener" — wie er sich selbst nennt — Erzbischof Stablew-ki hat dem Neugewählte» i« einem Hirtenbriefe voll politischer Spitze» sei»« polnische Nation al- ei»« „Vormauer des Christentum»" bereits bestens empfohlen und hofft von ihm Trost in den polnische» „Leiden und Kümmer nissen". Gleich darauf bat der polnische Katholizismus unter freundlicher Mitwirkung de» österreichisch-galizischen Hetzpatrr« StojalowSki seinen nationalen Schmerz in der Zerstörung eine» „Germanisation-werleö", nämlich der Katto- wiyer Schutzbütte bei Bielitz, auSgetobt, sich von den Geld sammlungen für di« Opfer de» schlesischen Hochwasser« demonstrativ ferngehaltea und da« offenbar auch „verpreußende" Wirken der Kaiserin, die au den Unglücksstätteu Deutschen und Polen evangelische Cbristenhülfe bringen will, durch Nicht grüßen und höhnische Glossen in der Polenpreffe über die Deutsche», welche „ihre Kaiserin" grüßten, mit souverän polnischer Nichtachtung gestraft... E» scheint überhaupt ein Kennzeichen de» römischen PolentumS zu sein, daß selbst die Stimme der Mensch lichkeit au» deutschem Munde in seinen verstockten Seelen nur die Saiten deS national-konfessionellen Doppelhasset' in umso stärkere Schwingungen versetzt. Wir können das selbe vielleicht auch in dem von polnischen Arbeitern stark besiedelten Ruhrkohlengebiete noch erleben, wo die Wurm krankheit, die erst seitdem Anwachsen des polnischenProle- tariat» epidemisch auftritt, eine Verheerung und Aufregung her vorruft, die zu dem schlesischen WafferuuglÜcke ei« traurige« Seitenstück liefert. Unter dem Eindrücke solcher Elementarereignisse ist jetzt wieder einmal während der Regierung Kaiser Wilhelms II. und unter seine», Vorsitze der Kron rat der preußischen Minister zusammengetreten. Man wird bald höre», wa« Preußens Regierung veranlaßt hat, um die heute in zwanzig Bergarbeitervers ammlungen de» Ruhr gebiete- zum Ausdruck kommende Aufregung zu beschwichtigen, was sie in Schlesien verabsäumt hat und was sie zu tun gedenkt, um den wirtschaftlichen Schäden solcher Naturereig nisse nach Möglichkeit vorzubeugen. ES scheinen da gerade in Schlesien so schwere Versäumnisse an den Tag zu kom men, daß in den letzten Tagen manche Leule nicht nur den schon längst stark unterwaschenen Ministerstuhl de« Frhrn. v. Hammersteiu, sondern auch den so gern in den Wellen der Nordsee badenden Reichskanzler v. Bülow von den Hochwässern Schlesiens verschlungen sehen wollten. Aber man muß auch den Männern vom grünen Tische deS Kron rate« etwas zu gute halten. Sie haben nicht bloß gegen die Naturgewaltea anzukämpfen, sondern auch gegen die Parteileidenschafteu, welche die von den Agrariern be kämpfte Kaualvorlage, die nun doch wieder auf- taucht, und die gewiß au sich nicht politische Notwendigkeit der östlichen Flußregulierung zu einem verhängnisvollen Knoten verknüpft haben. „Xavigars ueoosso ost, doch darum sind Wasserbauten nicht minder dringlich, welche zwar keinen unmittelbaren Handelswert haben, aber doch Leben und Eigen tum der Staatsbürger schützen müssen vor Katastrophen, die sich nicht kümmern, ob ihre Opfer ostelbisch-agrarisch oder westrheiaisch - liberal zu denken gewöhnt sind" — so argu- meotiereu mit unleugbarem Geschick die „Post"-alisch Ge sinnten. Da hat auch die beste Regierung — wir behaupten nicht, daß eS in Preußen die gegenwärtige ist — einen schweren Stand, zumal die beim Krourat in Beratung stehende Ausschreibung der preußischen Landtags- Wahlen die Parteiagitation bereit« in lebhafter Tätig keit findet. Die Sozialdemokraten sind zwar mit Herrn Barth noch nicht über den Marktpreis der freisinnigen Stimmen einig geworden, aber die heftige Agitation, mit der sie die-mal ihr« erste Bresche in die preußische „Reaktion" legen wollen, ist ein beruhigende- Zeichen, daß sie sich von dem Schrecken über das famose '„Attentat" auf da- Reichs- tagSwahlrecht schon wieder ganz erholt haben. Da auch die Freikouservativen die Einberufung deS KronratS mit einer Agitationsschrift wider die Kanalvorlage begleitete», was die Freisinnige» wieder veranlaßt, umso entschiedener die Ein bringung der Vorlage „im Interesse der Regierungsautorität" zu fordern, so kann sich der Kampf um den neuen preußischen Landtag die-mal sehr bewegt gestalte«. Falsche Ehrbegriffe und Mdungsideale. e. Da» soziale Leben leidet in Deutschland unter falschen Ehrbegriffen und verkehrten BildungSidealen. Ein schlichter Handwerksmeister kann ein gebildeter Mann sein, auch wenn er mit Bürger- Han- Bendtx „kein Sterbenswörtchen Latein" versteht, und ein Staatsbürger kann einen hohen Ehrbegriff besitzen, auch wenn er das Duell al- eine Todsünde ansteht. Das ist eigentlich ganz selbstverständlich, aber trotzdem ist es in Deutschland nicht die allgemein« Anschauung. Bet uns wird fast immer die natürliche Anschauung der Dinge von einem Wald grauer Theorien Überwuchert. Trotz unserer hochgepriese nen Kultur sind wir nicht einmal so weit, daß wir für Len Wert der Arbeit das richtige Maß besitzen. Gerade von uns Deutschen wird ein viel zu großer Unterschied zwischen sogenannter hoher und niedriger, zwischen geistiger und körperlicher Arbeit gemacht. Es ist heute kaum denkbar, daß ein wohlhabender Vater von zwei gleich fähigen Söhnen den einen etwa Offizier ober Jurist und den anderen Tischler oder Schneider werben läßt. Ohne Aussehen ginge die Sache nicht ab; man sähe darin fast eine Versündigung gegen den Geist der Kaste. Dem Offizier würde der Bruder Schneidermeister manche Verlegenheit bereiten, und hätte jener das Herz nicht auf dem rechten Fleck, so würde er von diesem Bruder selbst Schwierigkeiten für sein Empor steigen auf der militärischen Stufenleiter, und zwar nicht mit Unrecht, befürchten. Das kennzeichnet unsere An schauung, und doch behaupten wir, die Achtung vor der ehrlichen Arbeit sei die Grundlage unserer Kultur. In seiner Rektoratsrede beklagte im An fang dieses Jahres Professor Kammerer von der Technischen Hochschule in Charlotten» bürg mit Recht, daß unserer Schulvtldung völlig die Anleitung zur Achtung auch der körper lichen Arbeit fehle, für die jetzt vielfach nur Gering schätzung vorhanden sei. Ist es da überraschend, wenn sich alles, was Mittel zum Studium hat, ohne Wahl, aber mit Qual, nach den sogenannten höheren Berufen drängt? Das Ergebnis ist eine sozial recht schlimm wirkende Ueberfüllung dieser Beruse und eine Ver armung der „niederen" Erwerbszweige, des Handwerks an wirtschaftlich und geistig wohlhabendem Nachwuchs. Auch das ist bereits eine alte Klage, aber erst seit kurzer Zeit beginnt man ihr sozialstatistisch mehr Rückhalt zu geben. Usbrigens leiden wir in Deutschland nicht allein an einem Ueberschutz „studierter Intelligenzen". Ich wähle das Fremdwort absichtlich seines Beigeschmacks wegen, denn leider ist heute das Wort Jahns mehr als zu seiner Zeit wahr, daß viele wissen, wie Brot in allen Kultur sprachen heißt, es aber in keiner verdienen können. Heute kann man mit Recht in Deutschland und einigen anderen Ländern nicht mehr vom „armen Gelehrten", sondern von einem gelehrten Proletariat reden. In einer französischen Zeitschrift schilderte vor einiger Zeit Henri BSrenger bas gelehrte Proletariat. Frankreichs. Die französischen Friedensrichter, die fast all.: Doktoren der Rechte sind, haben ein Einkommen von 1800 bis 3000 Freß, jährlich, und da sie meistens kein Vermögen besitzen, so müssen sie von diesem Einkommen leben. Die akademisch gebildeten Lehrer erhalten in den Kollegien 2000 biS 8000 FrcS., in den Lyceen 8500 bis 5000 FrcS.; auch sie sind meistens ohne Vermögen. Die 8000 Hülfs- lehrer der Kollegien und Lyceen bringen eö nicht über 8000 Frcs. Von den 180 000 Lehrern und Lehrerinnen der französischen Volksschulen beziehen 100 000 ein so ge ringes Gehalt, daß sie stets in bedrängter Lage sind, aber trotzdem sollen in Paris 15 000 Lehrkräfte auf die 150 Stellen warten, die jährlich frei werben; welches Prole tariat! Alle städtischen Verwaltungen, Jndustriegesell- schasten und Eisenbahnen sind von einem Heer auf tech nischen Hochschulen gebildeter junger Leute umlagert, die sich mit heißem Bemühen um Stellen bewerben, die ein Gehalt von 1500 bis 4000 Frcs. jährlich abwerfen. Die technischen Hochschulen Frankreichs entlassen jährlich 800 bis 900 geprüfte Ingenieure, von denen nur der kleinste Teil Anstellung findet; oft auch nur mit einem Gehalt, das ein Werkführer oder erster Arbeiter zurückweisen würde. Verenger sieht in der Uebcrzahl der Höhergobildeten für Frankreich eine soziale Gefahr. Er erklärt die Ueber- füllung der gelehrten Berufe jedoch einseitig hauptsäch lich aus den Vorteilen, die mit dem Bestehen gewisser Prüfungen bei der Erfüllung der Militärpflicht ver knüpft sind. Sicher ist das ein erheblicher Grund, und auch in Deutschland macht man bekanntlich dem Berechti gungsschein zum Einjührigendienst 'den Vorwurf, die Ueberfüllung der höheren Lehranstalten sehr wesentlich zu verschulden. Mehr trägt nach unserer Ueberzeugunz jedoch der falsche Bildungsbegriff, die verkehrte Auf fassung von dem Wert der Arbeit oder, wie sich Professor Kammerer auSdrückte, die in manchen bemittelten Kreisen vorhandene Verachtung körperlicher Arbeit dazu bei. In Deutschland ist das gelehrte Proletariat kaum ge ringer wie in Frankreich; leider fehlt uns eine aus reichende Statistik. An deutschen Universitäten sind in diesem Sommer nicht weniger als 87 813 Studierende und Hörer eingeschrieben, etwa 1000 mehr als im letzten Wintersemester. Die weit überwiegende Mehrzahl dieser akademischen Bürger treibt natülich ein sogenanntes Brot studium, das heißt sie studiert nicht zum Vergnügen, son dern um so bald als möglich durch die erworbenen Kennt nisse einen „standesgemäßen" Unterhalt zu finden. Aber wie sieht der auch in Deutschland oft aus! Man redet zwar viel von -er Not des Handwerks, aber es ist trotz- dem eine Tatsache, baß heute in Deutschland ein Hand, werksmeister mit leidlich gutem Geschäft wirtschaftlich ganz erheblich günstiger gestellt ist, als viele Studierte. ES ist bitter, muß aber gesagt werden, daß selbst zahlreiche Hotelhausknechte und Oberkellner mit vielen betitelten Akademikern materiell nicht tauschen würben. Es gibt auch in der deutschen Industrie genug Werkführer und tüchtige Arbeiter, die nicht nur eine selbständigere un verläßlichere Stellung, sondern auch ein höheres Ein kommen als manche Studierte haben; freilich, diese ver richten „höhere", wenn auch vielleicht für das Gemein wohl recht überflüssige, jene aber „niedere", wenn auch notwendige Arbeit. Unser falscher Ehr- und Btldungs- begriff triumphiert, und sein Träger schleppt mit ihm zwar Hunger und Kummer, aber er hat einen „höheren", einen „gesellschaftsfähigen" Beruf. Welches Glück — oder besser welches Elend, kann man sagen —, wenn man Gelegenheit hat, einmal hinter die Scene zu sehen. Am meisten ist in dieser Beziehung in den letzten Jahren von den schlimmen wirtschaftlichen Verhältnissen des AerztestanbeS geredet. Ein Fall kennzeichnet die ganze hier herrschende Misdre. Als der seine groben Kur schwindeleien jetzt mit mehrjähriger Gefängnisstrafe büßende Nardenkötter zur besseren Reklame einen appro bierten Arzt suchte, meldeten sich — siebzig. Im Prozeß Nardenkötter erklärte ein Berliner Anwalt diese schreiende Zahl mit der Not deS AerztestanbeS; die Zahl beweise, daß im medizinischen Proletariat der Hunger oft vernehmlicher sprech« al» die Gtande-ehre. Nach einer au» ärztlichen Kreisen angestelltcn sozialstattstischen Untersuchung hatten von den Aerzten Berlins 80,9 Prozent aus Praxis und Vermögen ein Gesamteinkommen von unter 3000 unter 900 5,2 Prozent, 900—1050 2,9 Prozent, 1050—2100 16,8 Prozent. Das sind Einkommen, mit denen heute kein tüchtiger Handwerksmeister zufrieden ist, sie sind geringer als die Bezahlung manches Fabrikschlossers und Maurer, gesellen in Berlin. Nur 27,8 Prozent der dortigen Aerzte verfügen über ein Einkommen von 5000—10 000 jähr- lich. Aehnliche Verhältnisse herrschen in anderen wissen schaftlichen Berufen, yoch schlimmere in den künstlerischen Erwerbszweigen. Bet der breiten Mittelmäßigkeit gilt auch hier heute das Gesetz von Angebot und Nachfrage. Je stärker der Zubrang, um so tiefer die Lebenshaltung. In der harten Schule ihres Daseins gelangen viele dieser „höheren" Arbeiter niemals zu einer inneren Befriedi gung und einer leiblich anständigen äußeren Lebenslage, Erst im vorgeschrittenen Alter ermessen sie oft, die Größe des Opfers, das sie -en falschen Ehr- und BtldungSbe- griffen unserer Zett gebracht haben. Aus dem Künstler und Gelehrten wirb dann oft noch ein Geschäftsmann, aber die Verbitterung über einen langen verfehlten Weg bleibt. Diese Verhältnisse werden besser, wenn die mit falschem Ausdruck als „niedrig" bezeichnete gewerbliche Arbeit wie der gesellschaftsfähig wird und die ihr zukom mende Hochachtung nicht nur in schönen Worten genießt. Sollte es so schwer sein, diese Hochachtung von der Kultur der Gegenwart für jede ehrliche Tätigkeit zu erzwingen? Vor allem müssen sich viele Gowerbetreibende selbst von Vorurteilen und falschen Begriffen innerlich frei machen. Sie dürfen nicht die akademische Bildung als den Inbe griff inneren und äußeren Glücks ansehen. Biele von ihnen bringen heute mit schwerer Mühe nach ihren Ver hältnissen große Opfer, um den Sohn studieren zu lassen. Besser wäre es heute, sie ließen ihn mit den aufzuwen- denden Mitteln eine gute Fachschule besuchen und zu einem tüchtigen Handwerker erziehen. Dem Gewerbe fehlt Geist und Kapital, während beides im Verfolgen gelehrter und künstlerischer Lebenswege heute häufig nutzlos und selbst zum Schaden des Gemeinwohles verpufft wirb. Deutsches Reich. * Leipzig, 15. August. (Tätig!) Die „Köln. Ztg." schreibt: „Sofort, nachdem die Reichstagswahlschlacht ge schlagen war, gaben wir der nativnalliberalen Partei den guten Rat, mit allen Kräften aufs neue in den Wabl- kampf einzutreten, um die Wahlen des Herbstes vorzu bereiten, und viele befreundete Blätter stimmten unserer Mahnung zu. Heute, also zwei volle Monate später, können wir leider nicht behaupten, daß dem Rate eine erhebliche Wirkung entsprochen hätte; in sommerlicher Stille ruht die Maschine der Partei-Organi sation noch immer von der letzten großen Arbeit au«. DaS muß jeden Freund der nationalliberalcn Sache mit um so größerem Bedauern erfüllen, als inzwischen die anderen Parteien keineswegs der gleichen Muße gepflogen haben, sondern mit voller Kraft in die Agitation für die Lanvtagswahlen eingetreten sind. Von dem Eifer der Sozial demokraten konnten wir schon mehrfache Proben vorlegrn, aber auch daS Zentrum ist inzwischen keineswegs müßig ge wesen. Wie die „Köln. Volkszeitung" berichtet, bat eS sogar eine AgitationSschule vorbereitet, die im nächsten Monat in Frankfurt a. M. ioS Leben treten soll. . . . Die sozial demokratische Presse erteilt dem Plane bewunderndes Lob; die liberalen Parteien werden über diese Art, demagogische Agi tatoren aufzuziehen, wohl etwas anderer Meinung sein und keine Neigung haben, dem Zentrum diese Art von Wahl vorbereitung nachzumachen. Desto eifriger sollten sie aber in jede Art von Agitation eintreten, die sich mit dem liberalen Gedanken verträgt, und vor allem sollten die Nationalliberalen daran gehen, das Band ihrer Organi sation so straff und wirksam wie möglich zn gestalten. Sie müssen ihren Parteisekretariaten namentlich durch stärkere finanzielle Unterstützung mehr die Möglichkeit gewähren, mit den liberalen Massen unmittelbar durch Versammlungen und Vorträge und mittelbar durch recht zablreiche Vertrauensmänner in Verbindung zu treten. Sie müssen die Beziehungen der einzelnen Sekretariate mit einander und mit der Zentralleitung lebhafter gestalten und sie müssen vor allem den reichen Schatz von Zungen, streb samen Kräften, der sich erfreulicherweise in den national liberalen Iugeudvereineu allgesammelt hat, in den Dienst der Parteiorgaoisation stellen. Dann erst wird der frische Zug, der von dort aus seit einiger Zeit m die Partei hineinwcht, dieser unmittelbar zugute komme«, und die jungen Kräfte werden in praktischer Arbeit die Dinge in ihren wirklichen Ver hältnissen kennen lernen und manche« von dem Radikalismus abstreifen, der ihnen naturgemäß von Hause aus anhastet. Alle diese Vorschläge müssen aber bald in die Wirklichkeit umgesetzt werden, sonst wird der Vorsprung der andern Parteien immer größer, und die LaudtagSwahlschlacht trifft die liberalen Truppenmasse» nicht so vorbereitet, wie es ihre große Bedeutung für die künftige preußische und deutsche Politik unbedingt erfordert. Wir hoffen ja, daß mit dem kommenden Drlegiertentag die Wühlarbeit im große» Stile beginnen wird, aber wäre eS nicht noch besser, wenu in Hannover alle Vertreter berichten könnten, daß sie bereit« vorgearbeitet, ja, daß sie schon Erfolge erzielt haben?" — Stimmt auch sürISachsea. 6. II. Berlin, 15. August. (Die Sterblichkeit in Preußen.) Die vom Kultusministerium veröffentlichten Zusammenstellungen über die Sterblichkeit in Preußen 1901 sind nach mehr al» einer Richtung hin interessant. Im Be richt jahre hat die Gesamtbeoöikeruag ve» Staates durch Lea Tor verloren: 37S 847 männliche, 339 826 weibliche, also 7l3 673 Personen überhaupt. Die Zahl ter Totgeborenen» welche außerdem den Standesbeamten gemeldet wurde, betrug 23 036 männlich«, 16 677 weibliche» also 40 7 t3 Personen über haupt. Da die Einwohnerzahl sich am 1. Januar 1901 auf
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)
- Doppelseitenansicht
- Vorschaubilder
Erste Seite
10 Seiten zurück
Vorherige Seite