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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 18.08.1903
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1903-08-18
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19030818020
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1903081802
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1903081802
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
- Monat1903-08
- Tag1903-08-18
- Monat1903-08
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Aus ostmärkischen Kreisen schreibt man uns: Ein in Dortmund erscheinendes polnisches Blatt hatte neulich den Vorschlag gemacht, die deutschen Katholiken sollten in ostmärkischen Bezirken, besonders im Wahlkreise Frau- stadt-Liffa — der diesmal in die Hände eines entschieden deutschgesinnten Mannes übergegangen ist — für die pol nischen Bewerber stimmen; zur Belohnung würden die Polen in Rheinland-Westfalen für das Zentrum cintreten. Die „Kölnische Volkszeitung" hatte den Vorschlag dieses säubern Tauschgeschäfts ohne Kommentar wiedergegeben, woraus -u schließen war. daß sie dem Gedanken zustimmte. Es ist aber noch -viel bester aekvmmen. Die „Germania" hatte den Vorschlag des Dortmunder Polenblattes zurück gewiesen, nicht aus national deutscher Entrüstung, sondern nur mit dem sachlichen Bemerken, daß in Fraustadt-Lissa Zentrum und Polen nicht ausreichten, den Wahlkreis zu erobern, sondern daß die Entscheidung bet den Frei sinnigen liege. Diese Auslastung der „Germania" wird nun von dem rheinischen Zentrumsorgane als Hand habe benutzt, nochmals auf die Lache zurückzukommen und nunmehr den Plan des Polcnblattes nachdrücklich zu empfehlen. Die „Kölnische Volkszeitung" schreibt: „Ob überhaupt freisinnige Wähler vorhanden sind, missen wir nicht, jedenfalls sind sie nicht zahlreich. . . Tatsächlich war ja auch der Wahlkreis mehrfach durch einen Polen, und eimnal durch das Zentrum vertreten, und was in der Vergangenheit möglich war, märe auch dies mal möglich gewesen und sollte auch fürdte Zukunft bei gutem Willen möglich sein." Wenn das rheinische Blatt sagt, es wisse nicht, ob in dem Wahlkreise Freisinnige vorhanden seien, so ist dies recht naiv; es hätte bloß die amtliche Ltatistik nachzuschlagen brauchen, dann hätte es sehen können, daß die Freisinnigen bei den Wahlen von 1800 nahezu 3000, und bei denen von. 1803 ungefähr 2600 Stimmen aufgebracht haben; bei den Wahlen von 1898 waren cs allerdings nur noch etwas über 1300 Stimmen, aber damit immer noch genug, um die Entscheidung in der Hand zu haben. Viel bodenloser aber als die Unwissenheit der „Kölnischen Volkszeitung" liber die ostmärkischen Verhältnisse, über die sie sich mit so großer Borliebck ausläßt, ist die auch hier wieder bekundete undeutsche Gesinnung. Plaidicrt sie doch ausdrücklich für ein Schachergcschäst, durch das ein der Mehrheit seiner Bevölkerung nach entschieden deutscher Wahlkreis den Polen ausgeliefert werden soll. „Bei gutem Willen" — dieser Ausdruck macht sich in Verbindung mit einem so unsauberen Geschäfte ganz besonders schön — soll also in Zukunft dieser Wahlkreis wieder in die Hände der Polen fallen. Dieser „gute Wille" wird aber nicht vorhanden fein, denn ein Teil der deutschen katholischen Wählerschaft des Wahlkreises gehört glücklicherweise nicht dem Zentrum an, sondern teils den Konservativen, teils den Frei sinnigen, uud «diese katholischen Wähler werden sich nach der von diesen Parteien ausgegebenen Parole richten, nicht nach derjenigen der „Kölnischen Volszeitung". Die badischen Wahle« in Krenzzcitnngsbelenchtnng. Die Vorliebe der „Kreuzzeitung" für den Klerikalis- muS wird durch nichts so deutlich illustriert, wie durch ihre Stellung zu den bevorstehenden badischen Landtags wahlen. Im badischen Landtage kann es sich nur darum handeln, ob der gemäßigte Liberalismus oder der Kleri- kalismus die Vormacht besitzt; die Konservativen spielen nur eine ganz geringfügige Rolle. Wenn aber die „Kreuz zeitung" die Wahlvorbereitungen der liberalen Parteien mit hämischen Glossen bekleidet, so geschieht dies nicht im Interesse ihrer eigenen, der konservativen Partei, sondern zu Rutz und Frommen des Zentrums. Die „Kreuzztg." geht in diesen Bemühungen nahezu bis an die Grenze der Verleumdung, indem sie den liberalen Parteien unterstellt, daß der Zweck ihrer Koalitions bemühungen darin bestehe, Sozialdemokratie und Zentrum zu einem Wahlbündnisse zu bringen und dadurch die Stellung des Zentrums in den Augen der Negierung zu erschüttern. Die „Kreuzztg." traut damit also den liberalen Parteien die Rolle der „Lockspitzel" zu. Diese Unterstellung der „Kreuzztg." aber ist um so dümmer, als Sozialdemokratie und Zentrum im Großhcrzogtume Baden bei den Wahlen immer gut Freund gewesen sind, und als das Zentrum die Abbröckelung des national liberalen Besitzstandes im badischen Landtage und damit die Stärkung seines eigenen Einflusses im Parlamente sowohl wie auf die Regierung in erster Reihe der Sozial demokratie verdankt. Soweit die badischen Demokraten sich noch nicht darüber klar sind, daß die Zukunft des liberalen Gedankens in Baden von der Einigkeit aller liberalen Gruppen abhängt, brauchen sie nur die Haltung der „Kreuzztg." mit einiger Aufmerksamkeit zu verfolgen. EiS- und Transleithanie«. Allmählich übt das parlamentarische Chaos in Ungarn seine Rückwirkungen auch aus Oesterreich aus. Aus der Schwäche Ungarns schöpft man in Oestereich neue Ermutigung, um bei der Er neuerung des Verhältnisses mit Ungarn in der einen oder anderen Form nicht wieder den Kürzeren zu ziehen. Ein flußreiche Großindustrielle, wie jüngst der Montanverein, verlangen, was die Landwirtschaft längst befürwortet hat, «die Lösung des Zoll- und Handelbündnisseö mit Ungarn, also die wirtschaftspolitische Trennung des Reiches, und weit über «die deutschnationalen Kreise hinaus neigt man der Auffassung zu, daß der Abschluß eines neuen Aus gleichs mit Ungarn kaum möglich sein wird und daß cs über kurz oder lang zu einer Personalunion kommen muß, falls der einheitliche Bestand des HcereS durch Zugeständ nisse an den ungarischen Chauvinismus gelockert werden sollte. Hoffentlich wird es zu solchen Zugeständnissen nicht kommen. Das Verhalten der magyarischen Politiker kann nachgerade nicht mehr imvoniercn, denn im Grunde genommen kämpfen in Pest nicht Parteien, sondern nur Persönlichkeiten um die Macht, was sich kaum noch ver hüllen läßt. Das Blämifche im Walenland. Wir hatten schon Gelegenheit, darauf hinzuweisen, daß mehr und mehr auch das Stammesbewußtscin bei den Vlämcn im Walcnland mach wird. Es gibt nämlich ein paar Hunderttausend Vlämcn, die beständig oder vorüber gehend im Walcnland arbeiten, sowohl in den Kohlen gruben, als in den riesigen Stahl- und Glasgewerk schaften. In Lüttich allein schätzt man die vlämischc Be völkerung auf rund 35 000; ohne Stammesbewußtscin wären diese Tausende fürs Vlämcn- und zugleich fürs Germanentum verloren. In dieser Stadt nun haben sich die Vlämcn zusammengetan, um die Stammesgenossen durch vlämischc Feste und sonstige Vergnügungen, vlä- mische Vortragsabende und Leihbüchereien zusammenzu halten, aneinander einen Rückl-alt zu geben und so das vlämischc Stammesgefühl lebendig zu erhalten. Dieses Streben wird fernerhin wesentlich gestützt werden durch den vlämischen Studenten-Verein in Lüttich. Diese jungen Leute haben etngesehen, daß sie gute vaterländische Arbeit zu verrichten haben, indem sie sich nicht bloß um ihre vlämischen Mitstudierenden be kümmern, sondern sich ihrer Stammesgenossen, die zum Arbeiterstand gehören, annehmen und diesen Zugang ge währen zu ihren Festen und Vergnügungen. Es ist jetzt die Rede davon, auch Vorträge für die arbeitende Klaffe einzurichten, um dort aufklärend zu wirken. So be kommen die wenig Entwickelten, die sonst mit ihrer unge bildeten Umgangssprache drohan, in dem walisch-fran- züsischen Strudel unterzugehen, das Gefühl, daß ihre eigene Muttersprache ebensogut eine gebildete Sprache ist als das verhimmelte, stolze Französisch. So kommt es denn auch, daß die Vlämcn, die sich sonst allzuleicht schämten, ihre eigene Sprache zu sprechen und sich lieber sür Walen ausgaben, jetzt die bedeutende Anzahl ihrer Stammesgenossen erkennen, mit Selbstbewußtsein auf treten und so den Walen Respekt einflößen. Diese Be wegung hat nun bereits einen ganz außerordentlichen Er folg zu verzeichnen. Er ist um so bedeutungsvoller, als gerade in Lüttich eine malische Bewegung mit dem aus drücklichen Zweck, die vlämischen Forderungen zn be- käinpfen, besteht und ein eigenes Kampfblatt „L'Lme wallonne" herausgtbt. Im vorigen Jahre hatte die Gemeindeverwaltung nämlich probeweise freie vlämischc Lehrgänge in den Gemeindeschulen eingerichtet. Aus dem Bericht, den sie nunmehr erstattet, geht hervor, daß dieser Versuch äußerst günstig ausgefallen ist; die Anzahl der Schüler, die sich einschreiben ließen und bis zuletzt ausgehalten haben, ist ungemein groß und übertrifft alle Erwartungen. Daher hat der Gcmeinderat jetzt be schlossen, diesen Versuch weitcrzuführen und noch mehr zu verallgemeinern. Es sollen jetzt in den verschiedenen Stadtvierteln in den Gemeindeschulen solche Lel-rgänge der vlämischen Sprache eingerichtet werden. Einige andere malische Städte, wie Namur, Doornik, waren in dieser Hinsicht zwar vorausgcgangen in Lüttich war man aber bisher vor der Haltung der Vlämen-Feinde zurückge schreckt, sodaß der jetzt erreichte Erfolg nm so höher anzu schlagen ist. Denn vor sechs Jahren hatten die Vlämcn in Lüttich eine Bittschrift an die Gemeindebehörde ge richtet, in der sie die Forderung nach vlämischem Unter richt in den Gemeindeschnlen für vlämischc Kinder stellten. Kaum aber hatten die malischen „Borkämvfer" davon Wind bekommen, als sic eine Gegen-Bittschrift einreichten, man möge dieses Gesuch ablehnen, und damals gab der Gemeinderat nach. Ans alle dem darf man die Hoffnung schöpfen, daß nicht mehr, wie durch Jahrzehnte hindurch, die Vlämcn die Lücken im maischen Vvlkskörpcr aus füllen werden, da die Walen sich ähnlich wie die Fran zosen nur sehr schwach vermehren und bisher ihren Volksbestand nur durch die Verwälschnng der Vlämcn aufrecht erhalten haben. Erhalten sich die Vlämcn nun mehr aber auch im maischen Sprachgebiete in ihrer Nationalität, dann muß das zahlenmäßige Uebergewicht der Vlämen rasch zunehmen, dem früher oder später das politische Uebergewicht sicherlich folgen muß. Das Verhältnis Indiens zum englische« Mutterland« hat in neuester Zeit eine eigentümliche Beleuchtung durch die Zumutung erfahren, daß die Kolonie einen Teil der durch die Verstärkung der Garnison in Britisch - Südafrika erwachsenden Mehrkosten tragen solle. Wie Lord Hamilton, der Staatssekretär für Indien, anläßlich einer Anfrage im Unterhause erklärte, hat die indische Regierung sich gegen diesen „Vorschlag" der britischen Reichsregierung ausgesprochen. Dieser Vorgang erinnert an ein ähnliches Vorkommnis im An fang dieses Jahres, wobei es sich um die Bestreitung der Mehrausgaben «bandelte, die infolge der Sold- erhühung für die britische Armee in Indien, über deren mangelnden Ersatz bekanntlich seit längerer Zeit geklagt wird, zu erwarten sind. In der Angelegen heit hat ein bemerkenswerter Schriftwechsel zwischen dem Kriegsamte und der indischen Regierung stattgefunden, «der kürzlich in einem Weißbuche veröffentlicht worden ist. Am 26. Februar 1902 trat das Kriegsamt mit der Forderung hervor, daß «die Bestimmungen über die Dienstzeit, Ur laubsbewilligung, Kapitulation ufw. der britischen Sol daten in Indien abgeändert und besonders ihre Bezüge aufgebeffert werden müßten, da es sonst nicht möglich stt, die für die Besetzung bezw. Ablösung der militärischen Stationen erforderlichen Ersatzmannschaften für den Dienst in -en Kolonien zu gewinnen. Die jährliche Mehrforderung für die Erhöhung der Löhnung betrug rund 15,7 Millionen Mark, und es entstand nun die Krage, wer diese Mehrausgabe bestreiten solle. Der Vizekönig von Indien erwiderte, daß es zweifellos in weit höherem Matze imperialistische Interessen als spezifisch indische Be dürfnisse seien, die durch den erhöhten Betrag für den Unterhalt und Sold der britischen Truppen befriedigt wer den sollten; demgemäß erklärte er es für angemessen, daß die Mehrausgabe zur Hälfte von der Kolonie Indien und vom Reichsschatzamte getraaen werde. Der Staats sekretär für Indien, Lord George Hamilton, un terließ es, dieses Anerbieten dem Kriegsamte zu unter breiten, und schlug seinerseits vor, zunächst solle die Er höhung des täglichen Soldes um 2 Pence, im Gesamt beträge von jährlich 4.5 Millionen Mark, auf die Ein nahmen der Kolonie übernommen werden; «der Rest von 11,2 Millionen Mark, der gefordert werde, irm den Kapi tulanten für das Militärjahr 1904 einen Zuschuß von täg lich 6 Pence zu bewilligen, solle nach demselben Grundsätze, der für die Aufbringung der Kosten des Heerwesens in Indien in Anwendung komme, auf das Reich und die Kolonie verteilt werden. Da eine Einigung nicht zu stände kam, wurde die Angelegenheit dem Lord Oberrichter, dem Präsidenten des Hohen Gerichtshofes für Angelegenheiten des Fiskus, überwiesen. Lord Alvestone hat nun mehr dahin entschieden, daß die gesamten Mehrausgaben für die in Indien stationierten englischen Trupen vom 1. April 1904 ab auf die Einkünfte Indiens zu übernehmen sind. Danach wird man annehmen dürfen, daß die britische Regierung von ihrem Vorhaben, die Mehrkosten für «die in Aussicht genonnnene Erhöhung der militärischen Streitkräfte in Südafrika der indischen Bevölkerung auf- znbürben, nicht abgehen wird. Feuilleton. ioj Renate von Grieben. Roman von Hermann Birkenfeld. Nachdruck verboten. Alma hebt die Glutaugen voll zu ihr empor. Auch ihre Wangen deckt heißes Not. „N—nein, Renate, wo denkst du hin? Ich würde mich fürchten und — zu Tode schämen. Und dennoch, wenn er es täte —" Renate fährt es wie ein Dolchstich durch die Brust. Sie hat sich nicht zu Tode geschämt. Aber jetzt, jetzt schämt sie sich — ihrer Feigheit. Warum nicht den andern das, was alle Welt in Kürze wissen wird, offen sagen, ohne Stolz (ja, wenn es ohne Stolz ginge!) — Auge in Auge? Sie würde eine Freundin verlieren, aber — was wäre das? Sie hält nicht sehr viel von rasch ge schloffenen Mädchenfreundschaften. Diese erbärmliche Feigheit! Lügen, immer lügen müssen! Als Alma eine Viertelstunde später ihr Zimmer ver ließ, hatte sie aufgeatmet. Und dann kam jener Berliner Brief. Und dann — vierundzwanzig Stunden nachher — steht sie mit Herrn Bollhard (er hatte es nun doch nicht anders wollen, als ihr das Geleit zu geben) am Fahrkarten schalter' der Riedstädter Station. Obwohl sie dem Glück entgegenfährt — gestern abend noch hat sie von ihm Nach richt erhalten, er werde, sobald Baron Lietheim wieder auf Sölde eintreffe, nachfolgen —, sind ihre Lider gerötet: denn der Abschied von Fräulein Henglcr war ihr nicht leicht geworden, so liebevoll forschend hatte Tante Friede- rikens Auge in ihren Zügen zu lesen gesucht. Lina Salz mann hatte auf die Nachricht von des gnädigen Fräu leins plötzlicher Abreise nur ein paar unverständliche Worte gebrummt, das Zehnmarkstück aber, das Renate ihr angeboten, mürrisch zurückgewiesen: „Lassen Sie man. For mir habe ich bei unserem Fräulein genug zum Leben, und zum Heiraten bin ich nachgerade zu vernünftig ge worden" — worüber Tante Friederike in ihrer gut- herzigen Art allerdings gelacht, die stolze Renate aber beinahe Tränen vergossen hatte. Nun steht Georg Volllmrd bei ihren Koffern neben der Gepäckwage und überwacht den Beamten, als habe er ihn im Verdacht, falsch zu wiegen, starrt dann so ein dringlich auf den frisch aufgeklebten Zettel „Von Ried- städt nach Berlin, Lehrter Bahnhof", daß Justine Frydag, die einzige — gottlob einzige — der Riedstädter Damen, die Renate begleitet hat, belustigt ausruft: „Ja, ja, Herr Vollhard, es stimmt!" Er wiederholt ihre Worte, nur in anderer Reihen folge: „Es stimmt, ja, ja", und bringt Renate Billett und Gepäckschein. „Vierundzwanzig Mark sechzig und drei Mark Ueber- fracht", spricht er gewissenhaft, und erst, als er die beiden Goldstücke, die Renate sür ihn aus ihrer silbernen Börse fischt, in der Hand fühlt, scheint er sich das Komische seiner Lage bewußt zu werden. „Aber, gnädiges Fräulein —" „Wie denn? Ich soll mir doch nicht die Rückreise be zahlen lassen?" Hochrot im Gesicht, gibt er ans das empfangene Geld heraus. Die Goldstücke aber schiebt er in die Westentasche. „Er hat eben für jedes Ting sein besonderes Fach", denkt Renate und tritt mit Justine in das Wartezimmer. Hernach am Waggon die üblichen Redensarten. Wenn doch der Zug endlich abführe! Renate ist nie eine Freundin von Bahnhofsgeleit ge wesen, heute aber weniger denn je. Justine wischte sich mit dem Taschentuch die Augen und bittet: „Schreibe bald", und Bollhards Gläser sind unver wandt auf ein und denselben Fleck gerichtet — „wie die Laternen vor der Lokomotive", denkt Renate. Daß der Fleck ihr eigenes Gesicht und dieses unverwandte An glotzen unanständig ist, scheint er nicht zu empfinden. Worte hat er bislang kanm für sie gehabt. Nun — end lich — will er wirklich etwas sagen? „Ich — Leben Sie wohl, gnädiges Fräulein. Werden uns wohl schwerlich Wiedersehen, aber — wenn Sie mal jemand brauchen — in Verlegenheit — Rat gern bereit — in allen Fällen." „Adieu, Herr Vollhard!" „Absahren!" ruft der Stationsvorsteher und winkt mit dem Arm; „bitte die Herrschaften, etwas znrückzutreten!" „Adieu, Fräulein —" Beim Näherkommen des Beamten hat Georg Vollhard zum ersten Male die Richtung seiner Blicke geändert. In demselben Augenblicke aber nimmt sein Gesicht einen ganz neuen Ausdruck an. Irgend etwas Abnormes ist ihm vor die Brillengläser geraten — etwas so Außergewöhnliches, daß Renate, noch einmal zu Justine und ihm hinaus nickend, der Richtung der Goldumränderten folgt und sieht, wie ein Mensch in grauem Paletot, einen verschlisse nen Koffer in der Hand, im letzten Augenblick in ein Coupo dritter Klaffe springt. Noch eine Minute lang steht Justine tuchwehend auf dem Bahnsteig. Als sie sich umdreht, ist Bollhard ver schwunden. Durch das Stationsgebäude schreitend, ent deckt sie ihn, wie er mit dem Finger auf dem großen gelben Lokalfahrplan herumfährt. „Jetzt halb zehn — zwei Uhr fünfzrHn — sechs Uhr zwanzig — acht Uhr sechSunddreißig — elf Uhr fünfund vierzig. Hm! — Dummheiten! Hätte gleich sollen — im schlimmsten Fall ja nur sechs Mark Risiko für Einsteigen ohne Billett — Dies Gesicht hm! — elf Uhr fünfund vierzig!" „Sie wollen doch nicht auch verreisen, Herr Bollhard?" fragt das stets zu harmlosem Mutwillen aufgelegte Pfarrerstöchterlein. Er dreht sich um. „Was wollen Sie? — Ah so, Fräulein Frydag. — Nein, nein, das heißt ja — in Geschäften, wahrscheinlich. Ich — ich sah nur nach, wann Fräulein von Grieben wohl in Berlin sein wirb. Sehe, sechs Uhr zwanzig hm! — Und dann hätte sie noch eine weite Droschkenfahrt, wie?^ Justinchen zieht die Schultern hoch. „Ich bin ja im Leben nicht dagewesen und weiß nicht, wie weit es vom Lehrter Bahnhof bis in die Hedemann straße ist." „Hedemannstraße, ach so! Ja, das ist eine ganze Strecke wird müde werden. Wissen Sie das genau ?" Die Kleine siebt ihn reichlich verwundert an, Renate ist wohl durch ihre Abreise erst seiner Rücksicht wert ge worden? Ucber diesen Gedanken vergißt sie schier das Antworten. „Ja, wissen Sie das genau?" „Aber natürlich!" lachte sie. „Hedemannstraße 48, zwei Treppen — es mag unbequem genug sein, sie zu steigen, aber Erich Buschkorn und mein Bruder Konrad wohnten ja als Studenten gar vier. Auf sechsundsiebzig Stufen steigt der Pilarim zu der steilen Höhe, deklamierte Konrad mit Vorliebe." Vollhard hat die Brille abgenommen, reibt erst an seinen Augen, dann an den Gläsern herum, schaut unter geröteten Lidern Fräulein Frydag an und seufzt: „Sechsundsiebzig Was sagten Sie? — Das ist 'ne MajorSwitwe, die — Tante von Fräulein von Grieben, nicht?'! „Noch dazu eine ziemlich arme, wie Renate sagte." ,Hm! So, so! Hedemannstraße 43 ja, eine halbe Stunde Wagenfahrt mag das werden." „Sie scheinen sehr besorgt um Fräulein von Grieben." Nun hat Georg Bollhard die Brille wieder auf der Nase. Und nun erhält Justine von ihm nur noch einen mürrischen Seitenblick und dem Gehege seiner Zähne ent fährt etwas wie ein kurzes Grunzen» Und auf dem ganzen langen Heimwege wagt sie kein Wort mehr. „Ist es wahr, daß du plötzlich reisen mußt?" fragt Tante Hengler ihren Neffen hernach bei Tisch. Georg hat gerade den letzten Tropfen Suppe ausge- löffelt, lehnt sich nun ein wenig zurück und spricht, die Serviette zum Munde führend: „Ach so, die Reise! Ja, ja, hätte fast vergessen, dir davon zu sprechen. Depesche bekommen von — von Kramer und Biesenstcin in H gefährliche Konkurrenz zu be- fürchten. Handelt sich um ein neues Verfahren, das sie eventuell ausbeuten wollen, ja hm! — Lina hat eS dir wohl gesagt?" „Das mit der Reffe, freilich. Ich mußte es ja der Wäsche halber wissen." Georg nickt. „Ach ja, der Wäsche halber Bitte, nicht zu viel, liebe Tante! So für höchstens acht Tage —" Tante Friederike sieht verwundert auf. „So lange also?" Er rückt unruhig auf seinem Stuhl herum. »„Konjunkturen, Tante! Möglich, daß ich von H. direkt nach Berlin fahre; denn der Kuckuck weiß, ob Kramer und Biesenstcin da nicht schon irgend einen Patentanwalt im Zuge haben, die Geschichte zu fruktifizicren. Ich bin wirk lich außer stände wie lang ich bleibe möglich, daß ich schon in zwei Tagen zurück — möglich auch, daß — hm! Der Spargel ist gut. Vom Gärtner Kredekind?" „Diesmal nicht. Lisa war des Schinkens wegen bei Schlächter Kröger, da batte die Frau gemeint, sie könnte auch gleich den Spargel dazu nehmen!" „So, so? Kröger batte doch erst vor drei Jahren gelegt i und sticht schon? Schöne Stangen, zart, Mittelmaß —" „Und wohlfeil. Fttnsundvierzig Pfennig! Kredekind nimmt fünfzig und füufundfünfzig fürs Pfund." „Allerdings sehr erfreulich. Ja, Kröger — ordentlicher Mensch, bescheiden, fleißig, solid —7 „Nun, uns kann er den Svargel schon etwa» billiger
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