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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 20.08.1903
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1903-08-20
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19030820020
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1903082002
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1903082002
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
- Monat1903-08
- Tag1903-08-20
- Monat1903-08
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Auf eine Beschwerde der Kasseler Geschäftsleute un»d insonderheit der Bäcker hat das Ministerium geantwortet, daß es nicht in der Lage sei, dem erwähnten Vereine die Er richtung einer eigenen Bäckerei zu untersagen. Wenn die „Deutsche Tageszeitung", deren Anhänger kreise freilich selbst ost genug anderen Leuten durch Errichtung aller möglichen Betriebe ins Hand werk pfuschen, dazu bemerkt, daß der Minister zwar eine gesetzliche Handhabe zur Untersagung der von dem Vereine geplanten Bäckerei nicht besitze, daß er aber sehr wohl in der Lage sei, den Verein in nachdrücklicher Weise aus hie sozialpolitischen Nachteile einer derartigen Gründung aufmerksam zu machen, so können wir ihr nur recht geben. Zudem wird man in der pachtweise» Uebcr- lassung eines Grundstückes seitens der Eisenbahndirektion eine Ermutigung zu dem von den Beamten geplanten Vorgehen erblicken müssen, einerlei, ob der Pachtpreis angemessen oder besonders billig ist. Ob Kasseler Bahn beamte eine Bäckerei errichten oder nicht, davon wird an ,ich die Lage des Handwerks in Deutschland gewiß nicht abhängen. Betrachtet man den Vorgang aber vom allge meinen Standpunkte, so wird man anerkennen müssen, daß man in Deutschland immer mehr darauf hinsteucrt, daß das Beamtentum wirtschaftlich einen Staatim Staate bildet. Was die größte Körper schaft anbelangt, die Armee, so bringt eine Garnison den Gewerbetreibenden heutzutage auch nicht annähernd mehr den Nutzen, den sie ihnen vor 50 Jahren gebracht hat; die wirtschaftliche Abschlietzung, oder wenn man es milder ausdrücken will, die wirtschaftliche Selbständigkeit der Truppenkörper ist viel größer geworden. Auch die Offiziere bringen allenfalls nur den Hausbesitzern etwas ein, während die Gewerbetreibenden dadurch, daß die Offiziere allerlei feinere Getränke und Nahrungsmittel, Uniformstücke, Reiseutensilien nnd dergleichen von dem Warenhaus für Armee und Marine beziehen, leer ausgehen. Wenn nun aber noch, wie das Kasseler Beispiel zeigt, die Beamten damit Vorgehen, Massen- nahrungsmittel selbst herzustellen, so bleibt fiir die bürgerlichen Gewerbtreibenden rein nichts mehr übrig. So gut wie die Beamten in Kassel eine Bäckerei errichten, könnten sie in Berlin eine eigene Brauerei einrichten; ihre Kopfzahl ist stark genug, um die Produktion einer mittleren Brauerei aufzunehmen. Zu der direkten Schädigung, die den bürgerlichen Gewerbetreibenden da durch erwächst, daß sie das Beamtentum als Kundschaft verlieren, kommt nun noch der weitere Nachteil, daß es bei diesem Kundschaftsverluffte nicht bleibt, weil auch Ver wandte und Freunde der Beamten von der größeren Billigkeit der Waren, die durch derartige genossenschaft liche Institutionen erzielt wird, Nutzen ziehen. Oder glaubt man beispielsweise, daß es nur Offiziere und Be amte sind, welche die Waren der betreffenden Warenhäuser erhalten? Dem Eisenbahnbeamtem der ja in der Regel keine fürstlichen Einkünfte bezieht, wie dem Beamten über haupt, wäre an und für sich eine Verbilligung des Ein kaufs seiner verschiedenen Bedürfnisse wohl zu gönnen. Auf der andern Seite aber muh daran festgehalten wer den, daß gerade der Beamte, der sein Gehalt von der Allgemeinheit empfängt, es auch der Allgemeinheit wieder im Austausche zurückgibt. Das ist ein gesunder und selbstverständlicher wirtschaftlicher Kreislauf, und die Unterbindung dieses Kreislaufs durch eigene wirtschaft liche Gründungen ist unaesund. Die preußische Kanalsronde. Die Kanalgegncr, die klerikal-konservative Mehr heit, finden fich überraschend schnell wieder zusammen, um der Kanalvorlage Stein auf Stein in den Weg zu rollen. Wie die Konservativen erst dann wieder an den Kanal zu denken geruhen wollen, wenn sämtliche umfangreichen Flutzrcgulierungen des Oder-Stromgebiets völlig ansge- führt sind, so macht jetzt das Zentrum seine Mitwirkung zur Erledigung der Kanalvorlage von der Schul unterhaltungsvorlage abhängig. Die „Köln. Vvlksztg." beginnt bereits, der Regierung die Daumen schrauben anznlegeu: sie verlangt, daß das anyekündigte Gesetz nur den Erwartungen der Konservativen und des Zentrums entsprechen dürfe; die Regierung würde einen schweren Fehler begehen, wenn sie den „billigen" Forde rungen dieser Parteien nicht Rechnung tragen wollte. Ferner müsse erst dieses Schulunterhaltungsgesetz im Sinne der Klerikalen und Konservativen unter Dach und Fach' kommen, bevor die Kanalvorlage zur Entscheidung kommen könne! Befolge die Regierung diese Taktik nicht, so müsse sic sicher sein, daß sie mit einer umfassenden Kanal vorlage wiederum Schiffbruch leiden würde! — Da liegt der ganze „Kuhhandel" Um die Kanalvvrlage offen vor aller Äugen! Bei den Konservativen und dem Zen trum sprechen gar keine wirtschaftlichen Momente für ihre Gegnerschaft zum Kanal, sondern lediglich politische Machtfragen. Beugt sich die Regierung nicht . . . dann, nun dann muß wieder die große wasserwirtschaftliche Vor lage und mit ihr hauptsächlich der gesamte Westen, aber auch die wirtschaftliche Vorlage der übrigen Teil« der preußischen Monarchie dafür büßen! Nach dieser Demas kierung des Zentrums, welches Schulgesetz und Kanalvor lage in politischen Kausalncxus bringt, verschärft sich der bevorstehende preußische Wahlkampf noch mehr, als sich bereits vvrhercuipfiudcn ließ. Die Verantwortung dafür trifft die klerikal-konservativen Parteien. Sozialrcform in Rußland. In Ergänzung unserer Mitteilungen über das neue Gesetz, betreffs Entschädiftung der Arbeiter bei Unfällen in Mctallfabriken und Montan- iudustriewerken, welche von den Besitzern der Unter nehmen zu zahlen sind, werden, wie der „N. H. T. B." mittcilt, folgende genaue Bestimmungen bekannt gemacht: 1) Die Fabrikbesitzer sind verpflichtet, den geschädigten Arbeitern, ohne Geschlechts- und Altersunterschied, bei während Ausübung der Arbeit erlittenen Körperver letzungen, die eine mehr als dreitägige Arbeitsunfähig keit nach sich ziehen, eine Entschädigung auszuzahlen. Bei unter denselben Bedingungen eingetrctenem Todesfall ist die Entschädigung den Familienangehörigen auszuzahlen. 2s Der Besitzer ist bloß dann von der Zahlung der Ent schädigungssumme frei, wenn die Verletzung nachweislich infolge böswilliger Absicht oder grober Unvorsichtigkeit des Verunglückten erfolgt ist. 3) Die Entschädigungen er folgen in Form von Pensionen» und Unterstützungen. 4s Die Unterstützungen dauern vom Tage der erlittenen Verletzungen bis zur völligen Arbeitsfähigkeit oder bei eingereichter Bescheinigung, daß die Unfähigkeit ununter brochen vorhanden war; die Unterstützung umfaßt die Hälfte der faktischen Erwerbssumme des Geschädigten. 5) Pensionen werden ausgezahlt in Fällen fortdauern der und vollständiger Arbeitsunfähigkeit in Höhe von zwei Dritteln des Jahresgehalts, bei nicht vollständiger in verringertem Grade, im Verhältnis zu der geschwächten Arbeitsfähigkeit. 6s Die Pensionen der geschädigten Kinder und Halbwüchsigen — bei ersteren bis Erreichung des Alters der Halbwüchsigen, bei letzteren bis zur vollen Arbeitsfähigkeit — wachsen im Verhältnis zu dem Durch schnitt des täglichen Arbeitslohnes dieser Arbeitsgruppen. 7s Der Fabrikbesitzer ist verpflichtet, denjenigen Arbeitern, die zur Heilung ihrer Verletzung in dem Fabriklazarett keine Hülse erhalten haben, die ihnen durch ihre Behand lung erwachsenen Auslagen zurückzuerstatten. 8) Die an die Familienangehörigen zu zahlenden Entschädigungen im Todesfälle des Arbeiters sind folgende: Es erhält z. die Witwe lebenslänglich ein Drittel der Pension; b. Kinder beiderlei Geschlechts, eheliche, adoptierte, un eheliche, sowie auch Pfleglinge, bis zur Erreichung ihres 15. Jahres, ein jedes ein Sechstel, falls einer der Eltern noch am Leben ist, und ein Viertel, wenn das Kind eine vollständige Waise ist; s. Verwandte in aufsteigcndem Grade lebenslänglich ein jeder ein Sechstel, und 6. Ge schwister, vollständige Waisen, bis zur Erreichung ihres 15. Jahres, jeder ein Sechstel der Pension. 9s Eheliche, Adoptiv- und Pflegekinder, die beide Eltern unter gleichen Bedingungen verloren haben, erhalten die Summe beider Pensionen, wie sie ihnen nach dem Tode eines jeden der Eltern zusteht. 10s Die Gesamtsumme der allen Familien mitgliedern des geschädigten Arbeiters zustehenden Pen sion darf zwei Drittel seines Jahrcsgehaltes nicht über schreiten. 11s Nach Vereinbarung zwischen beiden Seiten kann die Pension der Geschädigten, sowie auch diejenige ihrer Angehörigen durch einmalige Auszahlung einer größeren Summe ersetzt werden. 12s Von jedem Un glücksfall ist die Polizei oder die Fabrikinspektion sofort zu benachrichtigen und ein Protokoll aufzunehmen, welches genau alles Nähere enthält, insbesondere die Art der Beschädigung, die Umstände, unter welchen sie er folgte, Zeugenaussagen usw. Das Protokoll soll womög lich in Gegenwart des Arztes ausgefertigt werden. 13s Im Falle einer freiwilligen Liquidation des Unternehmens ist der Besitzer verpflichtet, eine regelmäßige Auszahlung oer von ihm zu leistenden Entschädigungszahlungen an die Empfangsberechtigten durch zweckentsprechende Versiche rung der diesen Zahlungen entsprechenden Einkünfte zu sichern. Dies muß bei einer der in Rußland tätigen Ver sicherungsgesellschaften oder anderem Institutionen ge schehen, oder durch Einzahlung von Kapitalien, respektive Wertpapieren in einer der Kreditinstitutioncn des Reiches. 14s Bei Jnsolvenzerklärungeu, zwangsweiser Liquidation oder Verauktionierung der Unternehmungen sind die den Verkauf oder die Liquidierung leitenden Per sonen verpflichtet, vom Eigentümer und den zuständigen Fabrikinspektoren Auskunft über die von dem Besitzer an die geschädigten Arbeiter und deren Angehörige zu zahlenden Entschädigungen zu verlangen. Diese Aus kunft muß die zur Versicherung entsprechenden Pensionen nötigen Summen enthalten; nach dem Verkauf des Unter nehmens wird aus dem Erlös die zur Sicherstellung der Pensionen notwendige Summe entnommen. 15) Die auf Grund dieser Bestimmungen zu zahlenden Pensionen, Unterstützungen und anderweitigen Zahlungen dürfen nicht zur Deckung von Kron- und Privatforderungen verwendet werden. Ei»« na»e Denkmalsfrage. Ein,^patriotisches FrauencamitL" in Ottawa erläßt einen von vielen hundert Frauen mitunterzeichneten Auf ruf, in welchem gegen den Plan, in der ^Londoner Westminsterabtei ein Standbild Washin g- tonsaufzustellen.in schärfster Form Einspruch er hoben wird. Der Ausruf, zu dem nicht nur englische, son dern auch viele französisch sprechende Kanadierinnen ihre Zustimmung erklärt haben, enthält folgende Hauptsätze: „Wenn das Wettbtchlen um die Freundschaft der Vereinig ten Staaten so weit gehen sollte, daß die amtlichen Kreise Englands dem größten Revolutionär gegen die britische Krone an der geweihtesten Stelle Englands ein Standbild aufstellen lassen wollen, so würde «das patriotische Em pfinden aller lovalen Kanadierinnen für immer tödlich verwundet sein. Der nordamerikantsche »Botschafter in London, Choate, bat, wie uns mitgeteilt wird, angeboten, daß ein Standbild der Königin Viktoria in W a s h i n g to n zur Aufstellung gelangen solle, wenn man das Standbild Washingtons in der Westminsterabtei zu lasten wolle. Dem müssen wir entgegenstellen, daß di« >Skrf- stellung eines Gedächtnisbildes der größten tzrau -es 19. Jahrhunderts in »Washington für die Vereinigten Staaten die denkbar höchste Ehrung bedeuten würde, während das Bild des Revolutionärs Washington an derjenigen Stätte, die für jedes britische Herz das höchste nationale Heiligtum ist, eine ewige Verhöhnung deS britischen Reichsgedankens sein würbe. Wir hoffen daher, -aß unser Mahnwort nicht unbeachtet bleiben wird." — Dieser seltsame 'Aufruf, der von allen kanadischen Blättern zu stimmend abgedruckt wird, ist offenbar den Wünschen ein flußreicher politischer Kreise entsprungen. Man hat hier von dem im Geheimen betriebenen Denkmalsplan Kennt nis erhallen, und 'da die Kanadier nicht mit Unrecht be fürchten, daß die Kosten der übergroßen »Freundschaft -wischen England und den Bereinigten Staaten jederzeit von Kanada bezahlt werben Müssen, so hat man 'das „patriotische Frauencomitö" vorgeschoben, um den Herren in London einmal gründlich die »Meinung sagen zu lassen. Deutsches Reich. Berlin, 19. August. (Die Freikonser- vativen.) Der „Natlib. Korresp." wird ge schrieben: Das Preisen und Rühmen, dessen sich Freiherr v. Zedlitz und Neukirch in der „Post" über seinen Anteil an der Niederlage der Regierung und der liberalen Partei in Sachen der Kanalvvrlage befleißigt, läßt das Auge des Wirtschafts politikers aufs neue auf die freikonservative Fraktion richten. Im Reichstage, wo sie den Namen Reichspartei führt, ist die Fraktion durch die letzten Wahlen wesentlich zurückgegangen; sie beträgt nur noch 19 Mitglieder. S-te hatte in der letzten Session durch das Ansehen, welches Feuilleton. i2j Renate von Grieben. Roman von Hermann Birkenfeld. Nachdruck verboten. Renate von Grieben war, als Erich sie nach jener Bank führte, ein paar Augenblicke besinnungslos gewesen und hatte von den Wechselreden der Männer weder gehört noch gesehen. Aber sie war mehr geistig als physisch ohn mächtig und hatte sich sehr bald wieder erheben können. „Darf ich Ihnen einen Wagen besorgen?" Diese Frage Buschkorns ist nötig, damit sie sich seiner Existenz wieder bewußt wird. Noch immer halb geistes abwesend, sicht sie ihn eine Sekunde lang an, nimmt dann mechanisch seinen Arm und antwortet: „Nein, ich danke; ich habe jemanden obzuholen." So geleitet er sie eine der Treppen nach dem Bahn steig hinauf. Droben setzt sie sich wieder hin. Die feuchtkühle Luft, die unter dem gewaltigen Glasdach hinstreicht, tut ihr wohl. Er steht neben ihr, wie ein schützender Ritter, doch zweifelnd, ob sie seiner noch bedarf. „Der Frankfurter Zug muß gleich einlanfen", spricht sie endlich, und dann, da er nichts Rechtes zu erwidern weiß: „Hoben Sie ein Stück Papier?" Er reicht ihr sein Taschenbuch. Sie schreibt ein paar Worte auf ein Blatt und fragt: „Wollen Sie mir einen Dienst erweisen?" ,Bon Herzen gern." „So besorgen Sie dieses Telegramm, aber ohne —" Jetzt, zum ersten Mal, erhält ihr Gesicht wieder Farbe. „Ohne alles, was Sic wünschen, Fräulein Renate." „Ich wollte Sie bitten, das Blatt nicht zu lesen." Er verbeugt sich, und seine Stimme klingt etwas scharf, als er entgegnet: ,^Jch pflege überhaupt nicht in fremden Korrespon denzen zu stöbern." Sie sieht von seitwärts scheu zu ihm auf. „Ich wollte Sie nicht kränken, Herr Buschkorn. Der kleine Zwischenfall hat mich nur so angegriffen, daß doch nun gehen Sie und nehmen Sie meinen Dank mit auf den Weg. Sie sind ein guter Mensch." Hat er da eine Träne in ihrem Auge gesehen? Pah, die nervöse Erregung über den brutalen Kerl, was kümmert's ihn? Jedenfalls eilt er, ihren Auftrag auszuführen. Sie sitzt oben noch still auf der Bank, wirklich voll echten Dankgefühls gegen den Ritterlichen, der rücksichts voll genug war, nicht mit einer Silbe zu sragen, was jener Mann unten von ihr begehrt hatte. Wenn sie jetzt, da ihre Gedanken sich sammeln, lichten, ordnen, bedenkt, was sie ihm hätte sagen müssen oder sagen können -- ja können — was nur? Im ersten Augenblicke schwerlich etwas anderes als die Wahrheit. Ihren toten Bruder aber vor ihm bloßstellen, wäre ihr fürchterlich gewesen. Und jener Mensch — ob sie ihn sofort richtig beurteilt hatte? War er nicht höchstwahrscheinlich ein Irrsinniger, dem es, früher einmal mit ihrem Bruder und dessen Ver hältnissen bekannt, zur fix)en Idee geworden war, die Schwester dieses Bekannten müsse ihm aus irgend einer, möglicherweise nur eingebildeten, Not helfen? Aber auch von Walter hatte er geredet, kannte ihn offenbar. Der würde nun kommen, sobald er ihre Depesche er halten, zumal ihn bisher, wie er geschrieben, nur die An wesenheit des Barons von Lietheim an der Reise nach Berlin gehindert hatte. Jetzt sehnte sie ihn zwiefach herbei als ihren natürlichsten Beschützer und als den geliebten Mann, an dem sie mit jeder Fiber ihres Wesens hing. Und wie in dem kleinen Riedstädt, so drängte auch hier ihr Charakter, dem alles Verschwommene von jeher als ein Unding erschienen mar, nachdrücklich auf Klärung, d. h. ein Bckanntgeben ihres Verlöbnisses. Er mußte kommen, er mußte Endlich der Zug, der Grete Horsten bringt! Und end lich ist die aus dem Wagen, in ihren Armen. Und ganz die Alte ist sie geblieben mit ihrem trotz der Fahrt im Coupsstaub unverwüstlich frischen Gesicht, den feinen blauen Aederchen der Hellblondinen an den Schläfen, dem anspruchslos anliegenden, von Renate so hundertfach bewunderten schweren Haar und den er- lvartungsvoll strahlenden grauen Augen. „Ganz die Alte", flüsterte Renate unwillkürlich, da sie ihren Blick in jene Augen taucht, und Grete von Horsten ruft lachend: „Freilich, die Alte von siebenundzwanzig Jahren, Herzblatt!" und gibt ihr noch einen Kutz. „Aber, datz du mich aus dem Waggon holtest. Lieberes konnte mir schon gar nicht begegnen, weißt du." „Tante Hildegard ist leider unpäßlich, und Hertha hatte dringende Besorgungen." Die paar Worte kommen so klanglos resigniert heraus, daß Fräulein von Horsten den Kopf neigt und von unten herauf in Renatens Zügen forscht. „So?" fragt sie dann. „Deshalb erbarmtest du dtch also der Reisenden? Aber sag' dir fehlt doch nichts?" Renate lächelt. „Kerngesund." „Schön. Dann laß uns hinuntergehen. Da sehe ich einen Gepäckträger, und hier oben zieht es nach der Fahrt im dumpfen Coups abscheulich." Das ist derselbe Luftzug, der zehn Minuten vorher Renate so wohl tat! In der Hedemannstraße dauert es doch geraume Weile, bis die Freundinnen zu einer vertrauten Zwiesprache kommen. Tante Hildegard hat so viel zu klagen — über Lonny, von der sie nach ihrem letzten, dem heutigen Briefe, der in ausgelassenster Laune die Tätigkeit der Pflegemutter einer Ferienkolonie skizziert, sich alles Möglichen und selbst des Unmöglichen meint versehen zu müssen, und nicht minder über ihre Migräne — und Hertha hat so viele Mängel ihres kleinen Hauswesens zu entschuldigen, zu beschönigen, vom Wohnzimmer in die Küche, von der Küche in Gretens Schlafgemach zu laufen, daß die Angekommene endlich froh ist, als das Dienst mädchen erklärt, der Rehbraten sei nun gerade gut, und die Kartoffeln würden hart, wenn's nicht bald losginge. So geht es denn „los", und Grete Horsten findet das stark abgeputzteSilber derMajvrin nvchebensowundervoll und den grauen Tischläufer aus SLachstuch noch ebenso praktisch wie ehedem — sehr zum geheimen AergerHerthas, welche die „unmöglich natürliche Anspruchslosigkeit des reichen Mädchens" als versteckte Kränkung empfindet. Doch kleidet sie ihren Protest in ein lactiend gesprochenes: ,F)hr hattet in Kurland wohl noch Wachstuchschoner auf dem Tisch — und Weingläser von anno oierundfünfzig wie unsere? Oder trank man dort überhaupt nicht bei den Mahlzeiten?" — worauf Grete, ebenfalls mit heiterer Miene, erwidert: „Ttschtuchschoner — nein, die gab's schon deshalb nicht, weil es Onkel Paul meist ganz gleich gültig war, ob er von der nackten Platte oder vom Tisch tuch speiste. Und seine Weingläser schätze ich auch noch ein bißchen älter als die euren. Benutzt wurden sic frei lich ost genug, besonders wenn Herr Dominik nach Sie- fanowow kam. Brr!" „Ah, der junge Herr?" „Der Sohn meines OnkelS." „Das heißt, detn Herr Vetter?" fragte die Majorin vom Sofa. Hier ziehen Gretens Brauen sich zum ersten Mal ein wenig zusammen. „Die Verwandtschaft, liebe Tante, war ein bißchen weitläufig." „Und Herr Dominik ein bißchen häßlich?" unterbricht Hertha, die Lippen spitzend. Grete hebt das -luge ruhig zu ihr empor. ,Fsm Gegenteil, ein Adonis — oder ein Modejournal kopf — wie ihr wollt." „Und doch hat er dich von Stefanowow vertrieben?" „Aber Hertha!" ruft die Majorin. Hertha blickt ihrer Mutter dreist ins Gesicht. ,Z?ar die Bemerkung so schlimm? Mir schien eS natürlich —" „Daß man einen hübschen Menschen entweder gern haben oder vor ihm ausreiben mutz? Welche Kindereien du noch immer im Kopfe hast!" tadelt die kleine dünne Frau von Grieben mit ihrem matten Migränelächeln, das dennoch den Borwurf vcrsützt. „Bei einem Herrn aus gesicherter Stellung und solcher Familie wie Herr Dominik würbe ich mich vielleicht für das erstere entscheiden." „Das ist ja dein Ernst nicht, Hertha!" „Nicht? Aber wozu in aller Welt bin ich denn da?" Grete von Horsten lacht. „Zum Verlieben?" „Mindestens znm Heiraten. Ihr zwei, du und Renate, ihr habt gut reden, aber ein armes Mädchen wie ich. — Ich habe nicht Lonnys Temperament nnd Anlagen, sonst stände ich allerwsgs auf eigenen Fühen, wie jetzt sie. Was soll ich denn einmal anfangen?" „Hertha, bedenke meinen Zustand und schwatze doch nicht so unendlich törichtes Zeug!" seufzt di« Majorin. „Wenn du drei Monate in Stefanowow wärest, dächtest du anders", meint Grete. Hertha schüttelt den Kopf. „Was bleibt mir denn, als eine anständige Partie? Wenn jener Adonis mich wollte —" „Möchtest du nicht 'mal nach Stefanowow fahren? Aber du vergißt doch wohl, daß ein ansehnliches Aeutzere nicht allein entscheiden darf." „Sondern der Charakter, der aber wesentlich Er-
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