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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 17.10.1902
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-10-17
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19021017018
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902101701
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902101701
- Sammlungen
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- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1902
- Monat1902-10
- Tag1902-10-17
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Anzeigen Preis die 6 gespaltene Petitzeile LS Rrklam«« «Mer dem RedaktionSstrtch (4geivalten) 7K vor den Familieuuach. richte« (S gespalten) SO Tabellarischer und Ztffrrnsatz entsprechend höh». — Lebübren für Nachweisungen und Offertenaunaqm« LS H (excl. Porto). Extra-Beilage« (gesalzt), nur mit de. Morgen-AuSaabe, oha« PostbesSrderung oO.—, mit Postbesörderung ^l 70.—. Ännahmeschluß für Aryei-ern Abeud-AuSgab«: vormittag» 10 Uhr. Morg«u-AuSgab«: Nachmittag» 4 Uhr. Anzeigen sind stet» an die Expedition zu richten. Die Expedition ist wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bi» abends 7 Uhr. Druck und Verlag vou E. Polz tu Leipzig. SK 528. Freitag den 17. Oktober 1902. 98. Jahrgang. Deutsches Nationalbewußtsein in Siebenbürgen. ./' Das Nationalbewußtsein der Deutschen in Ungarn, das gerade in letztcrZeit durch die betrübenden Preßprozesse daselbst die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, ist unter allen in Ungarn lebenden Deutschen am ursprünglichsten und schärfsten unter den siebenbürgischen Lachsen aus gebildet. Dieses deutsche Nattoualbewußtsetn von seinem Ursprung her bis in die Gegenwart zu verfolgen, bietet mannigfaches Interessante. Man erhält dabei zugleich ein abwcchselnngSvolleS Geschichtsbild, das sich sern von der deutschen Heimat dort drunten in Ungarn unter fremd nationalen Völkern selbständig entwickelte. Unbestreitbar nahmen die Liebenburger Lachsen, als sie, von dem ungarischen Könige Geisa II. gerufen, aus den rheinfrä'nkischcn Gegenden nach Liebenbürgen zogen, ein mächtig cntwictcltes, stolzes Nationalbewußtsein auS Deutschland mit. Damals hatte ja die große Zeit der sächsischen und fränkischen Kaiser Deutschland wieder ein mal an die Lpitze der Gelt gestellt; die bekannte großartige Kolonisation vollzog sich in den slawischen Ländern und ein allseitiges Hinttberfluten über die alten deutschen Grenzen gab. eine Vorstellung von dem kräftigen Lebensdraug und dem Nationalbewusstsein, das diesem zu Grunde lag. Auch die Siebenbürger Lachsen trugen in ihre neue Heimat den Stolz auf ihr deutsches Volkstum und das Bewußtsein ihres Wertes mit. Dieses Nationalbewußtsein der Einwanderer fand in Siebenbürgen, wo diese sich nach deutscher Weise neu ein richteten, seinen entsprechenden Ausdruck gegenüber den magyarischen Lzeklern, welche sie dort vorfanden und deren Grenznachbarn sic geworden sind, und gegenüber den im 13. Jahrhundert aus dem Lüden nach Siebenbürgen ein wandernden „Welschen", Walachen, die heute Rumänen heißen. Das aus Deutschland mitgebrachte Nationalbewußtsein erhielt schon infolge dieser eigenartigen Rivalität ein be sonderes Gepräge und nahm im Laufe der Jahr hunderte zu. Im 14. Jahrhundert begannen die anfangs in von einander getrennten Ansiedelungen zerstreuten „Lachsen" ein siebenbttrgische- „Volk" zn werden. Hermannstadt wurde für bas ganze „Lachsenland" der oberste Gerichts hof. In diesem und dem folgenden Jahrhunderte haben übrigens auch die Handwerkerzünfte viel zur Gestaltung des eigenartigen sächsischen Nationalbewnßtsetns beige- tragen. In diese Zünfte wurde nämlich niemand aus genommen, der nicht Nachweisen konnte, daß er ein Deutscher sei. Im 10. Jahrhundert gab es dann schon große politische Ereignisse, in denen das Nationalbewußtsein der Lachsen sich erproben und stärken konnte. Damals entbrannte der folgenschwere Kampf um Liebenbürgen zwischen dem reichen Erzgrafen der Zips und Statthalter von Sieben bürgen, Zapolya, und dem Hause Habsburg. Die Sachsen stellten sich aus die Leite Habsburgs. Unter ihrem damaligen Führer, dem aus Schwaben gebürtigen Markus Pempfslinger, kämpften sie bewußt für ihr Deutschtum mit dem Schwerte in der Hand, und damals wohl erhielt der ttefwurzelnbe nationale Gedanke seine Feuertaufe. Zeitlich fällt mit diesem Kampfe für das Haus Habsburg zusammen die Einführung der Reformation. Durch sie entstand ein ncncS starkes nationales Band; denn alle Sachsen, ohne Ausnahme, traten zum evangelischen Glauben Luthers über. Seither steht der siebenbürgtsche Sachse, politisch und kirchlich verbunden, streng geschieben da neben dem reformierten Magyaren und dem unitarischen Lzekler. Die dentschc Bibel tnrg ebenfalls hierzu bas Ihrige bei. Es war ein Glück für die Liebenbürger Lachten, daß sich dieses nationale Bewußtsein, politisch und kirchlich ge stützt, im Jahrhundert der Reformation so sehr gefestigt hatte; denn im 17. Jahrhundert war es unter den unaus gesetzten Kriegen während der Herrschaft selbständiger siebcnbürgischer Fürsten vielfach schwer bedroht. Für Len, der die Geschichte kennt, ist es schier ein Wnnder, daß e- stch in dieser trostlosen Zeit überhaupt erhielt. Am Ende des 17. Jahrhunderts tritt dann in dem aber maligen politischen Kampfe für Habsburg, das schließlich auch Besitz nahm von Siebenbürgen, in dem späteren Over- Haupte des sächsischen Volkes, in Sachs von Hartenack, eine großartige nationale Begeisterung zu tage. „Eure kaiser liche Majestät", schließt dieser während seiner Dcputattons- zeit in Wien ttOMft eine Denkschrift, „werben nicht zugeben, baß der sächsische Ltand dem Untergänge entgcgengeftthrt und das deutsche Gedächtnis in Siebenbürgen vollends ausgetilgt werde!" Eine ähnliche Rolle, wie sie am Schlüsse des 17. Jahr hunderts Hartencck inne hatte, aber mit noch viel größerem Einflüsse, fällt am Schlüsse des 18. Jahrhunderts dem Gouverneur'» Samuel von Bruckcnthal zu. Er hatte, alS ein Lachse, nicht nur die Leitung des Landes inne, sondern galt auch bet Hose im Rate der Kaiserin Maria Theresia viel. Unter den Sachsen lebt sein Andenken fort, vornehm lich durch bas nach dem AuSsterben der freiherrlichen Fa milie, 1872, in den Besitz des -Sermannstäbter GymnastumS übcrgcgattgcne zweistöckige Palais derselben mit ihre« wertvollen Sammlungen und einem SttftungSkapitale von etwa 150 000 heute eine der Hauptstützen der deutschen Schule und Wissenschaft in Siebenbürgen. Im 18. Jahrhundert hatte das deutsche Nationalbewusst sein der Siebenbürger Lachsen, fast wie später im neun zehnten, reichliche Gelegenheit, fort und fort an Kraft und Widerstandsfähigkeit zu wachsen. Kaiser Josef II. zerstörte alle bestehenden Verhältnisse und rief eine innere Revo lution hervor, die einen tieferschüterndcn Eindruck auf das Volk machte. In seinen gletchmachenden Bestrebungen hob er, ähnlich wie es später nnter ganz anderen Verhältnissen nnd mit anderen Mitteln geschah, die sächsische, in sich selbst geschlossene Nation politisch aüf, zog ihr Vermögen ein und vernichtete die alte, nationserhaltcnde Bestimmung, baß auf Lachsenbodcn nur -er Lachse Eigentum erwerben dürfe. Nach solcher Niederdrückung trat auch innerhalb der sächsischen Nation derselbe Erfolg zn tage, wie unter den Magyaren; das nationale Bewußtsein erhob sich -u ungeahnter Entwickelung. Damals berief man sich sowohl unter den Magyaren, als unter den Sachsen nicht auf die allgemeinen Menschenrechte, sondern auf die Geschi ch te. Seither ist das Nationalbewußtsein der Siebenbürger Sachsen von einem konservativen Zuge erfüllt ge blieben. Das Ende dcS 18. Jahrhunderts ist auch insoweit bedeutsam für die Entwickelung des Nationalbcwnßtseins unter den Sachsen, als ihre leitenden und hervorragen den Männer damals zuerst versuchten, eine Einwirkung aikf die Masse des Volkes zu erzielen durch das gedruckte Wort. Ein großer Teil der Schriften jener Tage ist gerades» für das Volk berechnet; sie wollen aufklären, er wärmen, begeistern. Die politische Literatur des Sachsen- volkcS ist, so oft sie später solches versucht hat, etwas von der Frische jener Tage am Ausgange des vorvorigen Jahr hunderts geblieben. Gleichzeitig hat gerade diese Zeit zu der späteren Entwickelung der sächsischen GeschichtS- und Sprachforschung den Grund gelegt. Nach einer längeren „stillen" Zeit, begründet im Frieden der Metterntchschen Herrschaft, beginnt im io. Jahr hundert mit Bezug auf das Leben und die Acußerung des nationalen Bewußtseins unter den Lachsen in den 1830er Jahren ein abermaliger Aufschwung, der dann in der Revolutionszeit, Ende der 1840er, und nach ihr in den 1870er Jahren, unter dem Zeichen der magyarischen Herr schaft die Blüte einer warm pulsierenden nationalen Stim mung auf allen Gebieten volklicher Tätigkeit herbciführte. In diesem Sinne hat das Alldeutschtum allerdings ein reiches, fruchtbares Gebiet unter den Liebenbürger Sachsen; staatsverrätcrisch aber im Sinne der gegen wärtigen sinnlosen Beschuldigungen kann dies schon aus dem Grunde nicht sein, weil die Sachsen zu eng mit ihrem über 700 Jahre her besiedelten neuen Vaterlands ver wachsen sind. Deutsches Reich. 6. U. Berlin, 16. Oktober. (Die deutsch« Berg- arbeiterbeweaung und die großen Streiks «n Amerika und Frankreich.) Die Riesenstreiks in Amerika und Frankreich haben natürlich die Leiter des sozialdemo kratischen BergarbeiterverbandeS in Deutschland in lebhafte Erregung versetzt. Das ganze Agitatorenheer mit dem Abg. Sachse an der Spitze häkt Versammlungen ab, in denen un ausgesetzt daS Thema: »Warum gebt cS den Bergarbeitern jetzt so schlecht?" verhandelt wird. Man will mit allen Kräften die Bergleute in die sozialdemokratische Organisation hineintreiben, denn trotz aller Phrasen und trotz einer nicht unbedeutenden Zunahme des Verbandes ist dieser doch ln Rheinland-Westfalen und in den übrigen Kohlenrevieren von keiner hervorragenden Bedeutung; cS ist doch immer nur ein bescheidener Prozentsatz der Bergleute, welcher der roten VerbandSfahne folgt. An einen Streik der deutschen Bergleute ist schon deshalb nickt zu denken; außerdem würbe die Verbandskasse in wenigen Tagen aufgezehrt sein. Der Gesamtvorstand deS Bergarbeiterverbandes hat sich nun eingehend mit den Streiks in Frankreich und Amerika beschäftigt und beschlossen, den streikenden ameri kanischen Kameraden vorläufig 5000 .ck zu senden; ob die französischen Bergleute pekuniär unterstützt werden sollen, hangt von dem weiteren Verlaufe ihres Streike« ab. Ferner hat der Verband an alle Bergleute Deutschlands einen Auf ruf erlassen, in dem er zunächst darauf hinweist, daß, wenn die französischen Beraleute ihre Forderungen durchsetzen, dies auch den deutschen Bergleuten zugute komme; diese würden dann mit größtem Nachdruck für ihr« Forderung eintreten können. Sodann werden die deutschen Bergleute auf gefordert, keine Ueberschichten zu machen. Der Verband will nämlich wissen, daß der Versand von Ruhr- kohlen jetzt täglich auf 17 000 Doppelwagaon» gestiegen sei, während er vor dem französischen Streik nur 18 000 betrug. „Diese Mehrausfuhr können wir nicht hindern, weil die betreffenden Kohlen schon längst gefördert waren, aber unsere Pflicht ist e«, solange die ausländischen Kameraden streiken, mindesten« keine Ueberschichten zu verfahren." Allzu tragisch ist dieser Aufruf nicht ^u nehmen, denn, wie bemerkt, dem Verbände gehört nur ein kleiner Theil der Bergleute an und von diesen folgt den Schröder nnd Sachse wiederum nur ein Bruchteil. Berlin, 16. Oktober. (Unsere Kriegsmarine und dir katholisch« Seelsorge.) In Parlament und Presse hört man gelegentlich von klerikaler Seite Klagen darüber, daß in der kaiserlichen Marine Vie katholische Seel sorge zu kurz komme. Mit Rücksicht hierauf ist ein Brief von Interesse, den der Domherr Matthias Müller in Caracas, ein geborner Elsässer, auf Grund eigener Erleb nisse vor einiger Zeit geschrieben hat und den ein reichs- ländischeS Blatt jetzt veröffentlicht. In diesem Briefe beißt eS: „Ich machte diese Reise . . „ um der Ein ladung Folge zu leisten, welche Kapitän Stieale vom Kriegsschiff „Vineta" auf der deutschen Ge sandtschaft an mich gerichtet, zunächst um da- Schiff zu sehen, dann aber, um den deutschen Matrosen einen Gottesdienst zu halten ... Morgen» um 7 Uhr fand in der Pfarrkirche von Guayra, Meerbasen von Caracas, eine kurze Predigt in deutscher Sprache statt, auf welche die heilige Messe, bei welcher 30 Soldaten und ein Offizier die heiligen Sakra mente empfingen, folgte, dann Aussetzung und Segen mit dem Allerbeiligsten. Die Bevölkerung war gerührt und erbaut von diesem GlaubenSakt. Um halb 12 Uhr Frühstück an Bord der „Vineta", wobei Liebenswürdigkeit und brrzlicheFreud» das Mahl würzten. Wahrlich, ich batte alle Ursache, mit dem Kapitän, den Offizieren, der Mannschaft zufrieden zu sein. Man bewunderte hier dir religiöse Gesinnung des Schiffskapitäns." — Die Einladung des Kapitäns Stiegle an den Domherrn, den katholischen Matrosen einen Gottesdienst abzuhalten, darf als symptomatisch für das Verhalten unserer Kriegsschiff kommandanten gelten. Um so weniger sollten unsere Klerikalen sich beschwert fühlen, wenn auf hoher See katho lische Matrosen an einem protestantischen SchiffSgotteSdienste teilnehmen. Derartige Klagen, die von Zeit zu Zeit laut werden, können durch religiöse Bedenken nicht begründet werden, sondern entspringen nur einem engen Kvn- fessionalismus. H- Berlin, 16. Oktober. (Entwickelung des A ll s iv a n d c r u n g s lv c s e n s in Deutschland.) Einen interessanten Nachweis führte Di. Alexander Ttllc in einem Vortrage auf -cm -cntschcn Kolonial kongreß 1002 hinsichtlich der Elftwickelung des Menschen verlustes des Reiches durch Auswanderung, welche nicht durch Einwanderung wieder ausgeglichen würde. Danach gingen dem Reiche von 1872 bis 1878 von seinem Geburten überschuß durchschnittlich 11,4 Prozent verloren, 1870 bis Feuilleton. Der billige Umzug. Humoreske von Ernest d!Hervtlly. Nachdruck verboten. Am Sonnabend, -cm 30. September, ging -er mit 1500 Franken besoldete Beamte Anatole Eombalot im Ministerium -er inneren Angelegenheiten in Parts, nach dem er für vier Sous Lcbcrivnrst und seine zwei Brötchen verzehrt und dazu einen halben Liter Wein getrunken hatte, — ck. h. um 12 Uhr mittags — in seinem Bureau dreimal auf und nieder, kreuzte die Arme über -er Brust und sprach zn einem seiner Kollegen, die sich mit Gänse federn in den Zähnen stocherten, also: „Am Montag, -en 2. Oktober, ist der Ziehtag für die Armen und Elenden. Da mir meine Mittellage nicht ge stattet, die Wohnung zu, behalten, die Ich sechs Kilometer vom Faubourg Lt. Gevmain innehabe, so habe ich mich ent schlossen, -a ich die Rechnung ohne den Wirt, den man die Gratifikation nennt, nicht machen kann, etwas billiger zu wohnen und etwa» weiter sortzuztehen. Str können ruhig sagen, meine Herrn: ich muß umziehen. Traurige Not- wcn-igkcit!" Die Kollegen wiegten teilnehmend die Köpfe. „Meine Herren", fuhr Anatole Eombalot fort, „wenn Sie etwa glauben, ich besitze die 25 Franken, die der be scheidenste Fuhrhcrr fordert, so geben Sie sich der gröb lichsten Täuschung hin!" „Ja, ja, ja, ja!" seufzten die Kollegen und krauten sich Mit -en amtliche» Federkielen hinter ihren diversen Ohren. „Und dennoch, meine Herren, zwingt mich mein trau riges Schicksal dazu! Bis Montag must ich mir die er forderliche Summe pumpen, wenn Ich nicht wie ein ver loren gegangener Hund mit meinen Möbeln auf dem Rücken durch die mehr oder weniger belebten Straßen der Weltstadt irren will." „Bitter! Lehr bitter!" murmelten die Kollegen und bauten aus -em amtlichen Briefpapier Kähne nnd Wind mühlen. „Also", fuhr Eombalot händeringend fort, „eutweder werde ich auf freiem Felde schlafen müssen, oder der nächste Sonntag wird mich auf dem Pont des Art» sehen, Mo ich, eine Büchse in den Händen, das Mitleid der Passanten an- flvhen werde." „Unerhört, unerhört!" murmelten dir Kollegen und rieben sich mit den amtlichen Linealen die Nasen. „Allerdings besitze ich", suhr der Unglückliche fort, „eine mit Mammon gesegnete Tante, -och sie bletvt gegen da» Flehen eine» respektvollen und ergebenen Neffen taub. Shylock, dieser Urahne des Leihhauses, war gegen meine Tante mütterlicherseits ein Waisenknabe, und die Tiger Indiens sind dem Mitleid zugänglicher als sie. Wenn ich mit ihr spreche, verstopf» sie sich die Ohren! Und außer- dem «darf ich meine Erbschaft auch durch unkluge Bitten nicht in Frage stellen. Was tun? maß tun? was tun?" „Eombaloil" versetzte einer der Kollegen des ver zweifelten juttgen Mannes, indem er mit einem der amt lichen Streusandfässer den Niagarafall zu kopieren ver suchte, „erinnere dich der Worte ScrtbeS aus „Maurer und Schlosser": „Nur Eourage, nicht verzagen! Treue Freunde sind dir nah!" „Was höre ich? Wa» willst du damit sagen?" „Wir wollen Folgendes sagen: Am Montag beim Morgengrauen werben die vier Musketiere, die sich hier um I2ö Franke» mouatlich für den Racker von Staat zu Tode schinden, vor deiner Tür stehen." „Traume ich? Ihr selber, Kinder. . .?". „Wie gesagt, beim Hahnenschrei werden wir in Be gleitung eines Handwagens, den du für ein paar LouS nfteten kannst, an deiner Klingel ziehen. Dein Umzug wird dich nicht» kosten. Wir verlangen für unfern Schweiß — und Schweiß wird fließen — nur jeder ein frisches Weißbrot und einen Liter EhtoSwetnl" „In meine Arme, edle und kahlköpfige Jünglinge!" rief Eombalot im höchsten Freudenrausch. „Ach, wie bet Beweis einer »Vahren Freundschaft da» Herz erbebt und «den Menschen zu schönen Laten anseuert! Ich habe wahrhaftig jetzt noch weniger Lust zum Arbeiten als sonst! An mein Herz! Mein Herz steht euch von 2—4 Uhr offen!" Und die fünf Beamten nahmen ihre tiefernste tägliche Beschäftigung wi»d«r aus» Indom sie Witze über die Ver waltung und ihr« Vorgesetzten rtsseN. Zwei Tage später herrschte in den Vden Straßen deS nördlichen Abhanges von Montmartre, auf der Treppe eines einsamen HauseS ein wahrer Höllenlärm. Anatole Eombalot, der oiS dabtn unvermckhlt duichs Leben g,wandelt war, nahm ben billigen Umzuy vor, den ihm seine Freunde vorgeschlagrn batten. Natürlich bot Eombalot, nm seinen Packern die nötigen «käste zu verleihen, ihnen schon bet Tagesanbruch den Üblichen Schnaps und das frisch aus dem Backofen kommende Brot an. Mit vereinten Kräften machten sich dann die Freunde, Mit Hämmerst versehen, an die Bernichttttia der Möbel, chombalot empfahl ihnen die größte Rücksicht aus die Altersschwäche seine» Mobiliar»: „Gebt vor allem ans Va» Porträt meiner TaNte acht! Leine Erhaltung ist die ovocklilo eins qua non metner Erbschaft!^ .Hab' keine Angst, wir werbe» es schon gut be handeln!" Bum! bum! . . . Krach! . . . Knack! . . . bum! In dieser seltsamen, aber durchaus verständlichen Sprache drückte sich der Schrank auS, indem er das Gleich gewicht verlor und krachend in die Stube auf den Boden fiel. „Ums Himmekswillcn! Ihr ruiniert meinen Nußbaum schrank, den Schrank meines Onkels!" stöhnte Eombalot. „Unbesorgt!" versetzten die jungen Leute; „das hat nichts zu sagen. Außerdem ist ja auch schließlich der Möbeltransport nicht unser Beruf", fügten sic in sanft ver. weisendem Tone hinzu. „Gebt nur ja auf das Bild meiner Tante acht!" „Wo hast du cs hingestellt?" „Dort auf einen Stuhl!" „Ach — das da?" „Mein Gott! Tod und Teufel!" heulte Eombalot. Er hatte auch Grund zum Heulen. Der Schrank hatte sich beim Kallen geöffnet. Eine 'der Türen war einem auf der Kommode stehenden Mvstrichtopf, der sich tu der Ver wirrung hierher verirrt, begegnet, hatte ihn umgcworfen, bann zerdrückt, und nun floß der gelbe Brei quer Uber bas Gesicht der ehrwürdigen Greisin. Düster und unbeweglich betrachtete Eombalot das Ent setzliche. „Das hat nichts auf sich", sagte einer der Freunde, um ihn zu trösten, indem er das erhabene Bild mit einem Lcheucrlappen abwischte. „Ucbrigens ist Mostrich für alte Bilder sehr gut; sie sehen dann frischer aus!" „Das Bild meiner Tante!" stöhnte der unglückliche Eombalot in der tiefsten Verzweiflung. „Meine Erbschaft, meine Erbschaft!" Nach bissen kleinen Zwischenfällen beluden die Freunde ben Wagen, ans der Treppe von einem bedürftigen Mieter verfolgt, der sich die alten Stiefel anobat, und der Zug setzte sich in Bewegung. Zwei zogen, zwei schoben. Eombalot selbst trug das Bild seiner Tante, und unter seinem Rock eine Stntzuhr, die zur großen Verwunderung der Passanten plötzlich zu schlagen anftng, so baß sic ihn für einen Bauchredner hielten. An der Straßenecke wurde der Zug von einer Reihe tanasam fahrender leerer Hochzeitskutschen aufgehalten. Ls kam zu einem erregten Wortwechsel mit ben Kutschern, die sich weigerten, Platz zu machen, und schließlich zu einer kleinen Balgerei, bet der einige Möbelstücke Siekanntschaft mit dem Straßenpslaster machten. Endlich hatte man sich aus den Fäusten Ser Nvsselenkcr befreit, und die Wanderung ging weiter, als die schlecht be festigte Marmorplatte der Kommode hcrunterrutschtc und ans dem Pflaster in zwei große Stücke zerbrach. „Donnerwetter! Gebt doch acht!'! schrie Eombalot. „Himmeldonnerwetter! .... Na, ich Hankes Da» ist nett! Eine Marmor-katte für so Franken!"! „Die Stücke sind sa noch gut!" sagte ein Freund vor wurfsvoll. „Du scheinst nicht mit nns zufrieden zu sein, aber weißt du, wir find ja keine preisgekrönten Zteyleukc. Wir wollten dir doch bloß einen Gefallen tun!" „Na schön", versetzte Eombalot resigniert. „Das ist ja kein großes Unglück! Machen wir jetzt nur, daß wir an Ort »üd Stelle kommen." Endlich langte man schwitzend, zerschlagen, hungrig und mit trockener Kehle in Eombalots neuer Wohnung an. Bevor man aber die Möbel ablud, verlangten die aus gehungerten Freunde irgend eine Stärkung, und der Schankwirt von nebenan beeilte sich auf Eombalots Befehl, ihren ungestümen Wünschen nachzukonnncn. Als die Freunde des sparsamen Mannes sich anschicklcu, die Möbel auf ihre Lchulteru zu laden und sie tn den fünften Stock zn bugsieren, bemerkte man mit grenzen losem Entsetzen, daß ein Hund sich dem Porträt der Tante genähert und den Mostrich, gleichzeitig aber auch die Farben abgcleckt hatte. „Lei doch nicht so traurig", sagte einer der Freunde zu dem gänzlich verstörten Eombalot; „wenn dich jemand fragt, was das vorstcllcn soll, so nenne ihn eineu Idioten und erkläre ihm, das wäre die allerneueste Richtung!" Von diesem Augenblick an war Eombalot kein Mensch mehr. Er war eine Maschine mit zersprungenen Federn, ein Hampelmann mit gebrochenen Gliedern. Umsonst sagten seine Freunde zu ihm: „Du weißt, unser Beruf ist mit der Tätigkeit, die wir dir zu Liebe deute morgen übernommen haben, nicht ganz verwandt. Wenn du dich ärgerst, so geht nnS das nichts au. Wir haben uns die Arme ansgercnkt." Eombalot erwiderte kein Wort. Er nickte kaum mit dem Kopfe, als man ihm vorschlug, eine Kleinigkeit — so ans der Hand zu essen — und dazu ein Glas Wein zu trinken. Er bezahlte iftchSdcstowcnigcr diese Kleinigkeit und dieses Glas Wein. Er willigte sogar ein, eine Pfeife zn rauchen, wie Marius auf den Trümmern des häuslichen Karthago, die aus der Diele seiner Wohnung tagen. Doch das war auch alles. Er sprach nicht mehr. Um 10 Uhr schlugen die vier Freunde, ohne die Woh nung ihres Freundes in Übertriebene Ordnung gebracht zu haben, den Weg nach dem Ministerium ein; Eombalot folgte wankend. Der Tag verging recht traurig. Die erschöpften Kollegen schliesen über den amtlichen Tintenfässern ein, und Eombalot dachte: „Mein, Brot, Schnaps, Wagen, Marmorplatte, zer brochene Möbel und Kleinigkeiten aus der Hand zu essen macht oo Franken! AVer dafür habe ich wenigstens den Möbelwagen gespart!"
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