01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 23.10.1902
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-10-23
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19021023011
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902102301
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902102301
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1902
- Monat1902-10
- Tag1902-10-23
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Anzeigen-Preis die L gespaltene Petitzeile 25 Reklamen unter dem Redaktionsstrich (4 gespalten) 7b H, vor den Familiennach- richten («gespalten) 50 Tabellarischer und Zisfernsap entsprechend höher. — Gebühren für Nachweisungen und Offertenannahm« L5 L, (excl. Porto). Ertra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgeu-AuSgabe, ohne Postbesürderung 60.—, mit Postbesördrrung ^l 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: vormittag» 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittag» 4 Uhr. Anzeige« sind stet» an die Expedition zu richten. Dir Expedition ist wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bi» abends 7 Uhr- Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. Nr 54V. Donnerstag den 23. Oktober 1902. W. Jahrgang. Die Bekämpfung des jugendlichen Verbrechertums. ?. Wir haben uns an dieser Stelle wiederholt mit dem jugendlichen Verbrechertum und seiner Bekämpfung beschäftigt, weil wir im Anwachsen dieses Verbrechertums die größte soziale Gefahr für die Zukunft unserer Nation erblicken und daher meinen, daß alle zur Mitwirkung bei diesem Kampfe berufenen Faktoren auch unablässig be müht sein müssen, die Schwierigkeiten dieser Frage über winden zu Helse». Und in erster Linie ist cs die Presse, welche dazu berufen erscheint. Da sich im allgemeinen auf dem strafrechtlichen Gebiete ein sehr bemerkenswerter Umschwung in der Teilnahme -er öffentlichen Meinung vollzogen hat, so ist es vor allem auch zu wünschen, daß die weitesten Volkskreise speziell für eine zeitgemäße Re form in der Behandlung der jugendlichen Verbrecher interessiert werden, was ohne Mitwirkung der Presse kaum möglich ist. Wenn wir daher heute auf die Frage der Be kämpfung de- jugendlichen Verbrechertums zurück kommen, so tun wir dies um so lieber, als es gilt, auf einen Beitrag zur Lösung dieser Frage aufmerksam zu machen, der aus der Feder eines verdienstvollen sächsischen Gefängnisbeamten geflossen ist. Es handelt sich um die seiner Zeit in -er Gehestiftung in Dresden gehaltenen Vorträge deS Gefängnisdirektors I. Burkhardt, welche jetzt in den „Blättern für Gefängniskunde" publiziert worben sind und in weiteren Kreisen bekannt zu werden verdienen. Auch Burkhardt betont, -aß die Behandlung der jugendlichen Verbrecher einer baldigen Reform bedarf, wenn eS nicht dahin kommen soll, daß das jugendliche Verbrechertum zu einer noch größeren sozialen Gefahr sich entwickelt, als dies bereits der Fall ist. Wir wollen auf die statistischen Ergebnisse hier nicht näher cingehen, weil wir schon früher die Zahlen angeführt haben, aus denen sich ergiebt, daß zu keiner Zeit die Straftaten der Jugendlichen so zugenommen haben, wie jetzt. Burkhardt spricht mit Recht von einem „Schandmal unserer Zeit". Worauf ist dieses Anwachsen zurückzuftthren? Zu nächst kommt die Frühreife unserer jetzigen Jugend, namentlich in den großen Städten, in Betracht und damit der verfrühte Drang nach materiellen Genüssen aller Art. Burkhardt schreibt sodann nicht mit Unrecht einen Hauptteil der Schuld auf die sensationelle und unsittliche Lektüre, durch welche das jugendliche Gemüt vergiftet wird. Die Lektüre der Zeitungen mit -en Gerichtsver handlungen hat in -er Tat manchen jugendlichen Ver brecher geschaffen. Mit Gier werden diese in manchen Blättern sensationell aufgebauschten und gewürzten Ver handlungen verfolgt und über die Monstreprozesse ist die Jugend oft besser orientiert als das Alter. „Die am schwersten wiegende Ursache aber", sagt der Verfasser, „ist in unseren durch den wirtschaftlichen Auf- und Umschwung der letzten zwanzig Jahre herbeigeftthrten veränderten sozialen Verhältnissen zu suchen, denn das moderne Leben unserer Zeit hat nicht nur die Genuß- und Vergnügungs sucht, die Begehrlichkeit, den Hang zum Nichtstun ge steigert, sondern auch den Sinn für Häuslichkeit ge mindert und damit höchst nachteilig auf das Familien leben und die von diesem beeinflußte Kindererziehmig ge wirkt." Diese Verhältnisse lasten sich freilich nicht um gestalten, eS muß daher mit ihnen gerechnet und trotz ihrer versucht werden, eine Besserung herbei zuführen. Was die Schule in dieser Beziehung tun kann, tut sie gewiß, aber sie vermag nicht viel zu tun, denn was hier Gutes gesät wird, wird zu Hause wieder im Keim erstickt. Dabei hat sich herauSgestellt, daß sehr viele der Sittlich-Verwahrlosten in der Schule tüchtige Kenntnisse und in der Religion eine gute Zensur hatten. Es muß also der Staat eingreisen. Tie Bekämpfung muß, darin gipfeln die Ausführungen Burkhardts, erfolgen durch entsprechende Acnderung der einschlagenden strafrechtlichen Bestimmungen, durch einen rationellen Strafvollzug und durch staatlich überwachte Erziehung der gesamten verwahrlosten Jugend. Es sind das genau dieselben Anforderungen, welche auch von anderer Seite bereits erhoben worden sind. Dagegen interessieren die dazu von Burkhardt gegebenen Be gründungen. Es wird zunächst die Bestimmung in 8 25 des Straf gesetzbuches bemängelt, nach welcher Kinder unter zwölf Jahren nicht bestraft werden können, weil man annimmt, daß der Jnkulpat zu jung sei, um die Strafbarkeit seiner Handlungsweise zu verstehen. Die Erkenntnis der Straf barkeit verbrecherischer Handlungen, sagt Burkhardt sehr richtig, besitzen die Kinder meist schon vor dem schul pflichtigen Alter und in der Schule wird diese Erkenntnis noch vertieft. Ein Kind, das sie nicht hat, ist nicht normal, ist geistig zurückgeblieben. Hat daS Kind vollends das zwölfte Lebensjahr überschritten, so muß cs ein Idiot sein, wenn ihm die Erkenntnis noch mangeln sollte. Nur in den seltensten Fällen dürften also die Jugendlichen, wenn es auf die Erkenntnis der Strafbarkeit ankäme, straffrei bleiben. Aber es liegt überhaupt ein Unscgcn über den Verurteilungen jugendlicher Jnkulpaten, namentlich im Alter von 12—14 Jahren, zu meist kurzen Gefängnis- oder Haftstrafcn. Ganz abgesehen von den großen sittlichen Gefahren, denen jugendlich Verurteilte namentlich in den vielen kleinen Gerichtsgcfängnisscn aus gesetzt sind, wo es meist nicht nur an den nötigen Zellen zur Isolierung derartiger Gefangenen, sondern auch oft an geeigneten Beamten für eine korrekte Behandlung der letzteren fehlt, liegt schon in dem Umstande ein unabseh barer sittlicher Schaben für sie, daß ihnen infolge der zu verbüßenden kurzen Strafen in der Regel die Furcht vor dem Gefängnis verloren geht, an dem sic bisher mit einem gewissen Granen vorübcrschlichen. Durch die vor hergehende öffentliche Verhandlung aber wird das Ehr gefühl vollends abgestumpft. Die Worte des Verteidigers, der Bericht in -en Zeitungen n. s. w., schmeicheln vielleicht gar noch der Eitelkeit des Burschen. Besonders gefährlich aber ist die ganze Sache, wenn der jugendliche Verbrecher aus dem Gefängnis wieder in die Schule zurückkehrt. Hier vergiftet er seine Mitschüler, soweit sic nicht ganz taktfest sind! Und bedenklich muß cs schließlich auch machen, daß der junge Sträfling sich die Folgen seiner Verurteilung für sein späteres Leben noch gar nicht klar macht, sondern sorglos in die Zukunft schaut. Welch ein Grund zur Erbitterung für den Mann, wenn seine ganze Existenz immer wieder darunter leidet, daß er als Schul kind einmal mit Gefängnis be st rast w u r - e! Für den Eintritt der Straffälligkeit will Burkllardt nicht die „erforderliche Einsicht", sondern die „erforder liche s i t t l i ch e R c i f e" ausschlaggebend gemacht wissen. Diese sittliche Reife tritt nicht mit einem bestimmten Jahre ein, sondern infolge ungleicher Beanlagung, un gleicher Erziehung und Lebensverhältnisse zu sehr ver schiedenen Zeitpunkten der Entwickclungsstadicn. Die Strafmündigkeit aber soll bis zum 14. Lebensjahre hin aufgerückt werden, bis an die Grenze der Kindheit, denn Kinder sollen in Familie und Schule lediglich vom Stand punkte der Erziehung aus bestraft werden. Eine weitere Htnaufrückung der Strafmündigkeit, etwa bis zum 19. Lebensjahre, ist dagegen nicht zu begründen. Prinzip würde also sein: Bis zum 14. Lebensjahre Straffreiheit — vom 14. bis zum 18. Lebensjahre Feststellung der erforderlichen sittlichen Reife! Im übrigen ist Burkhardt gegen die kurzzeitigen Strafen. Er will deshalb auch den 8 37 des Strafgesetz buches durch folgende Vorschrift ersetzt wissen, über die sich mit ihm rechten läßt: „Bet Verbrechen und Vergehen jugendlicher Personen ist in Bezug auf die Strafhöhe ebenso zu erkennen, wie gegen Erwachsene. Nur muß die Freiheitsstrafe stets auf Haft oder Gefängnis lauten und darf nie die Höhe von 1ö Jahren überschreiten." Schließlich tritt Burkhardt für die bedingte Begnadi gung ein und wendet sich sodann der Handhabung des rationellen Strafvollzuges zu. Die Freiheitsstrafe ist auch gegen Jugendliche bas wirksamste Strafmittel. Leider fehlt es in Deutschland an einer einheitlichen Rege lung des Strafvollzuges. Er muß auf jeden Fall so ge staltet werden, daß dem jugendlichen Sträfling kein sitt licher Schaden daraus erwachsen kann, die Strafe aber als ein schweres Uebcl von ihm empfunden wird und ihm gleichzeitig zu aufrichtiger Buße und Besserung ge reicht. Kurzzeitige Strafen wären zu diesem Zwecke un bedingt in strengster Jsolierhaft zu verbüßen. Für alle jugendlichen Verurteilten aber, deren Strafe mindestens einen Monat beträgt, ist dafür zu sorgen, daß dieselben ihre Strafe in eigens für diese Gefangenen eingerichteten, wohlorganisierten Strafanstalten verbüßen. Ebenso ist die Trennung nach den Geschlechtern unbedingt not wendig. Was die Organisierung des Strafvollzuges aulangt, so fordert Burkhardt bei Jugendlichen nach Möglichkeit die Einzelhaft, da sie nicht nur abschreckend, sondern auch bessernd wirkt. Na h den Erfahrungen in den Straf anstalten haben sich nur in ganz vereinzelten Fällen Be denken wegen der geistigen und körperlichen Gesundheit und Entwickelung ergeben. Nach zwei Jahren Hütte aller dings bei längeren Strafen die Einzelhaft ihr Ende zu erreichen. Auch sollen die Gefangenen immer, ehe ihre Strafzeit abläuft, erst in die Gcmcinschaftshaft übergcsüllrt werden, nm zu prüfen, welche Wirkung die Verbüßung der Strafe bei ihnen gehabt hat. Im übrigen sollen drei D i s z i p l i n a r k l a s s e n eingerichtet werden, in welche die Sträflinge je nach ihrer Führung versetzt werden können. Schließlich wird gerade bei Jugend lichen die vorläufige Entlassung oder Beur laubung i8 23 deS Strafgesetzbuches) als ciu besonders wichtiger erziehlicher Faktor von dem Verfasser bezeichnet. Aber er verlangt bei 8 28 einen Zusatz wie folgt: „Jugendliche Sträflinge können bei besonders guter Füh rung vorläufig entlassen werden, wenn sie die Hälfte der Strafzeit, mindestens aber sechs Monate, verbüßt haben und für die Unterbringung deS zu Entlassenden in aus reichender Weise Sorge getragen ist. Bei schlechter Füh rung des Entlassenen und wenn derselbe den illm bei der Entlassung auferlegten Pflichten zuwtdcrhanbelt, kann die vorläufige Entlassung widerrufen werben, so lange die drei Jahre dauernde Probezeit nicht abgelaufcn ist. Geschieht dies, so hat der Verurteilte den noch nicht voll streckten Strafrest unverkürzt zu verbüßen. Hat aber der Entlassene während der dreijährigen Probezeit znr nachträglichen Vollstreckung des Ltrasrestes keine Beran lassnng gegeben, so ist der Rest der Strafe als verbüßt zu erachten." Das hauptsächlichste Mittel aber, die Gefahr der jugendlichen Verbrecher zu beseitigen, besteht in der staatlich überwachten Erziehung der ge samten verwahrlosten Jugend. Der Ver fasser beleuchtet die Organisation der Fürsorgeerziehung in den einzelnen Staaten. Wir sind darauf ebenfalls schon bei Besprechung der Tixschcn Schrift eingegangcn. Burkhardt plaidicrt dafür, daß dem Vormundschafts gericht in Fragen der Zwangserziehung ein E r - z i e h u n g S b e i r a t zur Sette gestellt werde, eine In stitution, die übrigens in Preußen schon existiert. Wird der Zögling in einer Familie untergebracht, so soll ihm zur Aussicht ein Pfleger bestellt werden. Zur Anstalts erziehung müssen ausreichende, zu dem fraglichen Zweck unter Trennung des Geschlechts, besonders errichtete An stalten geschaffen werden, in denen der christliche Geist die Richtschnur der Erziehung bildet. In diesen Anstalten muß dafür gesorgt werden, daß durch Lehrer und Er ziehung die Ausbildung der Zöglinge für das praktische Leben gesichert wird. Tie Kosten der staatlich über wachten Erziehung soll der Staat tragen, doch soll ihm ein Rnckgrifssrecht gegen die Eltern und sonstige» alimentationspflichtigen Personen zustellen nnd eS im übrigen der Landcsgesetzgebung überlassen sein, inwie weit kommunale Verbände zu den Kosten herangczogen werden können. Wir haben damit ein Bild der Vorschläge Burkhardts gegeben, die znr Lösung des Problems der Jugendlichen beitragen sollen und unter den Schriften über das jugend liche Verbrechertum mit in erster Linie genannt zu werden verdienen. Deutsches Reich. G Berlin, 22. Oktober. lD a s Verhältnis der In d n st ri ez ö l l e zu den landwirtschaft lichen Zöllen deS T a r i s c n t w u r f s.) Tie von dem „Bund der Landwirte" und den von diesem beein flußten Konservativen gestellten Anträge aus Herabsetzung der Jndustriezölle in dem Zolltarifentwursc werden mit der Behauptung begründet, daß durch den Regierungscnt- ivurf die Industrie gegenüber der Landwirtschaft be günstigt werde und demzusvlge, wenn nicht eine beträcht liche Verstärkung des Zollschutzes für die Landwirtschaft dinchzusctzeit sei, ein Ausgleich durch Herabsetzung der Jndustriezölle geboten erscheine. Die Behauptung, daß die Landwirtschaft in dem Regiernngscutwurfe schlechter behandelt sei als die Industrie, entbehrt aber der lat sächlichen Begründung. Dafür läßt sich sogar ein schlagender zahlenmäßiger Beweis erbringen. Der Wert -er Verstärkung deS Zollschutzes, der für beide großen Zweige der Produktion in dem Tarifentwursc der Verbündeten Regierungen in Aussicht genommen ist, läßt sich am sichersten an dem Mehr ertrage bemessen, welchen die landwirtschaftlichen und in dustriellen Zölle ergeben würden, wenn an Stelle der jetzt geltenden Zollsätze diejenigen des Rcgicrungsent- ivnrfes Anwendung fänden. Nach sorgfältiger Bcrech nniig würde der Mchrcrtrag der landwirtschaft lichen Zölle sich auf rnnb 175 Millionen Feuilleton. Aus -en Kohlenrevieren Pennsylvaniens. Von Franz G. Springer. Nachdruck verboten. Der große, viele Monate währende Grubenarbeiter streik hat das fürchterliche Gespenst der Kohlennot über den kohlenreichsten Erdteil unseres Planeten heraus beschworen. Verödet lagen die Anthrazttwerke von Pennsylvanien, in denen schon im Jahre 1885 32 Mil lionen Tonnen im Werte von mehr als 42 Millionen Dollar- gefördert wurden. Das riesige, weitverzweigte Stromnetz von Eisenbahnen nnd Kanälen, das sonst un unterbrochen die kostbaren schwarzen Lasten trägt, ver einsamte, wie ein Kluß, von dem sich der Verkehr ab wendet, und bi« Stätten des rührigsten, fieberhaftesten Lebens nahmen den Charakter melancholischer Stille an. 472 englische Ouadratmeilen umfaßt daS Gebiet Pennsyl- vantenS, das die kostbare, überaus geringe GaSbei- Mischung enthaltende und rauchlos verbrennende An- chrazttkohle birgt,- eS ist das geringe, vielleicht nur ein Prozent der einstigen Schätze umfassende Ueberbleibsel eines mächtigen atlantischen Kohlenreviers, daS vor langen Zetten mit den Anthraziten Nhode Islands in unmittelbarer Verbindung stand. Nur ein Prozent des ehemaligen Reichtums — und doch genug, um dem Be dürfnisse und dem Gewerbfleiß der Menschen auf Jahr hunderte hinaus zu genügen. Aber damit ist Pennsyl vaniens Kohlenreichtum noch nicht erschöpft. Bergen die Mulden und Täler deS Alleghany-GcbtrgeS die Anthrazit- kohle, so besitzt bas große Tafelland, bas sich von diesen Bergen allmählich gegen Westen, gegen das Ouellgebiet deS Ohio abflacht, ein Terrain von etwa 12 090 englischen Ouadratmeilen, die reichsten Schätze an bituminöser, d. b. gashaltiger Kohle. G. von Rath hat 1888 berechnet, baß allein das Pittsburger Flötz dieses sogenannten apoala- chischen Kohlengebietes einen Ertrag von mindestens noch VOOO Millionen Tonnen zu geben vermag! AVer die pennsylvanischen Kohlenreviere sind nicht nur von den Unterirdischen begünstigt worden, auch die Herr scher der Oberwelt sind ihnen freundlich gewesen und haben st« mit Naturschbnh«iten reichlich gesegnet. Da gilt vor allem für das Anthrazitgebiet in den Allcghany- bergen. Das Gebirge hat Ähnlichkeit mit dem Jura: weit fortzichende Scheitellinten, muldenförmige Täler und tiefe Einschnitte, Gebirgstore — «aps —, diirch die sich lebhafte Luftströmungen bewegen ober die Ströme dieses Gebiets, der Delaware und der Susguehanna mit ihren Zuflüssen, hindurchstürzcn. Diese Durchbruchs stellen, wo eng zwischen den Bergen zusammengcpreßt ost Fluß und Weg, Eisenbahn und Kanal nebeneinander herlansen, sind zumeist von wilder, großartiger Schönheit; folgt man aber den Flüssen weiter zu ihrem Oberläufe, so besitzen ihre Täler einen anderen eigentümlichen Retz durch den häufigen Wechsel der Stromrichtung, in dem der Fluß bald der Streichrichtung der Berge folgt, bald sie quer durchbricht und sich so die Täler „nicht selten aus einer Reihe rechtwinklig verbundener Stücke von LängS- und Onerrinnen zusammensetzen." Folgen wir einem dieser Wasserwege, dem Lehigh, einem Nebenflüsse des Delaware, so führt uns die Bahn durch ein reizendes Tal, in -em deutsche Herrnhuterkolonien freundlich liegen, zu dem ,^up" de- Flusses, wo er zwischen steilen, dicht bewaldeten, eng aneinanbergedrückten Bergen, in denen die Kohlenschäye schlummern, schnell dahinschießt. An einer der engsten Stellen des TalcS liegt der Hauptort dieses Kohlenfeldes, Mauch Chunk, das sich mit einer Straße am Flusse lang zieht, mit der anderen den steilen „Bärenberg", dessen indianischen Namen der Platz be halten hat, so jäh hinanklimmt, daß die Höfe und die Gärten -er Häuser sich in gleicher Höhe mit ihren Dächern befinden. Der Ort ist der Einwohnerzahl nach nu-r klein, aber der gewaltige KohlcntranSport bringt reges Leben. — Mit dem Tale deS Lehigh wetteifert da» des Schuylkill, eines anderen Nebenflusses de- Delaware, an Schönheit und an mineralischen Schätzen. Vor sechs oder sieben Jahrzehnten war da, wo heute Pott-ville liegt, kaum ein HauS zu finden,- jetzt pulst und schlägt hier die Haupt ader deS großen Schuyllkillrcvier», da- jährlich an die 10 Millionen Tonnen Anthrazitkohlen liefert und mit Eisenbahnen gleichsam übersponnen ist. Auch Pott-ville hat eine romantische Lage; denn hier bricht der Schuylkill dirrch den 425 Meter hohen Sharpe Mountain hindurch und die Höhen dieses FelsentaleS winden sich die Straßen der lebhaften Stadt empor, bis sic sich in schwarzen Minen kolonien verlieren. Diese Kohlenstabt hat, wa» man sonst von Ansiedelungen dieser Art nicht erwartet, ihre großen Schönheiten: das entzückende Lchuylkilltal nnd den Wasserfall „Tumbling-Run", in dem die Uebcrschnß- gewässer aus zwei kleinen reizenden Leen, die zum Zwecke der Speisung eines Kanals angelegt sind, dem Schuylkill Zuströmen. Mit dem Tale des Lehigh und des Schuylkill wett eifert das des Lusquehanna, deS „breiten, seichten Flusses", wie die Indianer ihn getauft haben. Hier stoßen ivir auf die jetzt so vielgenannte Ltadt Wilkesbarrc, die wieder dao Zentrum eines Kvhlcnfclbes bildet, — und dies Feld allein erzeugt etwa zwei Drittel des Wertes der Kohlenprobuktion der Rheinprovtnz! Das Susquc- hannatal zeigt eine reichere Abwechselung von Scenerien wie die anderen Flußtäler: waldige Gehänge, felsige Ab stürze, schöne Täler, sanfte Bodenwellen wechseln hier miteinander ab. Auf einer solchen Bodenwelle liegt Wilkeöbarre, da» 1870 10 000, 1880 37 000 Einwohner zählte, weitausgedehnt, von einem Kranze schöner Park anlagen und freundlicher Landhäuser umgeben. Durch da- Lackawannock-Gap tritt der Fluß in da- berühmte Wyomingtal, durch daS enge Nanticoke-Gap verläßt er eS. Die lieblichste Berglandschaft, von schnellen Flüssen durchstrvmt, und zugleich die regste Gewerbtätigkeit bilden den Reiz dieses Tale», das einst — cö war im Jahre 1778 — der Schauplatz eines fürchterlichen Wetßen- gemctzelS durch die Indianer war. Ein Obelisk bezeichnet den Ort dieses schauderhaften Ereignisses, und ein paar Stunden weiter talaufwärts steht man an der Stelle, wo einst eine Königin der Seneka- 14 wehrlose Ge fangene mit dem Tomahawk erschlug. So steigen die Er innerungen Lederstrumpfs unter den Esten der modernen Fabrikstädte und beim Pfeifen der Lokomotiven im Wyo- minatale vor unserem Geiste auf. Doch verkästen wir nun das Anthrazitrevier der Alleghanyberge und werfen wir einen Blick in daS rührige bituminöse Kohlengebiet von Gest-Pcnnsylvanien. Durch das herrliche, vielgckrümmte, vielbesungene Juniatatal und später auf der berühmten „Hufeisenkurve", einem Meisterstück der Eisenbahntechnik, ist die Höhe des Ge birge- erreicht; jetzt rollt der Zug, durch die Lokomotiven zurückgehalten, in die Ebene hinab, in- „schwarze Land", das Land der Kohlengruben, der Eoakööfen und Schmelz gruben, und nun nähert er sich seiner Hauptstadt, -er smoirs-eit^. Nicht» als eine dichte Rauchwolke ist zuerst von ihr zu sehen; Loak-» und Hohofenfeuer blicken glühend daraus hervor — das ist Pittsburg, die Metropole von Wcst-Pcnnsylvanien. Aber trotz alledem nud trotzdem seine Häuser vom Rauche geschwärzt sind, ist Pittsburg wenigstens seiner Lage nach eine schöne Stadt. Hier fließen die Qnellströmc des mächtigen Ohio, der Mvno- gahcla nnd der Allcghany znsammen, nnd auf der Halb insel, die sic bilden, liegt Pittsburg, während über den beiden Flüssen seine Lchwcstcr- und Vororte liegen, Svuth-Pittsbnrg nnd Birmingham jenseits deo Monon- gahela, Allcghany im Norden. Steil und mauer-artig steigt das Lüduser des Monongahela auf nnd Schief bahnen vermitteln den Verkehr da hinüber. Kühne Eisen bahnbrücken überspannen die Ströme. Hohe Fclo- basttonen begrenzen steil und wild die Täler; die Häuser klimmen die Hänge hinan. Vielleicht ist keine Stadt der Union so schön gelegen wie Pittsburg. Aber die Menschen ansiedelung hat in daS herrliche Naturbild die Häßlichkeit hineingetragen. Kohle und Eisen, Maschinen, Ranch und Schmutz sind PittvburgS Wappen. Riesige industrielle Etablissements ziehen sich an den Flußusern entlang. Aus dem einstigen indianischen Handelsplätze ist ein gewal tiges Emporium geworden, in dem jährlich über 2<> Mil lionen Tonnen Kohlen und 2^ Millionen Tonnen Eisen erz zusammenströmen. Die Dampfhämmer schlage», Hammer und Amboß klingen, die Maschinen summen und stöhnen, auf den Flüssen eilen schnelle Dampfer hin und wieder. Der Tag wirb zur Nacht; aber die Nacht durch leuchten die Feuer der Hohöfen, die Gluten des ge schmolzenen Eisenerzes, die Strahlen unzähliger elek trischer Leuchtkörper, die Lichter der Dampfer, die Signale der Eisenbahnen. Das ist das Birmingham der Neuen Welt, die industriereichstc Stadt -er gewcrbslcißigcn Union. Aber auf -en Hügeln liegen freundliche Wohn häuser und Parkanlagen, und hier suchen die Menschen auszurnchen von der wilden Jagd in der Rauchstadt da unten und die Reichtümer zn genießen, die sie dort er werben. Das sind die großen Gegensätze des pennsylva nischen Kohlenreviers: schöne Täler, waldige Berge, rauschende Flüsse, mächtige GcbirgStvrc, weite Blicke, lachende Landschaften — und bann wieder schwarze unter irdische Höhlen voll unermeßlicher Reichtümer, ruß geschwärzte Gestalten, zyklopische Werkstätten, wilde Arbeit.
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