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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 23.10.1902
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-10-23
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19021023029
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902102302
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902102302
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1902
- Monat1902-10
- Tag1902-10-23
- Monat1902-10
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War das nur eine hübsche Phrase oder der Ausdruck der Hoffnung, daß das dem Herrn Prä sidenten bekanntlich sehr nahe stehende Zentrum den Konservativen mit gutem Beispiele vorangehen, die zweite Lesung der Zvllvorlagen so rasch wie möglich beenden helfen und dann in der dritten Beratung ihren Widerstand gegen die unerschütterliche Haltung der Regierungen auf geben werde? Wer weiß es! Jedenfalls ereignete sich in der gestrigen Sitzung nichts, was zu einer solchen Hoff nung berechtigen könnte. Gerade das Zentrum zeigte keine Lust, die Entscheidung über die Zollsätze für G erste und Haferzu beschleunigen. Die extremen Agrarier hatten im Bewußtsein ihrer vorgestern erlittenen schweren Niederlage -en Antrag auf 7,50 für Gerste und Hafer zurückgezogen, aber der klerikale Dr. Heim hielt den seinigen auf 0 aufrecht und sein Parteigenosse G crstcnberge r verflieg sich bei der Bcrtcidignug dieses Antrages sogar zu der Behauptung einer Brüs kierung Süddeutschlands durch Preußen. Eine solche sollte in der zu geringen Hinaufsetznng des Gcrstenzvlles durch den Regierungsvorschlag liegen. Bedauerlicherweise hatte der bäuerische Finanzminister sich für die gestrige Sitzung entschuldigen lassen müssen,' er würde sonst dem Redner jedenfalls unzweideutig die spezifisch bayerischen Interessen klarqelegt haben, die eine weitere Erhöhung des Gerstcnzvlles nicht dulden. Da dem Abg. Gersten berger der Standpunkt der bäuerischen Negierung in dieser Frage selbstverständlich nicht unbekannt ist — erst vor wenigen Tagen wieder hat ihn Herr v. Riedel im Reichstage mit dem größten Nachdrucke vertreten —, so handelt es sich um eine ziemlich täppische partiknlaristischc Entgleisung, die höchstens als Symptom -er Geistervcr- sassung in gewissen Kreisen des bäuerischen Zentrums Be achtung verdient. Im übrigen ist über die gestrige Debatte nicht viel zu sagen. Einen festlich gehobenen Charakter trug sic jedenfalls nicht. Geradezu peinlich müssen die Ul kereien zwischen den Abgg. Müller - Meiningen und Ur. Heim berühren, die kaum in eine Volksver sammlung, geschweige denn in den Reichstag passen, dessen Mehrheit den verbündeten Regierungen znmutet, trotz ihrer wiederholten bündigen Erklärungen dem Willen einer schwachen und nicht einmal in sich einigen Majorität sich zn beugen. Ob beute auch nur die Entscheidung über die Zollsätze für Gerste und Hafer fällt, hängt lediglich von der Besetzung des Hauses und der Gnade der Sozialdemo kraten ad. Nahezu drei Jahre hat cs gemährt, bis das im No vember 1800 zwischen Deutschland, Großbritau - n i e n und den Vereinigten Staaten vereinbarte Schiedsgericht über die Frage der Entschädigungs ansprüche für alle in Samoa gelegentlich der letzten Wirren entstandenen Kriegsschüden zu einer Entscheidung gelangt ist. Wie erinnerlich sein wird, griffen die vor Apia liegenden englischen und amerikanischen Kriegs schiffe in die Streitigkeiten zwischen den Anhängern Mataafas und der Gefolgschaft des znm Gegenkünig pro klamierten Sohnes Malietoas, Tanu, ein, indem sie Apia und später die Ltranddörfer beschossen und eine Anzahl Mannschaften landen ließen, die eine schwere Niederlage erlitten. Das gleichfalls anwesende deutsche Kriegsschiff hielt sich von allen Feindseligkeiten zurück. Von deutscher Seite wurde gegen das Vorgehen der Engländer und der Amerikaner Einspruch erhoben und später die Forde rung des Ersatzes für Schäden, die deutsche Reichs/ angehörige infolge jenes Vorgehens davongetragen hatten, a»gemeldet. Ta eine Verständigung nicht herbei geführt werden konnte, einigten sich die drei Mächte, die Frage einem unparteiischen Schiedsrichter zu unterbreiten. Die Schlichtung des Streites wurde sodann dem König von Schweden und Norwegen anvertraut. Die Frage, die ihm zur Entscheidung unterbreitet wurde, lautete da hin, ob das Bombardement infolge von Handlungen der Beamten der Mächte stattgefunden habe und wie weit die Mächte einzeln oder gemeinsam für den Schaden haftbar seien, der durch das Bombardement verursacht wurde. Wie nun in unserem heutigen Morgenblatte berichtet worden ist, meldet die „New Pork Tribüne" in einer De pesche aus Washington, daß König Oskar von Schiveden und Norwegen in dem Samoa-Konflikt z« Gunsten Deutschlands entschieden habe. Hiernach hat der König sestgcstellt, daß England und Amerika für den durch die Beschießung entstandenen Schaden ausznkommcn haben. lieber deutsche Auswanderung nach Transvaal schreibt man uns ans Pretoria, Ende September: Obgleich in der deutschen Presse wiederholt vor einer Auswanderung nach Südafrika vor hcrgestcllter Ordnung gewarnt worden ist, bringt jedes in Kapstadt oder einem Hafen der Ostküste landende Schiff eine sich noch von Woche zu Woche steigernde Zahl von Deutschen, die hier ihr Glück machen wollen. Neuankömmlinge, die nicht bereits eine feste Stellung haben, sind vielfach nicht in der Lage, ein passen des Unterkommen und Erwerb zu finden. Zuerst erleben viele die Enttäuschung, daß, wenn sie in einem der Küsten plätze landen, sie lange — drei bis vier Monate — auf die Erlaubnis zur Weiterreise warten müssen. Wegen der Schmierigkeit, die noch immer die Zufuhr von Lebens mitteln und Baumaterialien nach Transvaal verursacht, und nm die Zahl der Arbeitslosen nicht noch mehr, als es besonders in Johannesburg schon heute der Fall ist, an schwellen zn lassen, ist die Reise nach Transvaal noch nicht frei gegeben. Es werden für die An gehörigen der verschiedenen Staaten monatlich noch immer nur eine bestimmte Anzahl von Erlaubnisscheinen zur Ver fügung gestellt. Was die Arbeitsgelegenheit für Neu anziehende betrifft, so würden Handwerker, falls sie über haupt Beschäftigung finden, vorläufig mit einem für hie sige Verhältnisse nnd Preise sehr bescheidenen Lohn vor lieb nehmen müssen. Ungelernte Arbeiter erhalten nur schwer Stellung, da die groben Arbeiten fast ausschließlich von Kassern geleistet werden. Tic geringste Wahrschein lichkeit, eine Stellung zn finden, haben Kaufleute, be sonders wenn sie nicht der englischen Sprache vollkommen mächtig sind. Vis jetzt hat es noch gar nicht den Anschein, daß der erwartete allgemeine Aufschwung so bald cintreten wird. Es kann daher nur dringend angeraten werden, bis auf weiteres von einer Aus wanderung nach Transvaal ab zu seh en und erst den Eintritt besserer Verhältnisse abzuwartcn. Die belgischen Kammern werden sich in ihrer nächsten Session n. a. voraussichtlich auch mit einem Ge setzentwurf, betreffend die Unfallversicherung, zu beschäftigen haben. Vor kurzem hat nun Louis Bert- rand, ein Vertreter der Brüsseler sozialistischen Partei, eine Broschüre erscheinen lassen, in der er die Unfallfrage einer eingehenden Erörterung unterwirft und für die An nahme eines VersichcrungSsystems eintritt, das sämtliche Leistungen den Arbeitgebern auferlegt, wie dies in Deutschland der Fall ist. Es ist jedoch wenig wahrschein lich, daß die sozialistische Partei diesen Vorschlag im Par lament aufnehmen wird. Wie cs heißt, wird die Regie rung, ohne die obligatorische Versicherung zu fordern, für einen Modus der Schadenersatzleistung eintreten, nach welchem, entsprechend dem in Deutschland beobachteten Verfahren, für jedes, selbst schweres Verschulden Ent schädigung gewährt wird und nur eigener Vorsatz des Verletzten, also offenkundiger Dolus, die Entschädigung ausschließt. Dagegen soll der Bctriebsunternehmer nach der projektierten Regierungsvorlage zur Schadenersatz leistung nur in halber Höhe des verursachten Schadens verpflichtet sein, außerdem schließt der Entwurf aus ländische Arbeiter von dem Recht aus, auf Grund des VersicherungSgcsetzeS Entschädigungsansprüche an bel gische Arbcitsnntcrnchmer geltend zu machen. Diese Be schränkungen haben den Vertreter der sozialistischen Partei nicht abgehalten, in seiner Broschüre dem Negie- rungsentwurf vor dem gegenwärtigen Zustande den Vor zug zn geben, wenn er auch die dem System anhaftenden Mängel, das Fehlen einer Sicherstellung der Schadcn- ersatzsnmmc nnd den geringen Betrag derselben, nicht un- erörtert läßt. Somit scheint cs, daß die Regierungsvor lage zur Annahme gelangen nnd dnrch sic Belgien ein ttnfallversicherungSgesctz erhalten wird, das in seiner sozialpolitischen Bedeutung nnd in der Höhe der Ver pflichtungen, die es den Betriebsnnternehmern auferlegt, sehr erheblich hinter Umfang und Wirkung der deutschen Unfallversicherung Zurückbleiben wird. Ter frühere Minister des Auswärtigen ini Kabinett Cantacuzeno, Jean Lahovary, hat soeben eine Bro schüre erscheinen lassen, in welcher er sich über die Juden frage in Rumänien auSläßt. Er weist hierbei namentlich auf die Schwierigkeiten hin, welche sich einer praktischen Lösung dieser Frage entgegenstellen, Schwierigkeiten, die außerhalb Rumäniens wenig bekannt sind und über die der Verfasser das Ausland ausklären will, um es von einem ungerechten Urteile znrückzuhalten. Er führt an, daß Ru mänien unter seinen 5 912 550 Einwohnern 209 016 Israe liten zähle, also einen weit größeren Prozentsatz jüdischer Bevölkerung aufweisc, als andere Länder, daß sich die Ein wohnerzahl Rumäniens innerhalb eines Zeitraums von 60 Jahren verdoppelt, die Zahl der Juden aber verfünf facht habe und daß diese große Vermehrung der Israeliten auf eine starke Eiuwandernug zurückzuführcn sei. In der Moldau wäre in allen Städten nnd den hauptsächlichsten ländlichen Orten der Handel bis zu 95,5 Prozent in den Händen der Juden, während die eingeborene Bevölkerung verarme nnd unter ihr auch eine größere Sterblichkeit herrsche als iu der sich günstigerer Verhältnisse erfreuen den Walachei. Nur durch ihre allzugroße nnd allzurasche Vermehrung wären für die Inden ungünstige Erwerbs verhältnisse entstanden.Wenn sie infolgedessen auswaudern wollten, so sollten die ausländischen jüdischen Gesellschaften ihnen helfen, aber nicht, wie es jetzt geschehe, Rumänien, und seinen Kredit angreifen. Allerdings habe die Ru mänische Regierung nicht weise gehandelt, als sie für die Kinder der Fremden Schulgelder einführte und somit das Prinzip der Unentgeltlichkeit des Volksschulunterrichts umfließ. Namentlich die Juden hätten berechtigte Klagen hierüber zu führen. Was das Handwerkergesetz betreffe, so würden sich seine Wirkungen erst bei seiner Handhabung zeigen. Der Verfasser mahnt zn Frieden und Eintracht. „Wir glauben nicht", schließt er, „daß es gut wäre, daß zwei Rassen, die bestimmt sind, in demselben Lande zu wohnen, sich in einem Zustande heftiger Feindschaft befinden. Da mit aber eine Erleichterung eintrete, dannt die Pforten -es Bürgerrechtes sich weit öffnen, müssen beide Parteien Mitwirken und wir glauben nicht, daß diejenigen, welche die Note des Herrn Han veranlaßt haben, von diesem Ge sichtspunkte aus betrachtet ein gutes und nützliches Werk vollbracht haben." Deutsches Reich. /S. Berlin, 22. Oktober. (Die Frauenarbeit in der deutschen, französischen und belgischen Industrie.) Aus einer im „Bulletin de l'Ofsice du Travail" veröffent lichten vergleichenden Statistik über die industrielle Frauen arbeit in Deutschland, Frankreich und Belgien macht die „Soziale Praxis" lehrreiche Angaben. Es entfallen in der Gesamtindusirie auf je 100 beschäftigte Männer in Deutschland 25, in Belgien 33 und in Frankreich 51 Frauen. Die starke Frauenarbeit in Frankreich beruht auf dem Ueberwiegen weiblicher Arbeitskräfte in der Textil- und der Bekleidungsindustrie; hier kommen auf 100 Männer in Frankreich 256, in Belgien 191, in Deutschland nur 114 Frauen. Auch in der Nahrungsmittelindustrie und in der Metall industrie ist in Frankreich der Prozentsatz der beschäftigten Frauen am größten. Dagegen verwenden die chemische und die keramische Industrie in Deutschland mebr Frauen als in den beiden andern Ländern, nämlich 46 beziehungsweise 24 Prozent, während der Prozentsatz in Frankreich 40 bezw. 18 Proz., in Belgien 25 bezw. 18 Proz. beträgt. Den adioluten Zahlen nach beschäftigt Deutschland in den meisten Industrien mehr Arbeiterinnen als Frankreich und Belgien. Jedoch sind in der Textil-, der Konfektions-, Bekleiduugs' und Wäscheindustrie in Frankreich 1 578 333 Frauen auf 615 946 Männer beschäftigt, in Deutschland 1 054 613 Frauen auf 928 325 Männer, in Belgien 213 059 Frauen aus 109 651 Männer. * Berlin, 22. Oktober. Folgender offene Brief an die zünftigen Politiker aller Parteien geht der „Nat.-Lib. Korr." von „maßgeblicher landwirtschaftlicher Seile aus Westfalen" zu: „Die Zolllarisvorlage steht im deutschen Reichstage, vor ganz Deutschland, vor dem ganzen AuSlande zur Verhandlung. Sie darf nicht scheitern. Das wäre rin Unglück für Las deutsche Vaterland, rin Unglück insbesondere für Landwirtschaft und Industrie, ein Armutszeugniß sür den deutschen Reichstag, dessen Ansehen bereits bei Regierung und Volk geschädigt ist durch die bisherige Verschleppung. Was dies Ansehen wieder heben kann, daS sind nicht lange Reden und kluge Einzelvorschläge. Wir bedürfen einer großen rettenden Tat. Was lange vor dem Jahre 1848 Emanuel Geibel prophetisch ausrief, das gilt heute wieder: „Ein Mann tut Not, ein Nibelungen-Enkel, Daß er die Zeit, den wildgewordnen Renner, Mit eh'rner Faust beherrich' und eh'rnem Schenkel." Für die große Politik war Fürst BiSmarck dieser Mann; jetzt Feuilleton. Compama Clyador. 201 Roman von Woldemar Urban. Äl-L.ruck Verbote,-. DaS war nun das „Ich" ihres Mannes, der blinde, leidenschaftliche Egoismus, der immer glaubte, daß er eine Welt für sich sei und der immer schlinnnere und härtere Formen annahm, je mehr pekuniäre Erfolge er errungen. Frau Gertrud als praktische, vernünfttge Frau, dereu Glück in der Liebe zu ihrer Familie, in dem Glück ihrer Angehörigen bestand, sah das alles viel schärfer und klarer, als irgend jemand. Sic hatte ja gesehen, wie von Jahr zn Jahr diese Isolierung ihres Mannes immer enger, er selbst immer nnzttgünglicher, immer trotziger und übermütiger wurde. Er stand im Leben wie ein wurzel loser Stamm, ohne Laub und ohne Zweige, der immer mehr und mehr vertrocknet und verfällt. Das Jch-Gefühl ihres Mannes war direkt lebens- und menschenfeindlich, ein Gegenstand von Spott und Haß, unter dessen Uebermnt und kaltem Hohn die Liebe zu seinen Angehörigen, der Patriotismus, Achtung, Mitleid und Zusammengehörig keitsgefühl wie Blumen unter Frost und Eis ersterben. ES war nur eine Gnade des Schicksals, daß ihr Mann ein Rechtsanwalt geworden war. Seine Kenntnis der Landcögcsctzc schützte ihn vor deren Uebertretnng und vor dem Verbrechertum. Es war schon finster — es war den ganzen Tag noch nicht recht hell geworden — und Krau Gertrud saß bei der Lampe, um den Brief ihrer Tochter zu beantworten, brachte aber nichts Rechtes zusammen. Es war ihr so unglücklich, so bang und einsam zu Mut, und aus solcher Stimmung heraus wollte sie Luise auch nicht schreiben. Das arme Ding hatte ja ohnedies zu leiden genug. Es klopfte leise an der Tür, und auf ihr herein" trat der Diener Friedrich ein. „Was gibt's, Friedrich?" fragte sie. „Gnädige Frau, um Gottes willen", hastete dieser ängst, lich und bestürzt heraus, „eS ist erschrecken Sie nicht " Krau Gertrud stand sofort auf. Sie fühlte auf der Stelle, daß ein Unglück geschehen war, wenn sie auch nicht wußte, welches. Fest und entschlossen trat sie dem Diener entgegen. „Reden Sie endlich, Friedrich", sagte sie ernst. „Was ist geschehen?" „Es ist cs ist eine junge Dame da, die mit Ihnen zu sprechen wünscht", erwiderte der Diener ausweichend. „Wer ist es?" „Ich weiß cs nicht. Ich habe in der Aufregung ver gessen, zu fragen." „Gleichviel. Führen Sie sie her." In demselben Augenblick trat auch schon Fräulein Elise Ewald ins Zimmer. Sie war noch mit Hut und Schleier und Handschuhen, wie sie von der Straße herein gekommen. Auch sie war erregt, und ihre Bewegungen drückten eine ängstliche Hast und Sorge aus. „Gnädige Frau, ich bitte sehr um Entschuldigung, -aß ich in dieser Weise bei Ihnen cindringe ", begann sic mit nur mühsam unterdrücktem Schluchzen. „Bitte, mein Fräulein, nehmen Sie Platz. Sic sind erregt. Mit wem habe ich die Ehre?" fragte Krau Gertrud gefaßt. „Mein Gott, Sie wissen also noch gar nicht", erwiderte Fräulein Elise statt aller Antwort verwirrt und ratlos. „Was soll ich nnssen??' fuhr Frau Gertrud fort. Uebrigens haben wir uns wohl früher schon gesehen, wenn ich nicht irre. Sind Sie nicht Fräulein Ewald, die Tochter -es " „Mein Gott, ja. Aber lassen wir das jetzt. Es ist keine Zeit zu verlieren. Während wir hier sprechen, ist er viel leicht schon " Fräulein Ewald brach ab, und die Tränen strömten reichlicher über ihre Wangen. „Von wem sprechen Sie, Fräulein Ewald? Sprechen Sie ruhig. Ich kann alles hören." „Von — von Ihrem Sohn, gnädige Frau. Von Lorenz." In diesem Augenblick drängte sich Fräulein Hedwig eilig und neugierig dnrch die Tür irnd sah bald den Diener, bald ihre Mama und bald die fremde Dann: er regt an. Frau Gertrud schloß einen kurzen Augenblick die Augen, als ob sic einen heftigen Schmerz fühle. „Ist er tot?" fragte sic leise und tonlos, als ob sie sich fürchte, laut anfzuschrcicn. „Nein, gnädige Fran, nein, wirklich nicht", beeilte Fräulein Ewald sich, zu antworten, „er ist nicht tot, er lebt, aber " „Nur weiter, mein Fräulein. Sie sehen ja, ich bin gefaßt." „Es ist im Duell geschehen, gnädige Frau", schluchzte Fräulein Ewald, „und man brachte ihn in unser HauS, weil es weil es das nächste war, und da sein Zustand doch Besorgnis erregte, so glaubte ich, Ihnen, als der Mutter, Nachricht geben zu müssen." „Sie sagten, es sei Eile nötig, wenn ich ihn noch lebend antrcffen wolle?" fragte Frau Estrtrud. „Nein, nein, so meinte ich das nicht. Ich -achte nur, daß — daß mir uns eilen sollten, um ihm zu helfen, so gut es gehl." „Es ist gut. Kommen Sie, Fräulein Ewald. Ich bin Ihnen herzlich dankbar. Haben Sie einen Wagen?" „Ja, die Droschke, mit der ich gekommen bin, hält noch unten am Tor." „Gleichviel. Kommen Sie. Sie erzählen nrir unter wegs das Weitere. Wir wollen keine Zeit verlieren." Damit lief Frau Gertrud wie sic ging und stand davon. Draußen auf dem Korridor nahm sie von einem Kleider ständer Hut und Mantel und saß keine Minute später an der Seite des Fräulein Ewald in der Droschke, die in schärfstem Trabe nach der Emalüschcn Gärtnerei fnhr. Fräulein Hedwig stand zunächst wie erstarrt still und sah, wie ihre Mutter und die fremde Dame an ihr vorüber rannten und fortlicfen. Sie hatte ja wohl gehört, daß von ihrem Bruder die Rode war, aber nicht recht erfaßt, um was es sich handelte. An dem verstörten, aufgeregten und ängstlichen Wesen der Damen hatte sie nur gemerkt, daß etwas sehr Ernstes passiert sein mußte. „Ist Lorenz tot?" fragte sie den Diener, der sich eben leise fortschleichen wollte. „Nein, nein, Fräulein Hedwig", erwiderte dieser, „Sie hörten ja, daß er nur verwundet ist." „Ja, ja, so sagen sie immer, um die anderen nicht zu erschrecken", bemerkte Hedwig leise und nachdenklich. Dann verzog sich das hübsche, frische Kinüergesichtchcn schmerzlich, die Tränen traten in ihre Augen, und endlich fiel sic schluchzend in einem Sessel zusammen. * * * Gerade an jenem Tage hatte Rechtsanwalt Habicht I eine Unmenge der verschiedensten Geschäfte zu besorgen. Vormitags sand eine wichtige GcrichtSvcrlmnidlunn gegen einen Bankrottierer statt, der eine Menge Leute um ihr Geld gebracht und nun von Habicht I verteidigt wurde. Nachmittags war AufsichtSratSsitzung einer Kohlcnaktien- gcscllschaft, bei der der RcchtSanivalt stark beteiligt war. ES wurde schon finster, als er endlich müde und ab gespannt nach seinem Bureau kam, um an seine eigent liche Tagesarbeit zu gehen, die auch sehr beträchtlich war. Für einen Manu, der, wie er, seine Hände überall da zwischen hatte, gab cs von Tag zu Tag immer mehr Arbeit, und Habicht I war gerade iu der letzten Zeit nicht mehr so recht taktfest. Es ging ihm wie vielen anderen Leuten, für die sich die Arbeit immer mehr häuft, wenn sie am wenigsten Lust haben, etwas zu tun. Er hätte sich gern aus den Geschäften herausgewickelt, sich auf sein Stühlchen gesetzt und zugcsehcn, wie andere arbeiten. Er hatte cs satt. Er wurde alt und kränklich. Wozu denn all die tausenderlei Sachen, die ihn alle nichts angingen und ihn nicht interessierten? Aber wem Hütte er denn seine fette Praxis übergeben sollen, wenn nicht seinem Sohn? Hatte er denn wirklich ein Leben laug gearbeitet, um einem anderen, einem beliebigen fremden Menschen, ein warmes Nest zu machen? lind sein Sohn wollte gerade jetzt von der Sache nichts wissen, wollte mit dem Kopf durch die Wand und zog cs vor, sich zu ruinieren. Ueberhaupt war Habicht I seit einiger Zeit immer häufiger ganz verzweifelten Stimmungen auSgesept. Mochte das nun eine Folgeerscheinung des zu nehmenden Alters oder der gercifteren Erfahrung und schärferen Einsicht in das Getriebe des Lebens sein — er wußte daS selbst nicht, aber so viel ivar sicher, daß seine Er folge, auf die er früher so stolz gewesen, vor seinen Miß erfolgen imnrer mehr zurücktraten, daß ihm sein Leben in gewisser Hinsicht verfehlt, unbefriedigend, unglücklich er schien. Es ging ihm ähnlich wie dem alten Mathematik lehrer, der verrückt wurde, weil er sich plötzlich cinbildete, zweimal zwei sei nicht vier, sondern fünf, und er habe deshalb sein ganzes Leben lang falsch gerechnet, alle seine Reckxnbücher, seine wissenschaftlichen Arbeiten, seine Loga, rithmen seien falsch. Herr Habicht I batte bisher auch imer geglaubt, einmal eins sei eins, und nun kam er da hinter, daß das nicht wahr sei. Seine Rechnung stimmte nicht, denn dieses Einmaleins war nicht nur eins, sondern es gehörten dazu auch seine Krau und setuc Kinder, seine Verwandten, ja sogar sein Hund und seine Katze. Immer mehr sah er ein, daß in der modernen Zeit und in einem gesitteten Staate zu einer anständigen und eristeuz- berechtigten Eins auch seine Mitbürger in Stadt und Staat gehörten, daß er nur das Glied eines Ganzen, nicht selbst ein Ganzes sei, und daß -das edle Wort: „Liebet euch untereinander", noch immer die einzige solide Bails eines gesunden Lebens sei. Es war ein Rechenfehler, wenn er sich für eine Eins hielt. Er war nur eine Null, die sich noch Lazu in unverschämter Verkennung ihrer Eigenschaft
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