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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 24.10.1902
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-10-24
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19021024021
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902102402
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902102402
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
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- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1902
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Obgleich der Reichstag gestern unter dem Eindrücke der Meldung stand, daß der Reichskanzler vom Kaiser zum Bortrage berufen worden sei und daß eS sich vermutlich bei dieser Unterredung um das Schicksal der Tarifvorlagen bandle, zeigte die Mehrheit, die am Dienstag die von den Regierungen für Roggen und Weizen vorgeschlagenen Mindest sätze durch dir von der Kommission geforderten ersetzt hatte, nicht die geringste Neigung, bei den Sätzen für Gerste und Hafer zu bekunden, daß sie den bündigen Erklärungen des Reichskanzlers Rechnung zu tragen beabsichtige. Für diese beiden Getreidearten nabm sie statt der im Tarifgeseye vor. geschlagenen Minimalsätze von 3 und 5 -L die von der Kommission beschlossenen Sähe von 5,50 -E an und erböhle die entsprechenden Maximalsätze des Tarif- von 4 und 6 .4 auf 7 Der Kommissionsbeichluß für den Minvestzoll für Gerste von 5,50 wurde angenommen mit 183 gegen 133 Stimmen bei 6 Stimmenthaltungen, sür den Mindestzoll sürHafer von 5,50-4 mit 180 gegen 139 Stimmenbei 2 Stimm enthaltungen. Natürlich wird dadurch die Frage, waS nun weiter werden, d. h. was die Regierungen nunmehr zu tun beschließen werden, immer brennender. Unter den letzten Nachrichten unseres heutigen Morgenblattes befindet sich auch die, man halte eS in parlamentarischen Kreisen sür möglich, daß „in folge" der Audienz des Kanzlers beim Kaiser die Tarifvor- lagen zurückgezogen werden würden. Wir halten die« schon dcsbalb nicht für wahrscheinlich, weil eine solche Maß- regel schwerlich obn« eine vorherige Berständigung zwischen den verbündeten Regierungen erfolgen würde. Vorgestern aber war anscheinend eine solche Beistandigung noch nicht erfolgt; denn von zweifellos wohlunterrichteter Seite wurde an diesem Tage der Münchener „Allgem. Zig." aus Berlin geschrieben: „WaS die Regierung betrifft, so ist sie nach wie vor keines- falls gewillt, die Verantwortung für da« endgültig« Scheitern deS Entwurfs dadurch sich zufchieben zu lassen, daß sie ihrerseits die Weiterarbeit abbricht. Sie sieht in der Vorlage nicht «inen bedeutungslosen Versuch, etwas Lurchzusetzen, was man ruhig beiseite legen kan», wenn die Volksvertretuug nun einmal durchaus nicht will, sondern sie ist überzeugt, daß jede Möglichkeit, auch dir entfernteste, auSgenütz« werden muß, nm eine so wichtige Angelegenheit eben jetzt durch- zudringen, weil aller Voraussicht nach die Gelegenheit dazu, wenn sich jetzt schon Schwierigkeiten ergeben, in Zukunft erst recht nicht wirderkrhrt. Wenn die Vorlage scheitert, so muß unwider legbar sestgestellt sein, daß die Mehrheit de- Reichstag» bis zum letzten Augenblick Gelegenheit gehabt hat, sich zu besinnen, und aus freiem Entschluß die Vor teile zurückgrwtesem hat, die der Landwirtschaft geboten werden sollten. Vorher kann die Regierung nicht dazu Mitwirken, daß dir Flinte ins Korn geworfen wird- Ausfallen muß e« dabei freilich, daß die Mehrheits parteien selbst damit einverstanden sind. Das bedeutet mit anderen Worten, daß entweder die unzweideutigen Erklärungen des Reichskanzlers noch immer keinen Glauben finden, oder aber im Laufe der Weiterberatung »in geeigneter Moment erwartet wird, in dem man die Umkehr vollziehen kann. Die erste dieser beiden Möglichkeiten wird man kaum als etwaS Ernsthaftes an sehen können. Wenn dergleichen noch ausgesprochen wird, so möchte man «» nur für einen Borwand halten, mit dem der Wunsch der Weiterberatung motiviert wird. Die „Deutsche Tage«- zritung" spricht die Absicht der Agrarier aus, durch Herab setzung der Jndustriezölle aus dem Tarif doch noch etwas „Brauchbares" zu machen. Der Schlachtplan ist folgender: „Selbst, verständlich werden wir unseren grundsätzlichen Standpunkt weiter mit voller Entschiedenheit wahren und den Versuch machen, die berechtigten Forderungen der Landwirtschaft zur Geltung zu bringen. Nach Lage der Dinge wird der Verbuch leider vergeblich und aussichtslos sein. Damit müssen wir rechnen. Deshalb sind wir gezwungen, ein anderes Mittel zu suchen, um unser» ersten und unerschütterlichen Grundlatz der vollen Parität zwischen Landwirtschaft und Industrie im Tarife durchzuiühren. Das andere Mittel, das uns zur Verfügung steht, ist bekanntlich die Herab- setzung der Jndustriezölle, insbesondere der Eisen- und Maschinenzölle." Das agrarische Organ rechnet mit einer besonders günstigen Stimmung sür diesen Plan innerhalb der Mehrheits parteien und äußert sich auch sonst sehr siegesbewußt. Daraus folgt aber noch nicht, daß dieses Siegesbewußtsein wirklich vorhanden ist. Greisbare Tatsache ist zunächst nur der Wunsch nach Weiterberatung. Man wird abwarten müssen, ob aus diesem Wunsch die weiteren Folgerungen gezogen werden, die zu seiner Erfüllung gehören. In erster Linie ist dabei an die Beschlußfähigkeit des Hauses zu denke». Nach den Neußer- ungen der „Freisinnigen Zeitung" scheint die Opposition der Linken daraus zu rechnen, daß an dieser Klippe die Weiterberatung scheitert. Wie dem aber auch sein mag, für die Regierung be- steht keine Veranlassung, dem Willen des Reichstages nach dieser Richtung hin vorzugreifen." In Berlin herrschte hiernach vorgestern die Absicht, di« Vorlagen zurückzuzieben, noch nicht. Und was die Vermutung betrifft, daß wenigstens ein Teil der MehiheiiSparteien den Wunsch nach einem zur Umkehr geeigneten Momente hege, so ist dieser Wunsch anscheinend im Zentrum vorhanden. Schreibt doch die „Germania": „Wenn es außer Zweifel steht, daß die von Herrn von Miquel creierte Politik der Sammlung unter Auslchluß des Zentrum- kläglich gescheitert ist, so muß es den verbündeten Regierungen doch wohl bald klar werden, daß sie eine anständige Wirtschaftspolitik nur mit Hülfe des Zentrums machen können, daß sie, anstatt dasselbe ausschließcn zu wollen, es zum Stützpunkt ihrer Politik der mittleren Linie machen müssen. Das Zentrum, welches alle Berufsstände umfaßt und sich au- allen Teilen des gesamten deutschen Reiches rekrutiert, ist, wie keine andere Partei berufen und geeignet, eine wirkliche Sammiungspolitik durchzuführen." Erinnert man sich, wie Herr Bachem beim Beginn der zweiten Lesung der Tarifvorlagen im Plenum die Gefahren ausgemalt bat, die unausbleibliche Folge reS Scheuerns der Vorlagen sein müßten, so kann man die vorstehende Aue- lassung der „Germania" nur als Anerbieten deS Zentrums ausfassen, unter gewissen Beringungen zur Abwendung Vieler Gefahren beizutragen. Dem Reichskanzler, resp. dem preußi» lchen Ministerpräsidenlen, wird man dl« Bedingungen schon näher bezeichnen. Die Entscheidung König Oskar- von Schweden als Schiedsrichter in der Samoa-Angelegenheit zu Gunsten der deutschen Ersatzansprüche erweckt in Deutschland all gemeine Befriedigung; wie sie in London und Washing ton gewirkt hat, zeigt nachstehender Drahtbericht deS Londoner Berichterstatters der „Vossischen Zeitung": Eine Washingtoner Drahtung des „Daily Telegr." besagt, die Entscheidung deS Schwedenkünigs verursache lieber- raschung, weil erwartet worden sei, er würde entscheiden, daß die auf Samoa gelandete englisch-amerikanische Expedition ein« Not wendigkeit wäre. Die- Ergebnis de» Schiedsspruch» werd« der tätigen Betreibung des Falle» durch die deutsche Re gierung zugeschrieben. Die Vereinigten Staaten würden die Entscheidung des Königs nicht als Präzedenzfall anerkennen. Die Vereinigten Staaten seien vertragsmäßig verpflichtet gewesen, die Integrität des TitularabkommenS über Samoa aufrecht zu erhalten, und die Truppen seien gelandet worden, um dies« Ber- pflichtung zu erfüllen. „Times" polemisieren ebenfalls gegen den Schiedsspruch und sagen, König Oskar sei sehr häufig mit dem ehren vollen Amte betraut woiden, Völkerrechtssragen zu entscheiden. „Wir werden überrascht, daß ein Schiedsrichter von so großer Er fahrung zu so sensationellen und ungewöhnlichen An schauungen gelangt." „Wir sind", schreibt das genannte Berliner Blatt, hoffentlich nicht zu optimistisch, „überzeugt, daß in Washington und London, wenn die Gründe zu der Entscheidung bekannt werden, eine ruhigere und sachlichere Beurteilung Platz greifen wird. Dem König Oökar zu unterschieben, daß er sich in seinem Urteil durch die deutsche Regierung habe beeinflussen lassen, verrät eine so niedrige Auffassung von dem Pflichtgefühl des königlichen Schiedsrichters, baß e» diesen beleidigen hieße, wollte man ihn und die deutsche Regierung gegen diesen Vor wurf verwahren." Zur Anbahnung der wirklichen Entstaatlichung der Kirche in Frankreich brachte der Abgeordnete Brisson in der Dexukierlenkammer einen Gesetzentwurf, betreffend den kongr«» ganistischen Unterricht, ein. In dem Motivenberichte erklärte Brisson, er verlange keineswegs für den Staat das Monopol des Unterrichts, sondern lediglich dessen Verweltlichung. Bisher stehe es den Kirchenbebörden frei, die Ordensgeistlichen ihrer Gelübde zu entheben und io anicheinend auS ihnen Welt geistliche zu machen, weshalb daS Verbot, Unterricht zu er teilen, aus die Ordens- und die Weltgeistlichen sich erstrecken muffe. Der Art. 14 des Vereinsgesetzes vom 1. Juli 1901 verbiete den Mitgliedern der nicht ermächtigten Kongre gationen, direkt oder durch vorgeschobene Personen Unterricht zu erteilen. Das hinderte die Jesuiten aber keineswegs, ihre Unlerrichtsanstalten in den letzten zwei Schuljahren zu eröffnen, und die kongreganistischen Prinienfchulen seien nach wie vor geöffnet, allerdings mit einem weltlichen Lehrpersonal. Dem könne nur in der Weise gesteuert werden, baß der Privatunterricht dem öffentlichen Unterrichte hinsichtlich der Ernennung des Personals, der Disziplin und der Inspektion vollständig gleichgestellt wird. Der Unterricht sei eine natio nale Funktion, darüber seien alle Rechtsgelebrlen einig. Weil dieses Prinzip unter dem Einflüsse Montalemberts uns Falloux' ausgegeben wurde, befinde sich die moderne Geiellickafl in Gefahr. Deshalb müsse der Gesetzgeber einschreiten und der staatlichen Unterrichlsbebörve das Recht einräumen, die Direktoren der Privatschulen und deren Personal zu ernennen und abzusetzen. Des halb verlangt Brisson die Schließung aller Privatschulen, die von Orden-- oder Weltgristlichen geleitet oder verwaltet werden oder in denen diese Unterricht erteilen. In allen Privatschulen soll die Leitung, Verwaltung und der Unter richt immer weltlichem Personal anvertraut werden. Kein Mitglied oder ehemaliges Mitglied der Ordens- oder Welt geistlichkeit soll in eine UnterrichtS-Anstalt zugelassen werden. Das Verbot soll sich auch auf jene Personen, die ihre Studien in einer kongreganistischen Anstalt gemacht haben, erstrecken. Für die Leitung, Verwaltung und den Unterricht in einer Privat-Sekundarschule soll der Besitz eines Lizentiaten-DiplomS sür Sprachen oder Naturwissenschaften erforderlich sein. Der amerikanische Eisenkönig Carnegie hat in Schottland einen Ausflug in das Gebiet der hoben Politik gemacht. Das Metall, das er bei dieser Gelegenheit — bildlich gesprochen — zu Tage förderte, war, mit Erlaubnis zu sagen, Blech. Herr Carnegie überträgt dem deutschen Kaiser die Rolle eines Erlösers von Europa, das er politisch (!) und industriell einigen soll. Die Auswahl der von Deutschland zur Haager Friedenskonferenz gesandten Delegierten bat gezeigt, wie nüchtern in Berlin dergleichen wellerlösende Ideen beurteilt werden; sie hätte daher Herrn Carnegie vor der Verlautbarung seiner Europa beglückenden Phantasien bewahren müssen. Vielleicht jedoch bat Herr Carnegie seine Einbildungskraft nur deshalb spielen lassen, weil er aus irgend einem höchst realen Grunde das Be dürfnis füblte, dem deutschen Kaiser zu schmeicheln. Solche realpolitischen Motive für den Erguß des Herrn Carnegie zu vermuten, wird man versucht, wenn man liest, daß ein freisinniges Blatt den Verdacht nicht unterdrückt, Herrn Carnegies Zukunftsmusik über die Erschöpfung der Eisenvorrälr Englands und brr Union solle auf das Steigen der Eiseupreise einwirken. Beinahe traumhaft nimmt eS sich aus, Herrn Carnegie sagen zu hören, daß Europa von der Furcht vor dem Kriege beängstigt und geläbmt werde. AlS ob »rotz der große» militärischen Rüstung, die Europa zweifellos trägt, der wirtschaftliche Aufschwung in Europa bis zum Jahre 1900 in den meisten Ländern nicht der glänzendste gewesen wäre, und ein solcher, der baö Gerede von Lähmung durch Kriegsfurcht in seiner ganzen Nichtigkeit dartut! Kehrt somit der amerikanische Eisenkönig von seinem AuSfluge auf da« Gebiet der großen Politik ohne Lorbeeren heim, so verdient er ungeteilte Zustimmung, wenn er den Engländern freundschaftlich rät, weniger zu trinken und zu rauchen und manche rohen Spiele aufzugrben. Dieser Ratschlag beweist, daß Herr Carnegie auch als Be sitzer des EbrenzradeS der St. AndrrwS-Universilät sich eine Dosis gesunden und schlichten Menschenverstandes bewabrt hat. So oft Herr Carnegie von dieser letzteren Gabe Gebrauch macht, wird er auch in Deutschland offene Obren finden. Ueber rohe Spiele, wie sie in England nicht ganz selten sind, können wir uns in Deutschland im allgemeinen ja nickt beklagen. Aber daß auch in Deutschland mehr geraucht und getrunken wird, al« dem Volköfreunde lieb ist, dürste nicht in Abrede zu stellen sein. Auf die übermäßigen Trinker und Raucher m Deutschland würde indessen Herr Carnegie mit seiner Mahnung zur Mäßigkeit größeren Ein druck gemacht haben, wenn er sie nicht mit seltsamen Ein fällen über die große Politik verbrämt hätte. Frnrlleton. Compama Cazador. 21j Roman von Woldemar Urban. «iawcruck verdoter. Bei Tisch brachte er keinen Bissen hinunter. Die Kehle war ihm so trocken wie Leder. Gleichwohl tat er so, als ob er äße, um auch Hedwig Lust zum Essen zu machen und sie während deS Essens auszufragen. Er wollte natürlich alles wissen, was sich zugetragen habe, Hedwig wußte aber nicht viel. Sie konnte nur erzählen, daß eine junge Dame gekommen sei, die »der Maina ge sagt habe, daß Lorenz in einem Duell gefallen und er in ihr Haus gebracht worden sei. Welches Haus das sei, wußte Hedwig auch nicht, da sie die Dame nicht kannte. Es half alles nichts, Herr Habicht mußte warten, bis seine Frau zurückkam und er mehr voq der Sache erfahren konnte. Da sie schon viele Stunden fort war, so mußte sie ja jeden Augenblick wiederkommen. Sie konnte doch nicht die ganze Nacht an der Leiche ihres Sohnes bleiben? Oder doch'? Er selbst hätte es vermutlich getan — ach, ihm war zu Mute, als ob er sich mit seinem Sohne be graben lassen müsse. War das ein natürlicher Vorgang, daß sich -er junge, lebensprühende Mann so voreilig, vor ihm, dem alten, kränklichen Mann, ins Grab drängte? Nun saß er da und lauschte auf jedes Geräusch wie ein Verbrecher. Wenn der Diener die Speisen brachte oder wieder forttrug, wenn der Wind durch den Hausflur fuhr, ein Wagen fern vorüberrasselte oder die Baum kronen im Park aufrauschten, immer dachte er, eS müsse seine Frau sein, und fuhr auf, um ihr entgegenzueilen. Nie in seinem Leben, auch als Bräutigam nicht, hatte er so sehnsüchtig auf sie gewartet, als jetzt. Aber die Zeit verging, und Frau Gertrud kam nicht. War das erhört? Konnte sie cs über sich gewinnen, ihnl in so furchtbarer Qual allein zu lassen, ohne auch nur ihm Nachricht zu senden? Aber selbst zum Zorn war er zu niedergeschlagen und zu traurig. Auch diese Zeiten waren für ihn vorbei, und er lief nun verzweifelt und stöhnend in den prächtigen Prunkräumen seines großen Hauses herum, ob er nicht hier oder dort einen Anhalt, eine Auskunft oder einen Trost fand. Schließlich, so dachte er, passierte ihm doch auch nur, was vorher vielen Eltern passiert. Wie häufig kam cs vor, daß ein junger, hoffnungsvoller Sohn im Leicht sinn undUcbermut der Jugend dahingerafft wird alsOpicr seiner Ehre, alis Opfer des Molochs, den man „Duell" nannte. Sein Sohn ivar doch nicht der erste und einzige, der im Duell fiel. Aber es war sein einziger Sohn! Andere Hattert viel leicht mehr und konnten sich leichter über einen trösten, oder waren nicht so mit ihm verwachsen und verbunden wie er. Nein, nein! Das Unglück anderer war für ihn kein Trost. Es gab für ihn überhaupt keinen Trost, Gott hatte ihn zu wild, zu schmerzlich, zu grausam getroffen! An seiner empfindlichsten Stelle fühlte er sich auf den Tod verwunidct, als ob ihm das Schicksal dadurch, daß es ihm seinen Sohn entriß, habe zeigen wollen, wie sehr er ihn liebe und welcher Wahnsinn sein „Jch-Gefühl" war. Auf seiner ruhelosen, ungeduldigen Wanderung durch sein großes, einsames Haus — er wäre gern auch davon gelaufen, wenn er nur gewußt hätte, wohin? — kam er iviedcr nach dem Zimmer seiner Frau zurück. Er sah auf ihrem Tisch noch den angefangenen Brief an Luise liegen, den er vorher in seiner Erregung nicht bemerkt. Er las ihn und las auch den Brief, den seine Tochter auS Straß burg an seine Frau geschrieben und den diese ebenfalls mit ihrer Schreibmappc auf dem Tische hatte liegen lassen. Ein weiterer Vorwurf für ihn. Rasch, als ob es die höchste Zeit fei, einen begangenen Fehler wieder gut zu machen, nahm er die Feder zur Hand uttd setzte ein Tele gramm an seine Tochter in Straßburg auf. Es lautete: „Liebes Kind, komme sofort zurück. Es sollen alle deine Wünsche erfüllt werden, aber ich bestehe darauf, daß du sofort zurückkommst zu deinem Vater Lorenz Habicht I." Die Unterschrift setzte er gewohnheitsmäßig hinzu, als er aber das Blatt noch einmal überlas, seufzte er tief auf und strich die I wieder weg. Sie hatte keinen Sinn mehr. ES war ja keine II mehr da. Dann schickte er den Diener trotz der späten Stunde — eS war schon fast Mitternacht — mit dem Telegramm fort. Hedwig war auf dem Sofa eingeschlafen — nun war er ganz allein! Di« Stirn gegen die kalte Scheibe gedrückt, starrte er hinaus in den Park. Der Garten lag vollständig finster, nur wo man durch das eiserne Gittertor hinaus auf die Straße trat, fiel von einer Gaslaterne ein schwacher, zitternder Schein auch in den Garten herein auf den Weg, der in zierlichen Windungen zum Hause führte, und merk würdigerweise fiel dem Rechtsanwalt gerade die Stelle auf, wo seinerzeit der alte Jäger vor ihm vorübergegangen war mit seiner toten Frau im Arm. Er hört« sogar die Worte, die er im Vorübergehen bitter und drohend wie einen Fluch ausgestoßen: „Sic werden Ihr schönes Haris vielleicht hoffnungsloser und elender verlassen als ich!" So hatte ihm der alte Mann zugerufen. Damals hatte er gelacht, wie über einen gewöhnlichen „Leid tragenden". Henle weinte er. Wenn ihm jemand das damals vvrausgesagt hätte, würde er ihn für verrückt erklärt haben. Und doch ging in der Welt alles seinen natürlichen folgerichtigen Gang. Der alte Mann hatte recht. Es war sehr leicht möglich und sogar wahrscheinlich, daß er sein Haus hoffnungsloser und elender verlasse, als jener arme Schlucker, der nichts besaß, was er ver lieren konnte. Nie in seinem Leben hätte Habicht I eine so entsetzliche Nacht für möglich gehalten, wie diese für ihn wurde. Von Schlaf war keine Rede. Gequält und gefoltert, nieder geschlagen, von Trauer und Reue zerschmettert, lief er herum, wie ein Gespenst. Er zählte di« Stunden, die die Uhren in den verschiedenen Zimmern schlugen. Eins, zwei, drei, vier — seine Frau kam nicht zurück. Je ruhiger die Nacht wurde, desto angestrengter, ängstlicher und fieberhafter lauschte er hinaus. Endlich gegen Morgen hörte er einen Wagen über den Marienplatz rasseln und vor seinem Hause halten. Das mußte seine Frau sein. Hastig lief er die Treppe hinunter und durch den Flur hinaus in den Garten. Aber schon auf der Treppe, die in den Garten führte, kam ihm Frau Gertrud entgegen, auch hastig und aufgeregt, als ob sie sehr eilig sei. „Gertrud! Gertrud!" schrie er ihr schon von weitem mit zitternder Stimme entgegen. Ueberrascht und erschrocken sah sie ihn an. Er kam ihr wie verwandelt vor. War denn das noch ihr Mann? „Du bist noch wach?" fragte sie erstaunt. „Hast du ihn nicht mitgebracht?" fragt: er seinerseits statt aller Antwort. „Aber „Wo liegt er denn? Mein Gott, so rede doch. Siehst du denn nicht, daß ich vergehe vor Erwartung und Auf regung?" „Er liegt im Hause deS Herrn Ewald. ES war das nächste." ..Aber dort kann er doch nicht bleiben. Wir müssen doch wenigstens seinen Körper hierher überführen!" „Seinen Körper!?" „Ja doch. Wir werden doch das Begräbnis nicht von einem fremden Hause aus ausrichten!" „Das Begräbnis!" wiederholte seine Frau mit einem entsetzten Blick, „aber so weit sind wir doch Gott sei Dank noch nicht, wenn auch sein Leben nur noch an einem Faden hängt." Mit weit aufgerissenen Augen und wie irren Blicken sah der Rechtsanwalt Frau Gertrud an. „Er lebt? Lorenz lebt?" schrie er sie an. „Gewiß lebt er, und ich hoffe auch zu Gott, daß er unk erhalten bleibt, wenn auch Doktor Heuschcr dafür noch keine Gewähr übernehmen kann. Aber so laß doch los! Ich habe gar keine Zeit. Ich muß sofort wieder zu ihm hin." Damit riß sich Frau Gertrud los und stürmte die Treppe hinauf. Der Rechtsanwalt aber blieb aufrecht im Flur stehen, schlug die Hande wie betend zusammen und ries laut, wie erlöst: „Er lebt! Er lebt! Gott ist doch mild und gut." Sechzehntes Kapitel. Der Mozzo war ein vorzüglicher Mensch. Er hatte freilich einen Buckel, so groß, wie eine Schwcinsblaie, rote Haare, die wie eine Bürste bis tief in die Stirn und weit ins Genick hinunter standen, und konnte kein A von einem O unterscheiden. Aber das machte nichts aus. Wenn er auch von vielen Sachen, über die sich andere Leute die Köpfe zerbrachen, nichts wußte, so war das für ihn per sönlich kein Kehler. Er war doch ein vorzüglicher Mensch. Er hatte nie Geld, aber auch das genierte ibn nicht. Er war trotzdem noch nobel nnd luxuriös genug, seine Milch und sein Brot, wenn ihm das gerade cinsicl, wegzuschenken und von der Luft zu leben. Er spürte keinen Hunger, auch wenn er tagelang nichts aß. Das war schließlich eine Angewohnheit, wie jede andere, die ihm aber srüher, als cs in der Compaüia Cazador manchmal sehr knapp her gegangen war, recht zu statten kam. Ebenso mar er nahe zu empfindungslos gegen Hitze und Kälte. Seine Haut war so grob wie Rindsledcr und in dem heißen, sonnigen Andalusien hatte er bet einer Hitze von vierzig und mehr Grad von früh bis abends im Freien hantiert, nnd jetzt sägte er bet etner Kälte von zwölf Grad unter Null im Hofe Holz. DaS bißchen Philosophie, das er znm Leben brauchte, machte er sich selbst zurecht, ebenso war er selbst sein bester Gesellschafter. Es entstand in dieser Gesell-
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