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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 06.11.1902
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-11-06
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19021106022
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902110602
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902110602
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1902
- Monat1902-11
- Tag1902-11-06
- Monat1902-11
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Selbstverständlich sollie diese Ab lehnung nicht bedeuten, daß das Syndikatswesen keiner Regelung bedüife, sondern lediglich die Ueberzeugung der Mehrheit ausbrücken, daß eine solche Regelung nicht sofort und nicht in Berbindung mit dem Zolliarifgesetze, sondern erst nach Abschluß der ungeordneten Erbebungen und im Rahmen eines besonderen Geietzeö erfolgen könne und müsse. Schon bei dieser Abstimmung trat also der Wunsch der Mehrheit, die Verhandlungen nicht dmch Nebensachen auf den toten Strang geführt zu seben, zu Tage. Nock deuilicher trat dies bei der zweiten Abstimmung hervor, bie dem sozialdemokratischen Antrag galt, Streitigkeiten über Zollsätze an die ordentlichen Gerichte zu ver weisen. Dieser Antrag sand lebhafte Unteistützung bei den Freisinnigen und den Nationallrberalcn. Auch die Polen stimmten bei und beteiligten sich mit einem von den Sozial demokraten accepiierten Amendement. DaS Zentrum, dem der Abg.B roemel frühere Aeußerungen zuGunsten des Rechtswegs gegen Zollentscheibungen der Behörden vorhielt, stimmte mit Ausnahme des Abg. Spahn gegen den Antrag, um, wieder Abg.Bachem anteutete, für das Zustandekommen deS Zoll tarifs keine Schwierigkeit zu schaffen. So wurde denn auch dieser Antrag abgelehnt, lieber den Entschluß, die Debatten in möglichst knappem Rahmen zu ballen und neue Schwierig keiten nickt zu schaffen, scheint aber die Mehrheit noch nicht hinausgekommen zu lem. Bon einem Erfolge der „Eer- ständuiSaktion" war auch gestern im Hause nicht die Rede, vielmehr meldete man gestern abend auö parlamen tarischen Kreisen dem „Hann. Kurier" das Folgende: „Die Mehrheit zeigt vorläufig nicht, daß sie zu einer „Aktion" entschlossen und fähig ist. Es ist eine Torheit, sich ein- zubilden, die Mehrheit sei im stände, sich aufzuraffen, ehe sie sich mit der Regierung geeinigt habe. Diese Berständigung müßte die Grundlage einer Aktion sein, durch die sich die zweite Lesung des Zoll- tarifs event. unter Vergewaltigung der Geschäftsordnung durchdrücken ließe. Wenn man mit der Aktion bis nach Beendigung der zweiten Plenarberatung warten will, bann wird und kann letztere Niemals zum Abschluß gelangen. Das Grundübel liegt darin, daß die Mehrheit des Reichstags in sich immer noch uneinig ist, Laß weder die Fraktion der Konservativen noch die des Zentrums ihre eigenen Leute unter einen Hut bringen kann. Unter solchen Umständen müssen sich die Führer der Fraktionen sagen, daß eine Verständigung zwischen ihnen und den RegierungSvertretern nutzlos ist, wenn sie selbst nachher nicht ihre ganzen Gefolgschaften hinter sich haben. Herr Spahn und Graf Bülow werden schon mit einander einig ge- worden sein. Aber die Gefahr bleibt bestehen, daß. wenn mau nach Beendigung der zweiten Lesung des Tarifgejetzes sofort in die dritte Beratung desselben eintritt, die Mehrheit fiir die Wieder- Herstellung der Regierungsvorlage hinsichtlich der Minimalzölle durch Absplitterungen im Zentrum und in der konservativen Fraktion in Frage gestellt wird JmZentrum wollen die Süddeutschen nicht mitmachen, und ein erheblicher Bruchteck der Konservativen steht nach wie vor im Banne des bündlerischen Terrorismus." Trotz dieser pelsimistisckcn Schilderung vermögen wir die Hoffnung noch nicht auf,»geben; denn jeweiler dieBerbandlungen voirückeu unv je mehr den ausschlaggebenden Fraktionen die Schwere ihrer Verantwortung für das Sck-ilcrn der Zoll vorlagen auf die Seele fällt, um so mehr werden sie sich getrieben fühlen, alle Hindernisse einer Verständigung zu überwinden. Ganz richtig ist cs daher, wenn die national liberale Fraktion daö BerauimortlichkeitSgefübl der Kon servativen und des Zentrums dadurch zu schärfen juckt, daß sie diesen die Initiative in Bezug auf Schlnßanträge und dergleichen überläßt. Die „Nat.»Lib. - Korr." schreibt nämlich Keule: „WaS die Haltung der nationalliberalen Fraktion zn allen Fragen der Geschäftsordnung innerhalb und außerhalb des Plenums anlangt, so ist ihre Stellung unseres ErachienS Lurch die bekannten Beschlüsse deS Eisenacher Parteitages von vornherein ge geben. Die Partei will den Zolltarif nach der Regierungsvorlage und hält daS Zustandekommen der letzteren ?ür eine politnche und wirtschaftliche Notwendigkeit. Daraus folgt zunächst, Laß die Beschlußfassung über die Vorlage trotz angemessener Beratung tun lichst gefordert werden muß. Wenn teils unter der Führung SingcrS und von Wangenheims, teils unter der Führung vr. BarthS — Herr Richter hält sich dabei in beachtenswerter Weise zurück — die Opposition durch Obstruktion in zwecklosen Reden, Anträgen und namentlichen Abstimmungen den Versuch macht, die Sache zu verschleppen, so ergibt sich, daß die national- liberale Fraktion wie bisher, so auch künslig für Schluß anträge stimmt, wenn ihr nicht besondere Gründe dies erschweren. Ein solcher Grund kann allerdings leicht darin gefunden werden, wenn, wie gestern Gras Kanitz, R>dner von der Rechten rührend offenherzig erklären. Laß sie zunächst noch reden wollen, aber nur die Beschlußfähigkeit abwarten, um dann mit Schlußantrügeu zu kommen, liniere Fraktion hat sich dagegen, da sie nicht zur Mehrheit, der sogenannten Kompromiß mehrheit deS Hauses, gehört, bisher nicht veranlaßt gesehen, die Schlußanträge mit zu unterzeichnen. Von solchem ener gischeren Vorgehen, die Vorlage im Hause zu fordern, könnte erst die Rede sein, wenn die bisherige Kompromiß mehrheit sich ihrerseits offen zur Regierungsvor lage in puncto der Minimalzöllc bekennen sollte. Tenn erst dann würde die nationallibcrale Fraktion in der Lage sein, eben weil sie die Durchführung der Regierungsvorlage als eine nationale Aufgabe, d. i. eine wirbchchtliche und politische Not- wendigkeit, ansieht, für deren Durchführung mit anderen Parteien die Initiative zu ergreifen." Durch diese Taktik der Nationalliberalcn werden Zentrum und Konservative nicht nur zum fleißigen Beiuche der Sitzungen gezwungen, sondern auch dem Schrine näher ge drängt, durch den der beim Anfang der zweiten Leiung des ZolllarifgesctzcS gemachte Fehler wieder ausgetilgk wird. Der Bundesrat und die Sozialpolitik. Aus einer halbamtlichen Mitteilung über die Bundes- ratssitzung vvm 30. Oktober ist der Schluß gezogen wor den, daß der Bundesrat dem Beschlüsse des Reichs tages in Sachen einer C.uqreie zur Arbeitslosen versicherung beigerreten und daß die Enquöte- konttnissivn daher gesichert sei. Nach den Erkundigungen der „Sozialen Praxis" indessen hat der Bundesrat bis jetzt nur beschlossen, durch den Reichskanzler der arbeits statistischen Abteilung des Kaiser!. Statistischen Amtes den Auftrag zn erteilen, das tatsächliche Material über Ver sicherung gegen Arbeitslosigkeit zu sammeln und dar- zustcllcn. Tas ist eine dankenswerte Vorarbeit für >me Enqu-lc, aber noch nicht das, was der Reichstag in seiner Resolution gewollt hat. Eine amtliche Aufklärung über den Inhalt des Bnndesratsbcschlusscö vom 30. Oktober d. I. wäre um so mehr am Platze, je inhaltsloser die schlcchtstilisicrte halb amtliche Mitteilung über jene Bundesratssitzung war und je weniger der amtliche Bericht des „Rcichsänzcigers" von einer Stellungnahme des Bundesrates zur Resolution des Reichstages etwas sagt. — Bekanntlich hat der Bundesrat am 30. Oktober d. I. einen Gesetzentwurf über Weiß- vH o s p h v r z ü n d w a r e n genehmigt, der das Ver- b o t der Verwendung weißen Phosphors für die Her stellung von Zündhölzern ausspricht. Damit stellt sich der Bundesrat auf denselben Standpunkt, den Dänemark, Holland, die Schweiz und Norwegen, sowie Frankreich, das ein Staatsmvnvpol der Zündhvlzfabrikation besitzt, bereits einnehmcn. Die in Deutschland bisher getroffenen Bestimmungen, das Reichsgcsetz vom 30. Mai 1884 über die Anfertigung und Verzollung von Zündhölzern und die Be kanntmachung des Reichskanzlers vvm 8. Juni 1893 über die Arbeit in Zündholzfabriken, haben zwar die Gefahren für Leben nnd Gesundheit der Arbeiter, wie auch die „So ziale Praxis" anerkennt, verringert, aber nicht beseitigt. Tie Ileberzcugung, daß nur das völlige Verbot der An wendung des fraglichen Giftstoffes wirklich helfen könne, ist mehr und mehr allgemein geworden. Ueberdics er gaben die Fortschritte der Technik sowohl die Verwend barkeit anderer Zündmnfscn, als auch die Brauchbarkeit unserer einheimischen Holzer fiir die Fabrikation nickst- gistiger, überall zündbarer Streichhölzer. Bis ins einzelne gebende Nachweisungen hierüber enthält das Referat des Rcgieriingsrates Dr. -H ölzer auf der letzten Delegierten konferenz der Internationalen Vereinigung für gesetz lichen Arbciterschutz. Ta der Reichstag den Gesetzentwurf des Bundesrates sicherlich gntbeißeu wird, haben die '-000 Arbeiter, die in deutschen Ziindbolzfabriken beschäftigt sind und bisher den Giftstoff verarbeiteten, eine wesentliche Verbesserung ihrer Lage zu erwarten. Die Goldrevnblikancr von Johannesburg. Zn den besten Kennern der eigenartigen südafrika lt i s ch e n V e r h ä l t n i s s e gehörte ohne Zweifel -er ver storbene Eccil Rhodes. Wobl war er cs, der hinter dem Jamcsvnschcn Raubzuge stand, der dann schließlich zu dem Bocrenkricgc führte. Allein Rhodes hatte die Jamesvnsche Verschwörung nicht angczettelt ans Haß oder Furcht gegen die Boercn, sondern sein Hauptzweck war, wie er offen ausgesprochen hat, sich der sogenannten 11 itländcr in Johannesburg und ihrer Lonalität gegen das bri tische Reich zn versichern und die Errichtung dessen, was er eine „amerikanische Republik in Transvaal" nannte, zu verhüten. Rhodes bat, wie u. a. Stead in seiner Schrift über „Tic Amerikanisation der Welt" betonte, innncr die Uitländer in Johannesburg fiir gefährlicher angesehen, als die Boercn, und er war der Meinung, daß eine „ame rikanische Republik" in Transvaal zehnmal mehr ein Kind des Teufels werden würde, als es Paul Krüger jemals für England war. Die Uitländer in Jo hannesburg stellen sich dar als ein ungleich artiges Konglomerat von skrupellosen Aden teurern und vaterlandslosem Gesindel, als Leute, die rasch reich werden wollen und vielfach auch rasch reich geworden sind, darunter Engländer, Iren, Juden, Franzosen, Deutsche, Polen, Amerikaner usw., Leute aller Nationali täten, aber ohne nationales Gefühl. Rhodes pflegte die leitenden Geister dieser Leute als Spvney Bulletin- Australier" zu bezeichnen, nach dem Namen einer Wochen schrift in Sycnen, die weder Gott fürchtet noch den König ehrt und besonders scharf gegen den britischen Imperia lismus vorgeht. Von diesen Leuten erwartete Rhodes für den Union Jack nicht die geringste Begeisterung. In der Tat war und ist ihr Ideal einzig und allein der Dollar. Rhodes befürchtete von diesen Leuten eine Revolution in Transvaal, zwar unter Beseitigung von Paul Krüger, aber behufs Errichtung einer neuen, durchaus selbständi gen, ja antibritischen Republik, und nm dieser Möglichkeit vorzubcugen, nahm er selbst die Verschwörung in die Hand, da er von einer Uitlander-Republik eine Kristalli sation aller übrigen britischen Kolonien und schließlich den Abfall Südafrikas von Großbritannien befürchtete. Der Einbruch Jamcsvns in Johannesburg mißglückte, weil viele Uitländer» sich weigerten, an einer Revolution zu Gunsten des Union Jack teilzunehmen. Offen bar ist die Gefahr, die Rhodes befürchtete un vergeblich abzuwehren trachtete, wieder stärker hervor getreten, nachdem die britische Regierung eine Militär herrschast einführte und die Absicht zu erkennen gab, den Minenbetrieb in Johannesburg mit empfindlichen Steuern zu belasten, um die Kricgskostcn teilweise wieder hcrcinzubringen. Solche Steuern sind allerdings geeig net, den letzten Rest britischen Nationalgefühls in Johan nesburg zu beseitigen. Vermehrt sich die Zuwanderung nach Johannesburg durch weitere abenteuerliche Elemente und erstarkt die dortige, vom britischen Standpunkt aus betrachtet höchst unzuverlässige, im Grunde genommen kosmopolitische Bevölkerung, so wird sich dort unfehlbar eine revolutionäre Bewegung vorberciten, die Euglan- im Keime ersticken muß, will es nicht um -en Siegespreis des Bocrcnkrieges gebracht werden. Manche Kenner Süd afrikas besorgen sogar den Ausbruch eiuer anticnglischen revolutionären Bewegung in Johannesburg mit dem In krafttreten einer irgendwie empfindlichen Besteuerung der dortigen Goldminen. Aus diesen Gründen er klärt sich znr Genüge die Reise Chamberlains nach Südafrika Nicht das Mitgefühl für die abgebrannten Boeren treibt ihn, sondern einzig un allein die Besorgnis für -ie englandfcindlichen Rcbel- livnsgelüstc der kosmopolitischen Uitländer in Johannes burg, die er beruhigen und befriedigen soll, damit sie nicht neue bedenklichere Schwierigkeiten bereiten. Will Cham bcrlain dieses Ziel erreichen, so muß England von einer angemessenen Besteuerung der Johannesburger Gold industrie Abstand nehmen und nene Opfer für Transvaal bringen, ohne die Bürgschaft zu erlangen, daß nicht in Jabr nnd Tag mit dem steigenden Reichtum die Selb- ständigkcitsbcstrebungen der Johanesbnrger Kosmv pvlitcn schärfer hervortreten und neue Gefahren schaffen. Alters- und Juvaliditätsversicherung in Rußland. Letzter Tage ist in Petersburg eine wichtige Kom mission zusammengetreten, die die Ausarbeitung eines Ge setzentwurfes für die Alters- und Jnvaliditätsversicherung Feuilleton. Das Findelkind. Roman von Ernst Georgh. Nachdruck verboten. Die Zeit bis zum Weihnachtsfeste verstrich schnell. Erna hatte mit Weihnachtsgeschenken vollauf zu tun. Ihr überreiches Taschengeld fetzte sic in den Stand, kostbare Dinge zu kaufen, um andere zu erfreuen. Da aber die Eltern es sehr gern sahen, wenn sic selbst tätig war, verwertete sic ihr kleines, sorgfältig ausgebildetes Mal talcnt. Sie arbeitete sehr gern kunstgewerblich und hatte besondere Geschicklichkeit im Schnitzen, Lcdcrpunzen und in der Brandmalerei. Auch diesmal hatte sic ein Phvtv- graphiealbum in geschmackvoller Weise gepunzt und mit roten Mohnblütcn bemalt. Auf dem Mittelschild stand in goldenen Lettern: „Unser Liebling". Das Albnm war für die Bilder von Klein-Felix bestimmt, für den sie ein weißes Samtkleidchcn stickte und Spielsachen schnitzte. — Aber trotzdem ihre ganze Tätigkeit jetzt liebevollen Ueber- raschnngcn für das Fest der Liebe gewidmet schien, gab ihre Stimmung nur wenig von dieser Liebe Zeugnis. Tie Zustände im Hause spitzten sich zn. Der Verkehr der Eltern mit ihr wurde gequält. In tiefer Verbitterung glaubte sie sich zurückgcsctzt nnd überflüssig. Da ihr keine andere Waffe gegeben war, verschanzte sie sich hinter einem Wall von unnahbarem Hochmut. Zuweilen, wenn die Mutter anSgcsahren war, flüchtete sie in das Kinder zimmer. Die Amme, welche das schöne junge Mädchen bedauerte, ließ ihr den Kleinen. Tann taute Erna ans und schüttete den ganzen Liebesinhalt ihres Herzens über das Kindchen ans, welches ihr stets jauchzend die Arme cntgcgcnstrccktc. Jin Beisein der Eltern aber be achtete sie den Knaben kaum nnd verbarg in falschem Stolz ihre Liebe für ibn. Ein Brief ihrer mütterlichen Freundin, der Marquise von Charbart, aus Nizza, batte sie noch mehr gekränkt. Tic graziöse Plauderei der liebenswürdigen Fran fehlte ganz. Das lange Schreiben enthielt nichts wie Ermab nungcn. Sic sollte die Eltern kindlich dantbar behandeln, leine falschen Gefühle in sich auskommen lassen nnd das Brüderchen recht lieben. - Diese Epistel war ihr ein Be weis, daß ihre Mutter sich bet der Freundin über sic be schwert hatte. Und das traf sie tief; denn sie liebte die Marquise aufrichtig. Wiederum ließ ihr Stolz es nicht zu, sich bei der Fernen zu beklagen oder gar zu ver teidigen. Sie schwieg zu allem, selbst zu Leu ihr immer lästiger werdeudeu Huldigungen Eduards, der täglich bei ihnen aus- und einging. Eine entsetzliche Angst, daß die Eltern sie zu dieser Ebe zwingen könnten, verfolgte sic Tag und Nacht. Sie schienen ihm geneigt, fordertcn ihn immer wieder auf und sandten sic häufig zu Hennigs. Der junge Mann hielt uch jetzt vortrefflich und zeigte sich als ausgezeichneter Ge schäftsmann. Ihr Vater betonte das stets. Er sah ja auch nicht das Mienenspiel, die beleidigenden Blicke des Mannes, wenn er unbeobachtet zu sein glaubte. Wie anders hatte Antok sic angesehen! — Wie anders war der brave, gute Werner! Sie floh erleichtert zu ihm, wenn er im Zimmer war, wenn sic auch fühlte, daß dadurch Eduards Haß gegen den Offizier sich steigerte. Das Fest war am Dienstag. Am Sonntag wurden Herr von Soudheim und Hcllmut in der Villa Recken burg erwartet. Tas sollte eine lustige Zeit werden, so hofften alle. Anna schwärmte schon jetzt von dem fremden Offizier und mackste sich Hoffnungen. Grete und ihr Bräutigam schwammen in einem Meer von Wonne. Am Freitag abend erklärte Herr Bvlmanu beim Diner, daß er dem Brautpaar zu Ehren am Sonntag nach Weihnachten einen Ball geben wollte. „Hoffentlich sind dann andere Leute auch im Reinen und wir können unsere Tochter, — — nun, kommt Zeit, kommt Rat, was, Erna?" — Die neckend Angcrufcne wurde bleich. Ehe sie noch etwas entgegnen konnte, trat der Diener mit dem neuen Gericht ein. — „Ich kann nicht sagen, wie mir Eduard gefällt!" fuhr der Vater fort. „Er hat sich außer ordentlich entwickelt. Heute beobachtete ich ihn ans der Börse. Er verbindet mit der kühlen englischen Ruhe einen ganz außergewöhnlichen Schneid für seine Jugend. Hat mir wirtlich imponiert!" Erna mußte nvch allerlei Besorgungen erledigen. Der Vater brauchte die Equipage. Sie suhr deshalb in einer Droschke mit ihrer Zofe in die Stadt, um am Gänscmarkt und auf dem Jnngsernstieg ihre Einkäufe zu machen. Ans einem der Geschäfte tretend, sah sie plötzlich Werner von Rcckcnbnrg vor sich. „Dn hier?" rief sic überrascht. „Ja!" sagte er strahlend vor Freude. „Ich habe einen dienstfreien Vormittag. Und schönes Wetter haben wir heute, so kalt nnd klar, nicht wahr? Wo willst du hin?" „Ich wollte eben mit Martha nach Hause fahren. Sic ist so beladen, und dort im Wagen habe ich noch mehr Pakete!" „Schade! — Aber weißt du, was wir tun? meinte er lustig. „Du schickst Martha mit dem Gefährt heim und ich komme mit dir zu Fuß nach und mache gleich den Meinen eine kurze Visite. Morgen kommen unsere Gäste, vielleicht kann ich Mama bchülslich sein! Bitte, Ernachen, tue cs -och!" Er bat so flehend, die Sonne lockte sie auch. Nebenbei wollte sie mit ihm noch manches besprechen. „Gut!" ant wortete sie nach einigem Uebcrlegcu. „Also, Martha, bestellen Sic der gnädigen Fran, wenn sic nach mir fragen sollte, daß ich mit Herrn Leutnant sofort Nachkomme. Hier ist Geld für den Kutscher. Adieu also, Martha!" Werner stieß einen leisen Jubclruf aus, als die Droschke außer Sicht war. „Sv!" sagte er glücklich, „endlich habe ich dich einmal allein! Mir ist das Herz so voll!" Seine Blicke hingen mit Entzücken an der bieg samen, eleganten Mädchcngestelt, die im Astrachaniackct mit Chinchillakragen sich noch mehr hob. Ein Chinchilla hütchen mit schwarzen Federn saß in dem „goldenen" Haar über dem kältegcrötetcn, vornehmen Gesichtchen. Er bog aus den belebte» Straßen ab in die stille, vor nehme Gegend am Alstcrbassin. Die mehr oder minder herausfordernden B icke der Vorübergehenden, welche das schöne Mädchen streiften, ärgerten ihn. Als er dann so allein neben ihr dahinschritt, da konnte er sich nicht mehr zurückhaltcn. Leise und erregt gab er ihr von der tiefen Liebe zu ihr Kunde, die ihn erfüllte. Erna hörte ihm ohne Unterbrechen zu. Endlich bat er sie nm eine Entscheidung, um ihr Jawort. „Werner", sagte daö junge Mädchen leise, „du mußt wissen, daß ich dich von frühester Kindheit an wie einen Bruder lieb und wert halte. Mein Gefühl für dich ist keine leiden schaftliche Neigung; aber ich vertraue dir sv, -aß ich deine tzlattin werden könnte. Aber ich fürchte, daß deine große Jugend, du bist doch erst dreinndzwanzig geworden, meine Eltern " „Die sind so lieb zu mir!" unterbrach er ne. „Weil sie dich noch nicht für voll ansehcn, Werner. Täusch dich nicht. Ich fürchte, Vater hat leider ganz andere Pläne mit mir!" „Eduard?" fragte er traurig. „<>a!" entgegnete sie, schwer atmend. „Und du wirst ihn heiraten?" „Nie, nie!" entfuhr cs ihr. „Ich finde ihn widerlich und zwingen lasse ich mich nicht! Nein!" wiederholte sie bestimmt. Jetzt atmete er aus: „Dem Himmel sei Dank, Erna! Ich halte Eduard für einen grundschlechten Charakter!" Schweigend gingen sie weiter. „Erna", rief er dann, „ich halte diese Ungewißheit nicht aus! Tu würdest dich mir also nicht verwehren?" „Nein!" „Sv darf ich bei deinem Vater um dich werben?" „Ja, denn ich hoffe, die Liebe zu dir wird bei mir noch kommen!" Kaum hatte sic diese Worte gesprochen, so schauderte sic. Eine innere Stimme sagte ihr: „Du wirst ihn nie lieben! Nie!" „Ich muß nvch in dieser Stunde Gewißheit haben, Erna!" sagte er drängend. „Nvch treffe ich deinen Vater im Comptoir, wenn ich sofort hinfahrc! Dort stehen Droschken, bist du mir böse, wenn ich dich hier verlasse?" Sie verneinte lächelnd. Mit einem festen Händedruck trennten sie sich. Aufs höchste erregt, befahl Werner dem Kutscher, sehr schnell zu fahren. DaS Mädchen schaute ihm nach. Er fuhr in der entgegengesetzten Richtung fort. Wie sonderbar ihr zu Mute war. Nicht nm einen Pulsschlag floß ihr Blut schneller als sonst. Sie mochte den braven Jüngling wohl leiden, aber mehr tonnte sie für ibn nicht empfinden. Eine große Gleichgültigkeit, ein dumpfes Gefühl der Resignation ergriff von ihr Besitz. Sie würde ihn jetzt, nur, nm aus der unbehaglichen Atmosphäre des Elternhauses zu kommen, sogar wider spruchslos geheiratet habe». Werner von Rcckenburg batte den Großkausmann in seinem Comptoir angctroffen, als er gerade zur Börse fahre» wollte. Seine dringende Bitte um ttzcbör bestimmte Bvlmann, den Wagen für eine halbe Stunde später wieder zu bestellen. Die Türen wurden geschlossen, die Vorhänge bcrabgelassen, damit niemand horchen konnte. Geduldig ließ sich der Aelterc vor einem Schreibtisch nieder, er er wartete die Beichte von Schulden. Ueberrascht blickte er empor, als der Offizier mit zitternder Stimme seine Wer bung nm Ernas Han- vorbrachtc. Bolmann blteS den Rauch seiner Cigarre von sich nnd dachte nach. Dann schüttrltc er den Kopf. «Fortsetzung folgt.)
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