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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 17.11.1902
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-11-17
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19021117024
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902111702
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902111702
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1902
- Monat1902-11
- Tag1902-11-17
- Monat1902-11
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Das Attentat auf den König Leopold. or- Erst wenig über ein Jahr ist verflossen, seit der Präsident der Vereinigten Staaten, Mac Kinley, den Rcvolverschüfsen des Anarchisten C,olgosz in Buffalo zum Opfer fiel, nachdem vorher die Kaiserin Etisabetb, König Humbert von Italien und der Präsident der französischen Republik, Carnot, unter den Mordwerkzeugrn verblendeter Anhänger einer vom Wahn sinn erzeugten Weltanschauung — ohne Schuld, nur weil sie hervorragende Repräsentanten der bestehenden Gesellschafts ordnung waren, ihr Leben hatten lassen müssen. Am Sonnabend sollte der König der Belgier, Leopold II., unmittelbar unweit der Tore der Gudulakirche der blutigen Reihe dieser um nichts gestürzten Größen sich anschließen. Zum Glück verfehlten die Kugeln deS Meuchelmörders Gennaro Rubino ihr Ziel. Der König ist wohlbehalten, und obwohl er gerade in der letzten Zeit durch verschiedene, säst pathologisch auffallende und dadurch vielleicht entschuldbare unschöne Züge in seinem Privatleben sich manche Sympathien verscherzt bat, wendet sich ihm doch die allgemeine Teilnahme zu, in Belgien sowohl wie in der gesamten gesitteten Welt, vermischt mit dem Gejühle des unaussprechlichen Abscheus über die Tat eines Schurken, die den Beweis liefert, daß der zu allein fähige Hag gegen alles, waS bürgerliche Ord nung heißt, noch immer unter der Asche glimmt und daß man in gewissen Zeiträumen immer wieder auf einen Aus bruch des glühenden Elementes rechnen muß. Als 1886 der große Streik in und um Lüttich und in dem Kohlenbecken von Cbarleroi den belgischen Staat erschütterte, war von einer anarchistischen Bewegung in Belgien noch reckt Wenig zu merken. Das Anarchistenblalt ,^i clieu, ui wrrrtrs" erschien mit Ausschluß der Oefftntlickkeit. In den Streik versammlungen im Borinage-Gebiet war selbst daS Wort Anarchismus unbekannt. Dann tauckteu in Lüttich, Brüssel, MonS, Charleroi eine klnzahl Individuen auf, die sich zum Anarchismus bekannten >,nd von dem deutschen blonden Tischler John Neve (später zu 15 Jahren Zuchthaus in Leipzig verurteilt), der von Belgien auS die Einschmuggelung anarchistischer Schriften nach Deutschland leitete und von Most gehört hatte; aber von einer Organisation der Anarchisten war nirgends etwas zu entdecken. DaS änderte sich Anfang der neunziger Jahre, wo na mentlich Lüttich sich als ein Herd anarchistischer Umtriebe entpuppte. Dort wurden 1891 und 1892 große Mengen Sprengstoffe gestohlen und verschiedene Sprengungen ver breiteten Bestürzung und Entsetzen. Obwohl im Juli 1892 ,u einem großen Prozeß von 16 Angeklagten 9 zu Freiheits strafen verurteilt wurden, war die Propaganda nicht ver nichtet. 1894 fanden weitere Dynamitaoschläge in Lüttich statt und vom 14. Januar bis S. Februar 1895 wurden in einem neuen Prozeß mehrere Anarchisten verurteilt. — Ob an dem Attentat SipidoS auf den Prinzen von Wales der Anarchismus beteiligt war, ist mit Sicherheit nicht fest gestellt worden. AlS dann aber die belgischen sozialistischen Abgeordneten im Frühjahr dieses JabreS zur Erringung Les allgemeinen gleichen Wahlrechts den Generalstreik inscenierten, tauckte der Anarchismus mit einem Male überall und zwar als organ i- sie rteMackt auf. Ein anarchistisckesOrgan, „L'Emaucipakion", führte eine Sprache, die bis zu dieser Zeil selbst in Belgien unerhört war: „Der ParlamentaiiömuS bat die Arbeiter klaffen kraftlos gemacht, den Strom aufgcbalten und die revolutionäre, wirtschaftliche Ta'krast gebrochen . . . . keinen Gott, keinen Herrn! Die Umwälzung ist unterwegs. Bald wird sie, die Unwiderstehliche, da sein und mit ihrem mächtigen Hauche das gegenwärtige Beinhaus wegblasen, um der Brüderlichkeit und dem Glücke Platz zu schassen." Daß „L'Emancipation" eS an heftigen Angriffen gegen König Leopold nicht fehlen ließ, bedarf Wohl keiner Hervorhebung. Der von den belgischen sozialistischen Abgeordneten ins Werk gesetzte Generalstreik wurde bekanntlich bald ausgehoben. Mit einem Male setzte der Anarchismus mächtig ein; Vas war Wasser auf seine Mühle. Eine neue anarchistische Zeitung „La Bataille" kam rasch in die Höhe, die „Genossen" Laupv, Jean Hardy, die früher in der sozialistischen Be wegung sehr tätig gewesen waren, gingen zum Anarchismus über, an anarchistischen Pamphleten und neuen Zeitungen war kein Mangel, eine überbot die andere an Heftigkeit und Schamlosigkeit der Sprache. „La G>öve Göuörale" agitierte sür einen neuen großen Generalstreik und eine ,,h.'bmtento Uevolutiouarre", eine große O.guuisutiou drr Anarchisten, erblickte in Brüssel das Licht der Welt. „I/Hmtonto Uevolutionaire" sollte nach der Ankündigung alle reinen Sozialisten ohne Unterschied der Schulen sammeln, die noch Zuversicht hegen auf das revolutionäre Handeln und hauptsächlich auf das gewaltige Mittel: „den Generalstreik". Aber nicht den politischen Gen-ra'streik, sondern den wirtschaftlichen, den revolutionären sollte die „h,'Lnt6nt6 Itovolutionairo" fördern, und nach unfern Meldungen sind dieser neuen anarchistischen Organisation zahlreiche frühere sozialistische Genossen beigetreten. Eine im September in Brüssel abgehaltene Cvmilssitzung, an de, etwa 50 Delegierte teilnahmen, konstatierte mit Be friedigung, daß die Notwendigkeit eines Zusammenschlusses der revolutionären Kiäfle überall eingcschen sei, die Gruppenorganisation mächtige Fortschritte gemacht habe, kurzum der Geist der Revolution stark im Avancieren sei Ein größeres Manifest für Len wirtschaftlichen Generalstreik und die Revolution war in Vorbereitung. Eine so lebhafte Bewegung wie in der letzten Zeit unter den radikalen Sozialisten und Anarchisten, dir in der „I/Lutents Uevo- lutinnairo" ihren Zentralvereinigungsdunkt fanden, war wohl noch Niemals zu konstatieren. Auf den Zusammenhang zwischen Anarchismus und Sozialdemokratie weist auch das Brüsseler „XX. Siöcle" hin, indem eS schreibt: Ist denn dieser Rubino um viele» schuldiger als die revolutionären Polemisten, die täglich in der Presse den Haß des Boltes auf den König lenke»? Zweifellos wäre eS ein Mangel an Logik, Rubino zu bestrafen und jene weiter ge währen zu lassen. Die Gesetzgebung müsse sofort in Kraft treten, um die sozialistische Presse zn hindern, eine Atmo sphäre zu erzeugen, aus der notgedrungen solche Taten ent stehen müssen.—DaS Organ der Regierung, das „Journal de Bruxelles", macht ebenfalls die Sozialisten ganz direkt für das Attentat verantwortlich. Der Attentäter Rubino ist Italiener. Es ist eine betrübende Tatsache, daß Italien fast alle Meuchelmörder stellt (man denke nur an LaS Attentat auf den Präsidenten der französischen Republik Carnot, auf die Kaiserin Elisabeth und König Humbert). Daß die anarchistischen Blätter in allen Ländern eine schamlose Sprache führen, ist ja leider bekannt; aber die italienischen übertrumpfen sie doch noch alle; man werfe nur einen flüchtigen Blick auf ,.l,a (juo8tiono Lorialo" in Paterson (Nordamerika) und ZI Ilisvoglio" in Genf und man wird erstaunen, was gedruckt werden konnte. Daß solche Schandblätter die Attentate geradezu Hervorrufen, bedarf keiner Hervorhebung. Aber auch diese beiden italienischen Blätter waren den italienischen Anarchistenführern in London, dem Hauptherd deS Anarchismus in Europa neben Baicelona, noch nicht ge pfeffert genug; die Errico Malatesta, Carlo Frigerio, Silvio E. ' A^ vv Piereon:) beschiess.-«» daher, von London aus ein neues Anarchistenorgan kivolurious Sorialv^ herauS- zugeben. Bereits zwei ober drei Nummern sollen erschienen sein. Die Schurken in London, deren Schriften Caserio, Acciarito, Luccheni rc. gelesen, haben die Saat gesät, die nun auch in dem Kopfe eines Rubino so unheilvoll auf gegangen ist. Wir verzeichnen noch folgende Meldungen: * Brussel, 16 November. Aus dem Geständnis Rubinos bleibt nachzutragen, Laß er vor zehn Tagen nach Belgien gekommen 'ei, um einen Monarchen zu töten, den er nicht achten könne, und um Lurch Liese Tat dem Volke dieses Landes ein Beispiel des Mutes zu geben. Rubino gibt zu, daß er mit Anarchisten von Barcelona i» Verbindung stehe, doch habe er auf eigene Verantwortung gebandelt. Di« Untersuchungsrichter ver- inuicn, daß er mit dem berüchtigten Autonomic-Klub in Ver bindung stehe. (Frkf. Ztg.) * Brüssel, 16. November. Die dem Hole nahestehende „Etoile Beige" schreibt: Mit Erstaunen und Entrüstung habe die Haupt stadt die Nachricht von einem Attentat gegen den Monarchen aus genommen, mit Erstaunen, weil die Seuche des llünigsmordes sich in Belgien bisher niemals gezeigt habe, mit Entrüstung angesichts der unendlichen Dienste, die der Fürst dem Lande erwiesen habe. Zum Glück sei der Täter ein Fremder und die belgische Fahne bliebe unbeschmutzt. Ter König ist unversehrt. Es lebe der König! — Auch die „Jndependance" konstatiert, daß dies da- erste Attentat iu einer 37jährigen Regierungszeit sei. * Rom, 16. November, lieber Gennaro Rubinos persönliche Verhältnisse werben auS Bitonto folgende Einzelheiten mitgeteilt: Er wurde am 24. November 1859 geboren als Kind achtbarer Eltern. Er diente im 50. Infanterie-Regiment und wurde während seiner Dienstzeit zu fünf Jahren Zucht- Haus verurteilt, weil er in einem Um stürz ideeu huldigenden Blatte einen Artikel veröffentlicht hatte. In Mailand, wo er später Lehrer des Französischen war, wurde er im Jahre 1893 wegen Fälschungen zu 4 Jahren Zucht- Haus verurteilt. Später ging er mit einem seiner Brüder nach London und wurde dort von den Anarchisten, die ihn für einen Spion hielten, in ihren Blättern heftig angegriffen. Rubino ist verheiratet, seine Fran ist irrsinnig. * Rom, 16. November. Ter Papst richtete an den König der Belgier ein Glückwunschtelegramm, ebenso hat Minister präsident Zanardelli ein solches im Namen der italienischen Regierung an die belgische Regierung gerichtet. Der König har den Ober-Ceremonienmeister Gianotti beauftragt, der hiesigen belgischen Gesandtschaft seine Glückwünsche zu übermitteln. Politische Tagesschau. * Leipzig, 17. November. AuS dem Reichstage. Völlig erschöpft von der Anstrengung, die nötig war, nm LaS vom Abg. Aich dichter in Vorschlag gebrachte neu. Veifadren bei namentlichen Abstimmungen durchzusetzen, War ber ReickStag am Sonnabend wieder bescklußunfäb'.z in >eö Wortes verwegenster Bedeutung. Als der Saal uni stärksten besetzt war, mochten 60 Abgeordnete anwesend sein, die zumeist der Linken angebörten; die reckte Seite des HauseS war am allerdürftigsten besetzt. Zur Be ratung standen freilich nur Petitionen und zwar solche, die Lea Reichstag schon am 14. Oktober beschäftigt haben, aber man hätte Loch meinen sollen, der Gegenstand wäre wichtig genug, um auch Zentrum und Konservative zu interessieren. Es handelte sich nämlich erstens um einheit liches Vereins- und Versammlungsrecht sür alle Teile des Reiches, welche Petition die Kommission zur „Be rücksichtigung" empfohlen hatte, und zweitens um gleiches Vereins- und VersammlungSrecht für Männer und für Frauen, über welches Verlangen die Kommission Ueber- gang zur Tagesordnung empfohlen batte. Den Ausschlag gegen dieses Verlangen hatte daS Zentrum gegeben. Dieses hat zwar Anlaß genug, einheitliches Recht für Deutschland zu wünschen, besonders im Interesse religiöser Vereine; aber den Frauen will es ein entsprechendes Vereinsrecht nur zugestehen, soweit „berufliche Interessen" der Frauen in F,ag« kommen. Der Beschluß, den daS HauS am Sonnabend faßte, fiel infolge deS Ueberwiegens der Frequenz auf den Bänken ver Linken wesentlich anders aus, wie dies bei voller Besetzung des Hauses der Fall gewesen sein würde. Man beschloß — gemäß einem noch den Namen Rickert tragenden Anträge — auch denjenigen Feuilleton. Das Findelkind. Roman von Sraft Georg y. Nachdruck verbot«,. „Ich bitte dich, mir mein Toilettengeld ankzuzahlen und mir die Auswahl meiner Garderobe selbst zu über» lassen, liebe Mama!" sagte sie heiser. „Du kleidest -ich jetzt so geschmacklos und in so billige Stoffe, daß eS allen Bekannten anffällt. Wahrscheinlich verbrauchst du die Summen für deinen neuesten Sport, die Armenpflege! So schön und großartig das auch klingt, wir müssen dich vor jugendlichen Uebertreibungen der Wohltätigkeit schützen. Daher möchte ich bei deinen Ein läufen zugegen sein!" entgegnete die Mutter schärfer. Tattana war totenblaß. „Ich bitte aber doch um die urir -»gesicherte freie Verfügung über mein Geld, Mam.il Ich kann dich ohnehin nicht begleiten, da ich mich krank fühle!" Die Gräfin blickte ihre Tochter zornig an: „Wir werden für deine Gesundheit etwas Energisches tun müssen, denn deine Anfälle von Uebclbcftnden häufen sich bedenklich. Dabei kommen sie immer gerade dann, wenn ich deine Gegenwart wünsche! Merkwürdig! Aber hier ist dein (Selb, undankbares !" Sie warf einige Scheine auf den Tisch und schwieg ver stimmt. Tatiana riß das tzststd mit zitternden Händen an sich und steckte es in die Tasche. Ein sonderbares, ver klärtes Leuchten trat dabei in ihr Gesicht. Erna wagte das schwüle Schweigen nicht zu unterbrechen. Endlich erhob sich die Gräfin: „Machen Sie sich bereit, Fräulein Bol mann, ich erwarte Sie in einer halben Stunde. Sie schritt hinaus, um sich von der Zofe ankletden zu lassen. „Die Gräfin muß immer kaufen können und das Geld ans dem Fenster werfen! Es zerrinnt in ihren Händen! Ich flehe Sie an, lassen Sie sich willig beschenken, Erna Alexandrowna! Sie braucht Leute, die sie aufputzt, und wenn Sie eS nicht sind, dann ist es die Krüger oder eine andere Kreatur! Seien Sie gut, nehmen Sie eS an, so schwer es Ihnen wird, um meinetwillen!" bat Tatiana. „Nur Sie können meine Mutter durch Fügsamkeit davon abhallerr, mir weiter nachzuspüren, bevor sie in» Ausland geht! Und ich brauche das Geld, — für eine arme Familie, — bitte!" Erna blickte in das angstvoll auf sie gerichtete Geiicht und nickte bejahend mit dem Kopfe. Wieder stieg ein un bestimmter Argwohn in ihr aus, und sie brachte den ver hungert und sorgenvoll aussehenden jungen Mann mit dieser Bitte in Verbindung. Ob Tatiana Wvsakin sür ihn da- Geld brauchte, welches sie von ihrer Garderobe er sparte? Auch fiel Erna jetzt die einfache Machart, daS billige Material auf, auS den» die Kleider der Komtesse ge- serigt waren. So sehr die junge Deutsche sich auch sträubte, die Gräfin beschenkte sie mit verschwenderischer Großmut, und immer wieder «nutzte sic »leider, Hüte und Jacketts an- probieren. Auf ihrer prachtvollen Gestalt saßen die Pariser und Londoner Toiletten wie angegossen. Tie Wojakina begeisterte sich förmlich an der Schönheit ihres Opfers, so daß sie ihrer Verschwendungssucht gar nickt Genüge tun konnte. Endlich erklärte Erna energisch, daß sic nichts mehr annehme» würde. Die (Gräfin lachte und seufzte: „Ach, wenn Sie »»eine Tochter wären, Erna Alexan- drvwna, ich würde Staat mit ihnen machen und nicht ruhen, bis Sie nicht nur die Schönste, sondern auch die Eleganteste auf den Hoffcsten wären! So bin ich froh, wenn Tatiana in der Menge verschwindet. Schade! Sie ist meine Tochter, aber sie sieht doch wie eine Mongolin aus! Wenn Sie wützteu, was mir dieses Mädchen schon zu schaffen gemacht hat! Es ist ein Unglück!" Der Wagen sauste über den breiten, prachtvollen Newskn-Prospckt dem Palais Wosakin zu. Frau Krüger empfing die Damen. „Wo ist die Komtesse?" fragte die Gräfin sogleich. „Tatiana Nikolajewna hat, trotz meiner Bitten, eineu Weg machen wollen. Ich glaube, sie ist wieder in die Kirche gegangen. Wahrscheinlich gibt sie ihr schönes Geld den Bettelnonncn, oder sic wirft es in die Opfcrstöckc." „Ich denke, sie fühlte sich krank? — Warum sind Sic oder Iwan nicht mitgcgangcn? Ich wünsche nicht, daß meine Tochter allein geht!" „Tatiana Nikolajewna befahl —" „So sagen Sie meinen Gegenbefehl, liebe Krüger, ver standen? Nur mit Fräulein Bolmann ist eS ihr gestattet, ohne Sie oder den Diener zu promenieren! — Lassen Sie uns den Samovar und Wareiuc letngckochte Früchte) bringen. Eg war ein kalter Wind. In mein Boudoir! Kommen Sie, wenn Sie abgelegt haben, zu mir, Erna Alerandrowna! Wir plaudern noch!" — Erna saß der Gräfin gegenüber und schlürfte den heißen Thee, zu dem sie Himbeergelee und kleine Kuchen genoß. Die Wvsakina trank ihn mit Zitronenscheiben und rauchte dazu. Sie schwatzte von allem Möglichen, ehe sie zu ihrem eigentlichen Thema übersprang. Ganz plötzlich legte sie die PapyroS nieder: „Wir kennen Die doch setzt eine ganze Zeit und konnten uns überzeugen, daß Die den begeisterten Lobsprüchen meiner Schwägerin, der Dru- ztna, entsprechen, Erna Alexandrowna! Mein Gatte und ich haben Vertrauen zu Ihnen gefaßt! Wir treten unsere Auslandsreise ruhig an, in dem festen Glauben, daß Sic über Tatiana wachen werden! Sie sind ein charakter volles Mädchen, und vielleicht gewinnen Sic auch Einfluß über unsere Tochter, die sich sonst gegen alle abschließt. Sie müssen Tag und Nacht an ihrer Seite bleiben und dürfen das unbesonnene Kind nicht aus den Augen lassen, ver standen?" — „Bitte, dispensieren Sic mich davon, gnädigste Gräfin, ich eigne mich nickst zur Gefangeuaufseherin oder zur Spionin!" meinte Erna bescheiden und fest. Die Gräfin musterte sie überrascht und dachte nach. „Beides sollen Sie auch durchaus nicht sein, »nein Kind! Aber Sie sind jung und klug! Werden Sic die sorgsam wachende Freundin Tatjanas. Das genügt uns. Sehen Sic, der Graf war zuerst sehr abgeneigt, ein so auffallend schönes Mädchen, wie Sic, in unser Haus zu nehmen. Wir haben zwei junge Söhne. Aber alles,'was die Dru- zina über Sic und Ihre Schicksale, Ihre erprobte Sittlich keit und moralische Stärke schrieb, ermutigte uns dazu. Vielleicht erwärmt unsere Tochter sich für Sie, und Sic könnten als Freundin " „Ich glaube, gnädigste Gräfin, Sie sind von schlechten Menschen gegen die Komtesse beeinflußt, während diese Ihr Vertrauen verdient, wie Ihre Liebel" versetzte Erna. Tic Gräfin Wosakina runzelte die Brauen: „Sie sind ein Kind, meine Liebe! Sie vcrstehen mich nicht, oder wollen cs nicht, daher muß ich oarto blauet», mit Ihn«»» spielen. Tatiana war von früher Jugend an ein ver bittertes, widerspenstiges Kind. Mit sechzehn Jahren hat sic sich mit einem jungen bürgerliche», Offizier in eine Liel'jchast eingelassen. Sic lieb sich von ihm entführen, um unsere Einwilligung zu erzwingen. Zum Glück waren mir gewarnt und haben das Pärchen bereits in Gatschina gefaßt. Er wanderte in die Berbannung, und unsere Tochter, die sich »vie eine Verrückte geberdete, haben wir nur dadurch beruhigt, daß wir ihr die Briesfchasten des Burschen vvrlegten. Diese bewiesen, daß Tatiana der Spiclball eines verschuldeten Glücksritters werden sollte. Troy ihrer Häßlichkeit wollte er sie heiraten, um uns zu» Deckung seiner Schulden, sind Sie krank?" Die Gräfin schwieg erschreckt, denn Erna war, in Er innerungen an ihre Erlebnisse mit Londheim, totenbleich geworden und hatte schaudernd die Augen geschlossen. Jetzt richtete sic sich entschlossen auf: ,Hch danke, Fran Gräfin, es war nur ein vorübergehender Schwindel. E. ist schon gut!" „Das freut mich!" rief die Gräfin beruhigt. „Also wo war ich? Ach ja! Nun, nicht zufrieden mit diesem bösen Streich, spielte sie uns einen zweiten! Der Graf hatte einen Privatsekrctär, einen Studenten, engagiert. Der hübsche, junge Pole kam täglich einige Stunden zu nuv. Wie sie es gemacht haben, weiß ich nicht! Jedenfalls enl deckte Frau Krüger, daß Tatiana Wosakin sich nicht ent blödete, mit dem verhnngerten Menschen anzubändetii. Zum Glück hatte er, ein Revolutionär, sich iu Unruhen an> der Universität eingelassen. Sv «vnrde er ans Petcrsburu verwiesen. Unsere Tochter kain unter strengste Aufsicht. Erst, als wir hörten, daß dieser Boris Przewsku sich an einem Aufstande der Warschauer Studenten beteiligt und administrativ nach Sibirien versandt worden ivar, wurden wir ruhig, Erna Alerandrowna! Seitdem hat Tatiana sich der Kirche in die Arme geworfen und widmet sich den Armen. Wir lasse«, ihr das und hoffen, sic durch den ein flußreichen, guten Popen Iwan von Kroirstadt und een Popen Feodor, dem sie beichtet, zur Heirat mit dein Ritt meister Grafen Krvtjcmku zu bewegen. Sic hört solch Vorschläge schon mit Ruhe an und läßt sich, wie Sie ja gesehen haben, bereits von ihm huldigen. Also, wenn Sic noch in unseren» Sinne wirken, ist Aussicht, das un glückliche Mädchen noch zur glückliche»» Frau zu machen. Wir haben doch natürlich nur das Beste mit der Törin im Äuge." „Wie lange Zeit ist seit der Angelegenheit mit dem Polen vergangen, Frau Gräfin?" fragte Erna interessier«. Die Gefragte dachte nach und rechnete. „Tatiana ist neunzehn, beinahe zwanzig Jahre alt. Mit achtzehn Jahren engagierte sie sich mit Przewsku, — dann die Eitt- deckung, — er kam fort, — also er ist schon fast ein Iah. und ein oder zwei Monate in ber Verbannung. — Ah,
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