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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 18.11.1902
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-11-18
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19021118026
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902111802
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902111802
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1902
- Monat1902-11
- Tag1902-11-18
- Monat1902-11
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Im Ausland mag die Nachricht Hohn uuv Schadenfreude hervorgernfea haben. Nach den jetzt vor liegenden ausführlichen Meldungen liegt dazu aber absolut kein Grund vor, denn die „Loreley" war, wie dem „Berl. Lok.-Anz." aus Athen depeschiert wird, gar nicht bemannt, sie w.ir zwecks einer von einer Athener Firma vorgenommenen Aukbrfserung seit 15 Tagen im PiräuS gerade dem Kirchhof gegenüber verankert und die Mannschaft be lohnte während der Dauer der Reparaturen rin eigens gemietetes Haus im Piräus, die Offiziere batten Hotels bezogen. Den Wachtdienst versahen sich ablösende Mannschaften. Weiter wird berichtet: Als der inspizierende Unter offizier um >/,4 Uhr morgens mit zwei Matrosen das Verdeck der „Loreley" betrat, fand er keine Wache vor und die Laterne warf ihren flackernden Schein aus Blut- lachen. Im Rauchzimmer dcS Kapitäns, wo der pro visorisch wachehabenve Unteroffizier Bideritzky schlief, war das zerwühlte Bett leer und blutbesudelt. Der große eiserne Schrank an der gegenüberliegenden Wand, der wichtige Dokumente der deutschen Bot schaft enthielt, fehlte, ebenso die Barkasse der „Loreley". Der deutsche Gesandte Graf Plessen und Baron Gnesinger eilten sofort »ach dem PiräuS. Außer dem Matrosen Bideritzky war noch der Matrose Köbler ermoidet, der in der ebenfalls Blutspuren aufweisenden Küche gesessen batte. Der durch Taucher aufgefundcne Leichnam deS Unteroffiziers zeigt am Halse eine tiefe, von einem Stilet herrührende Stichwunde. Vom Schiff herab weht die Flagge halbmast. DaS biSerige Ergebnis der Untersuchungen war die Auffindung zweier Hammer, einer Feile und eines Brecheisens im Hause deS LeuchtturmwächterS; in dessen Jolle ist auch ein eiserner Kasten gefunden worden. Die dort wohnende verdächtige Frau wurde verhaftet. Alle Nach forschungen nach dem Verbleib deS verschwundenen Matiosen Konrad Kohler waren trotz der dafür von der „Loreley" ausgesetzten Belohnung von 500 Drachmen bisher erfolglos. — llnS wird noch berichtet: * Athen, 17. November. Heute fand die feierliche Beerdigung deS ermordeten Unteroffiziers Bideritzky von dem deutschen StationSfchiff „Loreley" statt. Derselben wohnten der deutsche Gesandte mit den Mitglieder» der Gesandtchaft, sowie der Kommandant der „Loreley" bei. Die „Loreley" ist vermöge ihrer ganzen Bauart und Bernau nung daS am wenigsten geschützte deutsche Kriegsschiff-, ja sie ist ein solches überhaupt kaum. Sie ist eine 1884 in Bau grgebene, 1886 bei Hend in Glasgow vollendete englische Privaljacht, die „Mobican" getauft wurde »nd die, als sie die deutsche Marineverwaltung ankaufte, um an Stelle der alten ausrangierten „Loreley" StalwnSdienste zu tun, den Namen ihrer Vorgängerin erhielt. „Loreley" hat nur einen Gesamtbesatzungsetat von 55 Manu und zwar 3 Seeoffiziere, 1 Sanitätsoffizier, 4 Teckojfiziere und 47 Mannschaften. Nach den Herbslkommandierungen war der Stab des kleinen Schiffes umgeändert; an Stelle deS KapiiänleutnantS v. Noth- kirch und Panthen mar Kapitänteutnant v. Reuter Komman dant geworveu, erster Offizier blieb Oberleutnant ;.S. v. Bülow (Hermann), der frühere zweite Offizier Oberleutnant z. S v. Laffert wurde durch Oberleutnant z. S. Werther ersetzt; der Manne>Overaisistenzarzt l)i-. Sciffe war geblieben. Speziaffcbiff „Loreley" hat eine Länge von 61 m, eine Breite von 8,4 m, einen Tiefgang von 4,2 w. Die 600 indizierten Pserdekräfte konnten dem ein Deplazement von 924 t habenden Spezialt'ckiff eine Geschwindigkeit von 12 Seemeilen geben; sür die Zwecke deS StationSdiensteS war das selbstverständlich nur sehr schwach armierte Schiff (II 8. X. 5, I LI.) genügend geeignet. Politische Tagesschau. Leipzig, 18. November. Tie Verständignngsversttche. Die „Nat.-Ztg.", der an einer zollpolilischcn Verständigung zwischen den Regierungen und den Mehrheirssraknonen des Reichstags ebenso wenig zu liegen scheint, wie den Organen der Freisinnigen Vereinigung, spöttelt über das Diner, das am Sonnabend beim Reichsiazspräsidcnlen statifand, und eizäalt, ein Berichnrstatter habe die Speisekarte verösfenilicht, die dem kulinarischen Verständnisse deS Grafen BaUeflrein zu hoher Edre gereiche und den parlamentarischen Gegnern des TaiffeniwuifS vielleicht lebhasteS Bedauern daiüber einflößen könnte, daß sie sich durch ihr Veihallen von einer derartigen Sitzu, g luSgeschlossen hätten, an der sie gewiß keinen Grund zu, Obstiuklion gesunden haben würden. Der Pfad zu einer möglichen Verständigung sei aber ein so schmaler, daß eS, um ihn gangbar zu machen, Vock noch andeier Voraussetzungen als einer behaglichen Stinimung bedürfe. Jedenfalls aber haben die Tafelgenüsse die Gäue deS Pi äsidenten nicht allein beschäftigt. Meldet man doch der „Köln. Z»g." aus Beilin: „Aus dem Mahl bei Gras Vallestrem,"zu dem bezeichnenderweise von Parlamenlanern nur Vertreter der Konservativen, Freikonscr- vativen, Nalionalliberalen und Zenirumsfraktion geladen waren, ist die vage der Larisoerhandlungen der vorwiegr nde,wenn nicht -Peinige Gejprächsgegensiand gewesen. Es liegt auf der Hand, daß bei solchen gefeUfchastlichrn und privaten Besprechungen eigentliche Ab machungen nicht getroffen werde» können, auch ist dies talsächlich nicht geschehen, wohl aber hat sich heraus- gestellt, daß unter Len Führern der genannten Parteien Las dringende Bedürfnis hervortrat, die Verhandlungen zu irgend einem Abschlüsse zu bringen, und man darf annehmen, daß in Len Besprechungen der Grund zu praktischen Vorbe reitungen gelegt ist, die für den AuSgang der Zollbe ratung von maßgebender Bedeutung werden können." Auch sind die Besprechungen, die bei diesem Mahle statt- gefunden haben» nicht die einzigen gewesen, die über daS Tbema der Zolffragen stattgefunden haben, denn die „Freis. Z»g." berichtet in ihier gestrigen Ausgabe: .Am Freitag vormittag verhandelte im Reichstage der Reichskanzler privatim mit Graf Ballestrem, am Freitag abend waren im Ncichskanzlerpalais die nalionalliberalen Abgeordneten Paasche, Bassermann, Sieg und Blanken horn aus Einladung des Graten Bülow, am Sonnabend waren beim Grasen Ballestrem Führer dcS Zentrums, der konser vativen Parteien und der nationalliberalen Partei zum Diner geladen. Auch der Reichskanzler nahm daran teil. Zu heute waren mehrere Führer des Zentrums in das Reichs- kanzlerpalais geladen worden. Unzweifelhaft gehen also die Verhandlungen hin und her, und auch die Pause in den Reichctogsverhandlungen hat wesentlich den Zweck, solche Verhand lungen zu ermöglichen, ohne daß etwas in Len Foyers des Reichs tages verlauten kann." Und wenn nun auch wirklich bei allen diesen Besprechungen Mund und Magen nickt vergessen worden sein sollten, so ist dock ber dem in Regierungstreuen ebemo wie in den Reihen der MchrbeitSpaileien herrschenden Verlangen nach einer Emigunz nicht anzunehmen, daß die EmigungSversuche obne alles und jedes Ergebnis geblieben seien. Die „Kieuzztg.", die zur Abweckielung wieder einmal steisnackig ist, versichert zwar: „Unterwerfen wird sich die Reichstag» Mehrheit nicht; 7av.» dürfte Graf Bülow sich bei ,erncrr Besprechungen mit deren onbrern von neuem überzeugt baden", aber daS bat nichts zu bedeuten. Denn wenn eine „Einigung" versucht wird, mutet man keinem Tberle eine „Unterwerfung" zu, und es gibt Punkte genug, in denen die Regierungen der sog. Kom- vromißuiebrheir nachgeden können, wenn diese im Pu kte der Minimalsätze nachgibt. Uebrigens wird von einer Nachgiebig keit auf Seiten der Kompiomißmedrheit bereits geii'eldet. Herr Rettich zieht eine Ablehnung deS bisher von der Mehr heit des Hauses gestützten KomnnssionsbeichlusscS in Erwägung, der einen Teil der Erträgnisse der Zölle und Verbrauchs steuern, gemäß dem bekannlenZentrumsantrage, sür die Zwecke terWrlwen-undWarsenversicherung reservieren will; er beantragt für dielen Fall, jedenfalls im Einverständnis mit der Mcbrbeit seiner Fraktion, den von der Kommission in das Tarifgesetz eingesüglen, von der Regierung iür unan- nehiubar erklärten Z llu durch eine recht zahme Resolution — die Regierungen werden aufgcfordcrt, entsprechende Maß nahmen „in Erwägung zu ziehen" —zu ersetzen. Wenn daS io weiter geht, wird die „Nat.-Ztg." eine schmerzliche Ent täuschung erleben. 1-in klerikaler Wunschzettel. Schwerlich ist eS ein Zufall, daß die klerikale „Köln. Volks- ztg." gerade j tzt während der hinler den Coulisscn geführten Verhandlungen über den Zolltarif einen Wunschzettel bezüg lich der Straßburger Universität Präsentiert. Das ultramoniane Blatt schreibt nämlich: „Immer bestimmter tritt die Nachricht aus, daß demnächst eine katholisch.theologische Fakultät eingerichtet werden soll. Damit würde d ie Universität endlich denCharakter als „Hochburg des Protestantismus" einigermaßen ver lieren. Konfessionelle Unduldsamkeit und liberale Herrschsucht hatten ihr ein beinahe ausschließlich protestantisches und katholiken feindliches Gepräge oufgedrückt und sie in schroffen Gegensatz zur großen Mehrheit der Bevölkerung gebracht." Weiter heißt es dann: „Im Falle Spahn hat die Regierung es zum ersten Male gewagt, der liberalen Prosesjorenclique entgegenzutretcn. Der Sturm, der dadurch heroorgerusen wurde, ist noch in aller Erinnerung. Staats sekretär v. Köller hat im Reichstage Las Recht der Regierung ent- schieden gewahrt, und man darf wohl sür die Zukunst eine fach- gemäße Besetzung der Professuren erwarten, nachdem der leitende Staatsmann nunmehr selbst Kurator der Universiiät geworden ist: denn diese Maßregel kann doch nur den Sinn haben, daß das Ministerium die Rechte der Regierung bestimmt und folgerichtig zur Geltung bringen will." Endlich wird Herrn v. Köller und einem Höheren Las Folgende zur Erwägung gegeben: „Tas Ministerium wird im Laufe LeS WinterS Gelegenheit haben zu zeigen, ob es deu berechtigten Wünschen und Forderungen der Katholiken Rechnung tragen wird. Prosessor Windelband gehr nach Heidelberg und so kommt die Neubesetzung einer philo sophischen Professur in Frage. Seit Jahren verlangen die elsaß-lothringischen Katholiken einen auf christlichem Boden stehenden Vertreter der Philosophie. Dieser selbst verständliche Wunsch kann um so leichter erfüllt werden, als in Straßburg ein zweiter ordentlicher Lehrstuhl der Philosophie Lurch einen liberalen Philosophen, Prof. Ziegler, be- letzt ist. . . . Bei früheren V rhanoluugen un Landcsans'ch,.st. l die Regierung erklärt, im Falle der Errichtung einer theologischen Fakultät würde selbstverständlich ein katholischer Philosoph ernannt werden. Nun soll Liese Gründung bevorstehen; wird trotz dem die Forderung nach einem auf dem Boden der katholischen Weltanschauung stehenden Philosophicprosessor bei dieser günstigen Gelegenheit nicht erfüllt, so muß man an dem guten Willen der Straßburger Regierung zweifeln, die Errichtung einer theologischen Fakultät zu ermöglichen. Tas würde von deu Gegnern einer Fakultät in Rom gewiß zur Geltung gebracht und behauptet werden, die Straßburger Universität könne als „Hochburg des Protestantismus" mit Len Leutchen Univcist- täten in katholischen Laudesteilen, wo ausnahmslos katholische Philosophen angestellt sind, nicht auf gleiche Stufe gestellt werden. Schon bei dem Fall Spahn,'noch ehe die Vakanz einer Philosophie- proirssur eine so pajsei.de Gelegenheit bot, wurde behauptet, Laß demnächst auch ein katholischer Philosoph angestellt werde. Es wurden sogar die Namen von zwei elsässischen Geistlichen hierfür genannt, und die Nachricht sand vielfach Glauben, weil sie so wahrscheinlich war. Um so zuversichtlicher ist jetzt eine solche Ernennung zu erwarten." Herr v. Köller wird sich nun vielleicht unangenehm dadurch berüprt fühlen, daß den Professoren Windelbano und Ziegler wenigstens indirekt das Stehen aus christliche»! Boden be stritten wird; anderseits aber wird eS ihm Freude bereiten, Feuilleton. Das Findelkind. Roman von Ernst Gcorgy. . Nachdruck verboten. Am anderen Tage herrschte unter der Dienerschaft deS Palaiö Wosakin große Aufregung. Der Dcnschtfchik t Bursche» des jungen Grafen Kota hatte gegen Morgen rinen Mnschik Über den Gartenzaun klettern sehen. Man fand im Garten die Fußspuren. Und nnn wurde daS ganze Hauö abgesucht, doch ohne daß man eine Kostbarkeit vermißte. Auch die Räume des linken Flügels wurden im Beisein des Generals durchforscht, denn die Schritte endeten unter den Fenstern der jungen Damen. Erna war vor innerer Erregung totenblaß und staunte nur über Tatianas unerschüttertc Ruhe. Ihr gelbes Ge sicht wurde auch nicht um einen Schein fahler als sonst, nnd in ihren kleinen, geschlitzten Augen glitzerten Schadenfreude und Triumph. Sie wurde ihrer Gesell schafterin dadurch so unheimlich und antipathisch, daß diese sich beherrschen mnßtc, nm der Komtesse nicht ihre nächt liche Wahrnehmung verächtlich ins Gesicht zu schleudern. In den nächsten Tagen erfolgte die Uebcrsiedclung nach PawlowSk in die Datsche und die Abreise der winter lichen Gäste. Die Dekorateure arbeiteten in dem Palais, nahmen alle Vorhänge ab, rollten die Teppiche aus und bedeckten die cingemottetcn Polstermübcl mit leinenen Hüllen, die Nippes und Kunstwerke wurden verschlossen, die Bilder mit Schonern behängt. Dann wurden die Räume verschlossen. Die Eltern waren bereits fortgefahren, als der große Iamschtschik — ein viersitziger Landauer, dessen vier Pferde in einer Reihe gespannt sind und dessen Führer einen Kran; von Pfauenfedern auf dem Eylinder trägt — vorfuhr. Tatiana, Erna, Graf Sascha und der Rittmeister Graf Krotjemky stiegen ein. Frau Krüger und der Haus meister blieben biS zum Abend noch in der Stadt und kamen dann mit der Bahn nach Pawlowsk. Die Fah'-t von Petersburg über die belebte Landstraße nach dem reizenden Villenort war für Erna außerordentlich interessant. Die Komtesse versank in ihr gewohntes, unliebens- würdige» Schweigen. Erna müßte di« Kosten der Unter haltung tragen, da die beiden Herren sich in ihren Er klärungen überboten. Das Geführt passierte ZarStvie Sselo. Eine Reiterkavaltade, Damen und Herren des Hofes, trabte mit fröhlichen Begrüßungorufen vorbei. Kaiserliche Equipagen, eine Mailcvach mit Offizieren von der Lcibcquipage, Radler, stattliche Karossen, Spazier gänger, Händler in russischen Trachten auf kleinen Wagen, Bauern, eine Schwadron Kosaken, alles wurde der auf merksam lauschenden Erna gezeigt und mit Erläuterungen versehen. Ihr Entzücken an dem Neuen und Fremd artigen gefiel den Herren ebenso wie ihr von der Lust gerötetes, schönes Gesicht. Tic wandte sich mit ihren Fragen meist an Sascha, denn die Blicke .Krotjemkys waren ihr peinlich. Endlich passierten sie den Platz zwischen Bahnhof und Theater, kamen durch die Triumphpfortc und sausten durch die Villenstraßcn bis zur Wosakinschen Datsche, die in einem großen Park in der SholdatSkaja lag. Das bunte, rosa gestrichene Haus mit dem hohen Turm war hellgrün bedacht. Goldene Gitter um die Balkons, russische Arabeskcnfricse um die Fenster gewahrten dem Ganzen etwas so Pittoreskes und Bizarres, daß Erna sich gar nicht von dem Anblick trennen konnte. Entgegen dem Brauch, die Datschen aus Holz errichten -n lassen, hatte Graf Wosakin den solideren Stein als Baumaterial gewählt. Sascha erzählte, daß ihnen das Haus vor zehn Jahren abgebrannt war, ohne daß auch nur ein Möbel gerettet werden tonnte. Mit Mühe batte man die schlafenden Kinder aus dem brennenden Bau geholt, der schon nach fünf Minuten einem einzigen Flammenmeer glich. Damals hatten die Eltern sofort einen Architekten verschrieben und einen massiven Sommcrsitz aus Stein und Eisen mit allem Komfort der Neuzeit aufführen lassen. Im Laufe der folgenden Wochen veränderte sich Tatiana sehr. Sie zeigte ihrer Gesellschafterin den herr lichen Park und die reizvolle Umgebung auf langen Promenaden und Wagcnsahrten. Dabei verlor sic alle Herbheit, kam auS sich heraus nnd war zu Erna fast freundschaftlich liebenswürdig. Zum Diner und den Konzerten im Bauxhall kamen wieder Abend für Abend Besuche, und das gesellschaftliche Treiben wurde in der Stadt lustig fortgesetzt. Sroquet, Tennis wurden ge spielt, dann die lustige Kindcrmusik vor dem Vauxhall be sucht. Mit ihren Brüdern und Kavalieren beteiligten sich die jungen Damen an den öffentlichen Konfetti schlachten, an den Korsofahrten. Erna lebte aus. So sehr sie Tatiana, mit der sie jetzt ein Zimmer teilte, bcobachlete, konnte sie nichts Ver dächtiges bemerken. Das Mädchen war heiter und zu gänglich, so daß die Gräfin Wosakin Erna ihre höchste Zufriedenheit über ihren wohltätigen Einfluß aussprach. Ihre SteUNng im Hause wurde immer angenehmer. Sie wurde wie ein lieber Gast behandelt und empfand nie, daß sic eine bezahlte Fremde war. Aus Hamburg und Paris bekam sic liebevolle Schreiben und erwiderte sic. Ehe sie sich dessen bewußt oder dazu willens wurde, ent wickelte sich daraus eine regelrechte Korrespondenz. Alle Briefe erfreuten sie; aber Ludwig Antoko kurze, un gewandte Zeilen, die merkwürdig unbeholfen waren^ weil er sein Gefühl darin unterdrücken mußte, hoben sie auf Tage über sich hinaus. Selbst die Komtesse bemerkte die wohltätige Wirkung und neckte Erna, wenn die Post einen Brief aus Paris brachte. Jedoch diese wies jede An spielung zurück. Tie wollte ihre Gefühle nicht einmal vor sich selbst anerkennen und vertrug auch keine Be merkung über diese Sache. Ungefähr vierzehn Tage nach der Ucbersiedekung reisten die Wosaktns ins Ausland; die Söhne zogen nach Starasa Dercwnja an dec Newa, und Krotjemky mußte zu seinem Acrgcr den Sohn eines Großfürsten nach Paris begleiten. So wurde es plötzlich still um die beiden Mädchen. Die greise Tante deö Generals war stocktaub und lebte ganz für sich. Achtes Kapitel. Tatianas Geheimnis. Anna Konstantinowna, die Witwe des Polkownick Scherojcw, war dem Wosakinschen Haushalte als Ehren dame beigcgcbcn. Ernas Jugend und Schönheit schien für dieses Amt wenig geeignet, und Frau Krüger besaß nicht die nötige Bildung dazu. Sie leitete die Wirtschaft und schrieb regelmäßige Berichte an die Gräfin nach Deutschland, welche die Komtesse bitter „die Hauspolizei- rappvrte" benannte Es war ein Glück, daß Erna die Gunst der Frau Krüger in hohem Grade besaß, denn so kam sie in den Briefen immer sehr günstig fort, und Tatiana blieb ihr ganz überlassen. Das junge Mädchen bemerkte daS wohl. „Man scheint JI)nen sehr zu vertrauen, Erna Alexandrow««!" sagte sic nach einem langen Spaziergang. „Wir werden gar nicht verfolgt. Ich habe scharf aufgepaßt, aber noch nie etwa» bemerkt!" „Wie sollte man das wohl ansangen? Wie töuuen Tie so etwas Absurdes vermuten, Tatiana Nikolajewna!" Sie saßen aus einer Bant und blickten aus das hoch gelegene, originelle Schloß des Großfürsten. — Weiche, grüne Rascnmatten, duftende Bttunenparterres, kleine Wasserstraßen und ein Baumschlag von einer unerreichten Schönheit und unvergleichlichem Wuchs zeichnen den Part vor allen anderen der Welt aus. Die gärtnerischen Zauberkünste auf diesem flachen, unfruchtbaren Boden sind erstaunlich. Meilenweit zieht sich ein herrlicher Pari hin, von den lauschigsten, fest chauffierten Wegen durch zogen. Jede Allee zeigte neue, überraschende Ausblicke und wechselnde Reize. Die Krone des Glanzen aber ist Bjctaja Bjerosa »weiße Birten), die Eremitage der Groß fürstin. Das leicht durchschnittene ttzclände zeichnet sich in sanften Wellenlinien vom Horizont ab. Tatiana erhob sich. „Schauen Tie her! — Wenn ich früher nlit meinen Französinnen oder Engländerinnen hier spazieren ging, dann tauchte oft plötzlich lnnter irgend einer Baumgruppe die Krüger oder einer unserer Diener auf. Wir waren nirgends sicher! Tclbst wenn wir uns in den entferntesten Wegen verkrochen, wurden wir ge funden. Seitdem ich aber mit Ihnen umherfchweise, bleiben wir unbeobachtet." Erna blickte sic an. „Es tut mir leid, daß Tie io miß trauisch und argwöhnisch sind. Zu welchem Zwecke sollte man uns nackffpürcn? Was in aller Welt könnten wir denn begehen, um es zu verdienen? — Bor ungehörigen Liebeleien schützt uns unser Stolz und unsere Erziehung. Und was gäbe es noch?" Sie sann nach und snhr lächelnd fort: „Mit nihilistischen Anschlägen werden wir uns doch nicht abgcbcn. Wenigstens lzabe ich Tic noch nie von Politik sprechen hören. Unser Goethe sagt auch: „Ein garstig Lied, pfui, ein politisch Lied!"" Tatiana schloß plötzlich die Augen. Ein Schauer schien über sic hinzugleiten. Ihre Hand umklammerte heftig den Sonnenschirm. „Wozu sollen wir in Rußland voliti sieren? Es wäre zwecklos", erwiderte sie mit er zwungener Gleichgültigkeit. „Bet Ihnen im Auslande herrscht Gerechtigkeit. Selbst der Einzelne kann, wie ich hörte, ans gerichtlichem Wege den Staat, die Regierung verklagen und zwingen. Bei uns dagegen gibt es nur einen Willen, der sich niedrigen Kreaturen überträgt und sic zu einer Ausübung brutalster Gewalt ermächtigt. Bei uns gibt es keinen «chutz des gequälten Individuums. Nur Gewalt kann gegen Gewalt helfen!"
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