Suche löschen...
02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 01.12.1902
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-12-01
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19021201026
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902120102
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902120102
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1902
- Monat1902-12
- Tag1902-12-01
- Monat1902-12
- Jahr1902
- Links
-
Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
Bezug--Preis der tzauptexpedtttoo oder den tm Gtadt- beitrk und den Vororten errichtete« Aus- -aoestellen abg «holt: vtertrljührlich 4 80, — zweimaliger täglicher Zustellung io» Hou» 8.80. Durch dir Post bezogen für Deutschland u. Oesterreich vierteljährlich X 8, für die übrigen Länder laut Zettung-preisliste. Ne-aktiou und Expedition; 2ohanni»gaffr 8. Fernivrecher 188 und LLL KlltalevPedttt»«»«, Alfred Hahn, Buchhandlg., llawersttättstr.S, 8. Lösche, Katharinenstr. 14, «. LöntgSpl. 7. Haupt-Filiale Dresden: Strehlener Straße 4. Fernsprecher Amt I Nr. 1718. Haupt-Filiale Lerlin: LSutggrätzer Straß« 114. Fernsprecher Amt VI «r. SS9S, AVend-Ausgabe. Wp)Mr TaSMM Anzeiger. AmtsAatt -es Löniglichen Land- und des Königlichen Amtsgerichtes Leipzig, des Rates und des Rolizei-Ämtes der Ltadt Leipzig. Anzeigen-Prei- die ögespaüene Petitzeile LL H. Ikeklamen «ater de« Nedaktionlftrich <4 gespalten) 78 vor d« FamUtenaäch- richten (Sgespalteu) 80 Tabellarischer und Ziffernsap entsprechend Häher. — Gebühre» für Nachweisungen und Offertenannahme 88 H («xel. Porto). Grtra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen.Ausgabe, ohne Postbesörderung ^tl SO.—, mit Postbesörderung ^l 70.—» Äanahmeschluß für Irrigen: Abend-Ausgab-: Vormittag» 10 Uhr. Morger-Lu-gabr: Nachmittag» 4 Uhr. Anzeige» stad stet» an die Expedition zu richten. Die Expedition ist Wochentag» ununterbrochen geöffnet von früh S bi» abend» 7 Uhr. Druck und Verlag von S. Pol» in Leipzig. Nu «11 Montag den 1. Dezember 1902. Sk. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 1. Dezember. Die Gnmpfhühaer de» Reichstags. Den empfindlichsten Schlag, der die Mehrheit des Reichs tags zur Zeit treffen konnte, hat sie sich am Sonnabend selbst zugefügt, indem sie da« HauS dem Schicksale der Be» schlußunsähigkeit verfallen ließ. Wenn sie sich einmal zu einem so kühnen und uugewöbnlichen Schritte, wie es der An trag Kardorsf ist, entichlossen halte, durften ihre Mitglieder wenigstens so lange nicht von der Stelle weichen, bis die Debatte über die geschäfleorduungsniäßige Zulässigkeit des Anträge» beendet war. Die Achillesferse des Antrag« Kardorff besteht darin, daß die Gegner ihm vorwersen können, er sei eine bloße BequemlichkeitSmaßregel. In vierzig zehnstündigen Sitzungen wäre, so behauptete der Abg. Stadthagen, der ganze Zolltarif rits durchzuberateu. Die Sozialdemokraten seien bereit, am Platze zu bleiben, aber die Mehrheit wisse, daß es unmöglich sei, ihre Leute so lange io beschlußfähiger Zahl zufammenzuhaiteo, und nur darum bedürfe sie de« „Staatsstreichs" gegen die Geschäftsordnung. Die Mehr heit kann darauf erwidern, daß nach den obstruktionistischen Leistungen der Sozialdemokratie in der letzten Woche das Ende der zweiten Beratung überhaupt nicht zu berechnen sei und daß somit denen, die es als ihre patriotische Pflicht betrachten, das Reformwerk unter allen Umständen zustande zu bringen, nur die Zuflucht zu einem ungewöhnlichen Ausweg übrig bleibe. Dann durfte die Mehrheit aber wenigstens während dieser Debatte den Gegnern nicht Gelegenheit bieten, ihre Unfähig keit, in beschlußfähiger Zahl zusammen zu bleiben, un- mittelbar uck oculos zu demonstrieren. Daß am Sonnabend an erster Stelle die Poleninterpellation auf der Tagesordnung stand, ist kaum eine Entschuldigung, denn e» war schon vorher bekannt, daß die>e Sache auf Wunsch der Regierung verschoben werden würde. Auch die Eiwägung, daß die GejchäjtSordnungSdebaite über den Antrag Kai dorff jedenfalls noch bis in die nächste Woche hmeingehen werde, durste niemanden veranlassen, sich für den Sonnabend vom Anhören der gegnerischen Reden zu dispeusieren, denn es war vorhcr- zusehen, daß die Sozialdemokraten die Sitzung sprengen würden, wenn die Majorität nicht in für sich beschlußfähiger Zahl zur Stelle wäre. Und so ist e» gekommen. So bald Herr Singer sich über die tatsächliche Präsenz der Mehrheit vergewissert hatte, beantragte er unter Bezweiflung der Beschlußfähigkeit die Bertagung, indem er zugleich seine gesamte Gefolgschaft hinauSkommanbierte. Damit war die Sitzung nach kaum zweistündiger Dauer zu Ende. Die Majorität will sich das Verdienst erwerben, das Ansehen des Parlamente» zu wahren, ihr Auftreten am Sonnabend ist aber der denkbar schlechteste Anfang hierzu. Was nun werden soll, weiß niemand. Es ist fraglich, ob der Antrag Kardorff überhaupt durchgesetzt werden kann. Man spricht deshalb davon, ihn zurück,»ziehen, um dann die Geschäftsordnung zu ändern, insbesondere bei Ge schäftsordnungsdebatten Schlußanlräge zuzulassen; doch handelt es sich zunächst nur um Gerüchte. Die Lage ist heillos ver fahren. Nach der Sitzung sah man die Zentrumsführer Gröber, Bachem, Spahn, Fritzen und Trimborn noch fast eine Stunde lang in einer Ecke de» Sitzungssaales in eifriger Beratung verweilen; sie werden Wohl an dem neuesten Schlachtplane geschmiedet haben. Rati<nalltbcraleReichStasSfrakttotrund„Rational-3e»tung". In der nationalliberalen Fraktion des Reichstags ist deren Stellungnahme zum Anträge Kardorsf nochmals zur Prüfung gekommen und die Fraktion hat mit wenigen Aus nahmen beschlossen, an dieser Stellungnahme unbeirrt fest- zu ballen. Eine spezielle Erklärung gegen die Angriffe der „National-Zeitung" soll nicht erfolgen, wohl aber soll „an geeigneter Stelle" das Bedauern darüber zum Ausdrucke gebracht werden, baß das Blatt in der unmotivierten Der- unglimpfung der Fükrer io weil gegangen sei. Wie eS scheint, ist eS der „Na:.-Lib.»Eorr." überlassen worden, die Ver teidigung der Fraktion zu übernehmen, denn sie veröffentlicht das Folgende: „In den heftigen, leidenschaftlichen Angriffen der weiter links stehenden Presse gegen die »ationalliberale Partei anläßlich des Antrages Kardorff erhebt sich der Vorwurf, die Mehrheit der nationalliberalen Fraktion habe durch die notgedrungene Zustimmung zu diesem Anträge die Eisenacher Beschlüsse verleugnet und sich mit jenen Parteien verschmolzen, die Abgeordneter Bassermann auf dem Eiirnacher Delegiertentage „reaktionär bis aus die Knochen" nannte. Diesen Beschuldigungen mangelt legliche Berechtigung: die Mehrheit der natwnalliberalcn Fraktion hat sich auch noch nicht um Haaresbreite von den Eisenacher Be schlüssen, welche das Zustandekommen des Zolltarifs zum Abschluß langfristiger Handelsverträge als Notwendigkeit anerkannten, entfernt und wird dies auch in Zukunft nicht tun. Nach mühseligen versuchen ist endlich «ine Verständigung zwischen den Mchr- heitsparteien im Reichstag zu stände gekommen. Sollte nun die nationalliberale Partei die Mitwirkung hierzu ablehnen, weil dieser reaktionäre Reichstag plötzlich und ganz unerwarteter W.ise sich zu dem Programm der Zolltorispolitik bekennt und zu dem seinigen macht, welches der national!! bera leDelegiertentag in Eisenach aufgestellt hat? Das wäre doch eine politische Kinderei gewesen! Da die bisherigen Mehrheitsparteien auf die Regierungsvorlage, die vom Eisenacher Delegiertentage gebilligt worden ist, einschwenken, mußte die nationalliberale Fraktion zur Aussührung dieser aus dem Boden der nationalliberalen Forderungen sich bewegenden Verständigung die Hand bieten, um durch die Annahme des Laris-Regierung»-Entwurfs di. für alle Zweige des wirtschaftlichen Lebens erforderliche Beruhigung wieder herzustellen, die Möglichkeit der Abschlüsse von Handelsverträgen zu sichern und gleichzeitig Len auf dein Laude lastenden Alpdruck zu entfernen, als ob die Sozialdemokratie schon jetzt die allein gebietende Macht wäre. Wir haben die Gründe, welche die Mehrheit der nationalliberalen Fraktion nach reiflichstem Erwägen dazu geführt haben, sich dem Antrag Kardorff anzu- schließen, dargelegt und auch die im Antrag Kardorff vorgeschlagene Lösung alS unerfreulich bezeichnet. Aber in Len: von der Oo- struklion aufgenötigten Kampfe schien dieses — nach Ansicht der Mehrheit geschäftsordnungsmäßige Mittel der einzige Weg zum Ziel. Auf Angriffe war die nationalliberale Fraktion gefaßt, nicht aber auf solche Unterstellungen, die ihr einen „parla- mentarischrn Staatsstreich" unterschieben, wie die „National- Zeitung" dies wiederholt in diesen Tagen zu unserem tiefsten Be- dauern unternimmt und damit der Sozialdemokratie die schärfste Waffe gegen die Partei schmiedet, da die „National-Zeitung" als Organ oder das Organ der nationalliberalen Partei angeiprochen wird. Wir versagen uns, die Kampsplätze und vergilbten Blätter früherer Zeiten aufzusuchen, auf und in denen starke Differenzen der Partei mit der „National-Zeitung" zum Austrag kamen, sondern beschränken u»S auf die Wiedergabe ihrer eigenen Erklärung vor mehreren Jahren, alS die feindliche Presse ihr zurief: „Wenn die „National-Zeitung" kein nationalliberaleS Blatt ist, so hängt sie doch an den Rockichüßen der Partei". Sie erwiderte darauf: „Die „National-Zeitung" erklärt heute, was sie schon rin Dutzend Mal erklärt hat und erklärt haben will, daß sie ihre Politik nur nach Maßgabe ihres eigenen Urteils über die ein zelnen Fragen treibt und daß es ihr nicht in den Sinn kommt. Las Organ einer Fraktion ober eines Parteivorstanües sein zu wollen." Wir bringen gewiß der „National-Zeitung" alle Achtung entgegen, die sie als völlig unabhängige» Blatt genießt, und werden niemals die großen Verdienste vergessen, welche sie in Verfechtung großer, ideeller Güter Schulter an Schultermit dernationalliberalen Partei sich erworben bat. Aber gerade aus diesem letzteren Gründe beklagen wir es, daß sie in diesen heißen materiellen Kämpfen den Führern der national liberalen Parlei Motive ihres Vorgehens unterfchiebt, die diese um die Partei hochverdienten Männer verunglimpfen. Umso mehr beklagen wir die», als die „National-Zeitung" in der Sache selbst mit den Führern und der Mehrheit der Partei überein- stimmt und sonach der Unterschied in den abweichenden Ansichten lediglich im Momente der Taktik liegt. Am Freitag früh schrieb die „National-Zeitung": „Erst wenn die Mehrheit bei monatelanger Pflichterfüllung durch Schikanen der Sozialdemokratie an der Erledigung der übernommenen Ausgabe gehindert wäre, könnte sie rin mora lisches Recht zu einer Ausnahme-Regel behaupten." Und am Abend schreibt sie: „Sollte die Mehrheit des Reichstages die erst jetzt erreichte Verständigung zwischen der Mehrheit und der Negierung einer Obstruktion gegenüber trotz pflichtmäßiger Anwesenheit und loyaler Bereitwilligkeit zur Diskussion nicht durchsetzen können, dann würden sogar auch Gegner anerkennen, daß sie berechtigt wäre, die Geschäftsordnung zu ändern. Die Mehr heit will aber die Geschäftsordnung brechen"., usw. Nach den Vorgängen der letzten Wochen und Tage kann nirgends mehr ein Zweifel bestehen, daß die Obstruktion die erzielte Ver ständigung nicht zur Aussührung gelangen lassen will. Daß eine große Mehrheit des Reichstages, die doch über die Geschäfts- ordnung, deren Auslegung und Abänderung versassungsgemäß zu entscheiden hat, durch die Einbringung deS Antrages Kardorff den- selben alS zulässig nach den Bestimmungen der Ge schäftsordnung hielt, kann doch auch dem Urteil der „National-Zeitung" nicht entgangen sein, so daß ihre scharfe Kritik, die den jetzigen MehrheitSparteien einen Verfassungs- bruch unterstellt, unsaßlich erscheint. Aber diese Kritik wird begreiflich durch die ganze Stellungnahme der „National-Zeitung" zum Zolltarif. Sie will den Zolltarif nicht, den der Dele giertentag in Eisenach verlangt, und scheint jedes Vorgehen zu mißbilligen, welches dahin den Weg bahnen soll. Um so be fremdlicher muten jene obigen zitierten Auslassungen an, worin die „National-Zeitung" gütigst gestattet, daß zu einem von ihr als richtig erachteten Zeitpunkte die Geschäftsordnung zur Durchführung der Regierungsvorlage — kenn zu einem anderen Zweck ist doch ihr Vorschlag nicht gemacht — ge ändert werd«! Eine Aenderung der Geschäftsordnung wird also von ihr unter gewissen — und schon längst eiugetretenen — Be- dingungea empfohlen, dagegen ein Vorgehen, welches die Auffassung der Mehrheit des Reichstages alS geschäftsordnungsgemäß hielt, als VersassungSbruch erklärt! Das ist ein unbegreiflicher Wider'pruch, der leider ein Ventil in Angriffen gegen die Führer der national- liberalen Partei gejucht und gesunden hat." Freisinnige Volkspartei und Sozialdemokratie. Obgleich Herr Eugen Richter zu den Gegnern de» Antrags Kardorff gehört, nehmen ihn die sozialdemokratischen ReichStagSmitglreder bei jeder Gelegenheit besonder» aufs Korn, um ihn ihren Groll wegen seiner Gegnersckxrst gegen die Obstruktion empfinden zu lassen. Am Sonnabend mußte er sogar den Sck>utz des Präsidenten gegen den beschimpfenden Borwurf de» Verrat» anrufen. Es kann daher nicht be fremden, daß Herr Richter in seiner „Freisinn. Z tg." das Gebaren der Sozialdemokratie scharf beleuchtet und die Gefahr, in die eS unser ganzes parlamentarisches Leben bringt, seinen Lesern eindringlich folgendermaßen zu Gemüte führt: „In der Freisinnigen BolkSpartei ist man nicht länger gewillt, sich das pöbelhafte Benehmen der Sozialdemo, kratie in unmittelbarer Nachbarschaft gefallen zu lassen. Es ist ganz unglaublich, welche gemeinen Schimpfworte fort- gesetzt in diesen Reihen laut ausgerufen werben gegen alle Redner, die Las Mißfallen irgend welches Sozialdemokraten Hervorrufen. „Lump", „Räuber", „Henker", „Spitzbuben", „Ver- räter", daS sind Ausdrücke, die dutzendweise in jeder Sitzung gerufen werden. Die in unmittelbarer Nachbarschaft sitzenden BundeSmitgliedrr sind Zeugen dessen. Tat- sächlich wird dir Redefreiheit im Reichstage seitens der Sozialdemokratie gegenwärtig in brutalster Weife vergewaltigt. Absichtlich wird Störung organi>iert, ins- besondere durch unausgesetztes AuSsprechen Le- Wortes „Rhabarber". Es ist Las der Meininger Komödie ent- nommen, die aus diese Weise im Theater mit wenigen Statisten eine große aufrührerische Volksmenge hinter den Kulissen für das Publikum fingiert. . . Abg. Singer kündigte am Freitag förmlich an, daß seine Partei den Abg. Bachem überhaupt vcrhiiitrrn werde, noch das Wort zu ergreifen, wie denn überhaupt Abg. Singer, obwohl seine Parteigenossen einschließlich der Freunde auS der Fieisinnigen Vereinigung noch nicht ein Fünftel des Reichstages zählen, sich benimmt, wie es ein Führer einer wirklichen Mehrheit des Reichstages nicht unduldsamer und patziger tun könnte. Am Donnerstag (lieS: Freitag, Redaktion) wurde bekanntlich der Abg. Bachem durch systematischen Lärm ge- zwungen, aus daS Wort zu verzichten. Nachgerade steht nicht mehr bloß die GeschäfSordnung, sondern jede parla mentarische Ordnung in Frage." Wie ernst der Führer der Freisinnigen BolkSpartei die Lage ausfaßt, darüber kann nach der vorstehenden Darlegung kein Zweifel bestehen. Und ebensowenig ist ein Zweifel daran möglich, daß der sozialdemokratische Uebermut durch einen Sieg der Obstruktion bis zur Unerträglichkeit gesteigert werden würde. Es ist müßig, über die Formen zu streiten, die in letzterem Falle jener annähme. Jedenfalls aber darf man au» ter Kundgebung der „Freis. Ztg." schließen, daß auch Fciiilleton. Der Untersuchungsrichter. Roman von Heinrich Kornfeld. Nachdruck verboten. Erstes Kapitel. Bei dem Ersten Staatsanwalt Selling war große Ge sellschaft gewesen. Die Gäste verlieben in kleinen Trupps das gastliche HauS. Zwei Herren traten zusammen ans die dnnkle Straße hinaus. Der jüngere — ein Offizier — schob seinen Arm unter den des anderen, der seinen Mantelkragen hoch hinaufgcschlagcn hatte. „Du, Herbert", raunte der Offizier in einem Ton, dem man das mühsam zurüctgehaltene Jauchzen anhörte. „Ich bin unsagbar glücklich!" Der andere drückte mit einer unwillkürlichen Be wegung den Arm des Jüngeren. „Hast du ihr gesagt — fragte er. -Ja." „Darum... Ich habe so etwas bemerkt. Ihr wäret während der letzten Stunde so merkwürdig einsilbig." Ter junge Offizier lächelte. Uebcr sein Gesicht breitete sich ein Leuchten. „Das höchste Glück ist stumm", erwiderte er leise. Der in Eivilkleidung nickte. „Ihr habt euch immer nur selig in die Augen ge schaut ... Also seid ihr richtig eins miteinander?" Der Offizier gab keine Antwort, denn sic waren in die Nahe einer Gruppe von Herren gekommen, die stehen geblieben waren und etwas zu beraten schienen. „Also zum Kurfürsten", sagte eine laute Stimme. Und gleich darauf wandte sich ein zu der Gruppe gehörender Offizier an die beiden Nähcrkommenden. „Kommen Sie mit, meine Herren? Wir wollen noch im Hotel zum Kurfürsten ein Schlnmmerseidcl trinken." „Gehst du mit, Herbert?" flüsterte der Offizier seinem Begleiter zu. „Nein. Ich habe morgen Termin", erwiderte dieser. „Da must ich früh heraus nnd brauche einen klaren Kops. Aber tu dir keinen Zwang an, Paul. Du wirst ja ohnedies noch nicht schlafen können." Das letztere fügte er im Scherzton leise hinzu, so daß die anderen eS nicht hören konnten. „Ich komme nach", entschied der junge Offizier. „Ich habe nur meinem Bruder noch etwas zu sagen." Die beiden Brüder setzten sich wieder in Bewegung. „Aber nicht vergessen, Deinhard!" rief ihnen eine Stimme nach. „Im Kurfürsten — " „Ich komme bestimmt!" gab Paul Deinhard zurück und entfernte sich rasch mit seinem Bruder. „Wann hast du cs ihr denn gesagt?" nahm Herbert Deinhard das unterbrochene Gespräch wieder auf, als sic außer Gehörwcitc waren. „Beim ersten Tanz nach dem Souper", erwiderte der Jüngere lebhaft. „Ich weist nicht, ivar's der feurige Rauenthalcr ihres Vaters oder war es ihre Nähe während des Soupers, kurz, cs war wie ein Feuer in mir, und ich konnte mich nicht zurückhalten. Während des Tanzes flüsterte ich ihr ins Ohr: „Ich liebe Sie, Fränlcin Hilde gard, ich liebe Sic unsäglich!" „Und sie ?" „Sie erwiderte nichts, aber der leise Druck ihrer Hand sprach beredt. Und als ich sie nachher zu ihrem Piatze führte, da strahlten mich ihre Augen so vielsagend all, daß ich sogleich wußte, woran ich war." Ter Aeltere druckte den Arm seines Brndcrs herzlich an sich. „Tn Glücklicher!" sagte er. „Das nenne ich kouragiert. Tn kennst sie doch erst —" „Vier Monate." „Ganz recht, am ersten waren eS vier Monate, daß du hierher versetzt wurdest. Tas muß ich sagen, du hast deine Zeit gut benutzt." „Ich liebte sie vom ersten Tage an, alS kch sie sah." Der Aeltere schüttelte mit dem Kopf. „Tu bist doch ein Teufelskerl", sagte er in einem Ton, in dem etwas väterlich Wohlwollendes und zugleich eine Nüanee von Genugtnnng lag. „Andre machen ihr seit Jahr und Tag den Hof, vor allem Wrcdc. Ra, der wird von eurer Verlobung auch nicht gerade sehr erbaut sein . . „Tu, Herbert, ich glaube, er hat schon etwas gemerkt." „Wieso meinst du?" „Ich tanzte ihm im Contrc vis-il-vi-». Er hatte Hilde gard engagiert. Na, dn kannst dir denken, daß wir — Hildegard und ich — nicht die Augen von einander ließen. Und da begegnete ich einmal Wredcs Blick. Der traf mich wie ein Dolchstoß, sage ich dir." „Hm Na, laß ihn! Du wirst nun wohl morgen, oder richtiger heute mittag um sie ««halten?" „Ja. TaS wird sie doch erwarten. Und warum sollte ich nicht? Meinst dn, daß der Staatsanwalt mich abweiscn wird?" „Ich hoffe doch nicht." Herbert Deinhard blieb stehen. Sic waren vor ihrer gemeinsamen Iunggescllenwohnung anaelangt. Er nahm mit einer impulsiven Bewegung die beiden Hände seines Bruders in die seinen. „Iedcnsalls beglückwünsche ich dich herzlich zu der Liebe Hildegard Scllings. Ihre innerlichen Eigenschaften stehen ihrer äußeren Schönheit nicht nach. Du weißt, ich kenne sic seit Jahren. Ich habe immer nur Gutes von ihr geichen und gehört. Und was die materiellen Verhältnisse be trifft —" Ter junge Offizier machte eine lebhaft abwehrende Be wegung, so daß der Aeltere sich unterbrach. „Natürlich", vollendete er lachend, „das spielt bei dir Brausekopf keine Rolle. Du hast dich sterblich in sie ver liebt. Tas andere kümmert dich nicht." „Nein, Herbert, das kümmert mich nicht", sprudelte Paul Deinhard mit tiefer Ueberzengung hervor, „und wäre sie auch bettelarm, ich würde sic doch heiraten. Wenn ich auch meinen Abschied nehmen und mich um eine kleine Bcamtcnstcllnng bemühen müßte." Herbert klopfte seinem Bruder lächelnd auf die Schulter. „Tas ist, Gott sei Dank, nicht nötig", sagte er. „Na, dann gute Nacht, Paul! Wahrscheinlich schlafe ich schon, wenn du nach Hause kommst." Der andere stand einen Augenblick unentschlossen. „Am liebsten ginge ich gar nicht", meinte er. „Tu hast'» doch nun 'mal versprochen, Paul." „Freilich. Jedenfalls bleibe ich nicht lange." „Gut. Tann bin ich vielleicht noch auf, wenn du zn- rückkommst." Sie drückten sich noch einmal die Hände. Der Offizier eilte davon, während Herbert das HauS öffnete und cum ersten Stockwerk hinaufstieg, wo er mit seinem Bruder eine größere Wohnung inne hatte. Ter Bursche des Leutnants batte alle» .e ieäl. Im Korridor stand auf einem Tifll-ckr . . re nn Leuchter. Damit leuchtete der Heimke.'.. v w in iein Studierzimmer. In der Mitte ding e. ^"askronc von der Decke herab. Herbert entzünde:« « ne Flamme und stellte sich vor das Sofa. An der Wand hingen zwei Por träts. Es waren seine Eltern. Ein Strahl tiesinnerlicher Genugtuung verklärte das Gesicht des zu den Bildern Em pvrblickcnden. Wenn es ein Fvrtlcbcn nach dem Tode gab, so dachte er, nnd eine geistige Anteilnahme de'' Ta Hingeschiedenen an dem Schicksal ihrer lebenden Hinter bliebenen, so würden sic mit ihm zufrieden sein. Er hatte das Besprechen, das er vor langen Jahren dem sterben den Vater gegeben, treu gehalten mit allen Kräften, mit peinlichster Gewissenhaftigkeit. Er hatte für den zwölf Jahre jüngeren Bruder wie ein Vater gesargt und über ihn gemacht, und hatte für ihn Opfer gebracht, als es galt, ihn ans bedrängter Lage zu retten. Vor Jahren hatte der etwas znm Leichtsinn neigende jnnge Leutnant, der der Versuchung nicht hatte widerstehen können, hohe Spiel schulden ans Ehrenwort gemacht. Der Betrag war so be trächtlich gewesen, das er Pauls Anteil an dem ihm uon den Eltern hinterlassenen Vermögen überstiegen batte. Herbert hatte sich nicht einen Augenblick besonnen, non seinem Anteil daS Fehlende hinzuzusügen, nm seinem Bruder zn ermöglichen, Offizier zu bleiben. Ja, er »attc ohne Zögern die Zinsen des ihm gebliebenen Kapitals dem Bruder stets ungeschmälert zur Auszahlung gebracht und zur Bestreitung des eigenen Lebensunterhaltes sich mit seinem Gehalt als Landrichter begnügt. Ter Einsame ließ sich auf einen der um den Tisch stehenden Fauteuils sinken und schlang seine Finger in einander. Ihm war noch gar nicht nach schlafen zn Mute; eine so recht wohlige, zufriedene, beglückende Stimmung erfiillte ihn in allen Fibern und Fasern seiner Seele und seines Körpers. Er war gewiß fas: ebenso glücklich, wie Paul selbst, hatte er sich doch in allen den Jahren, in denen er Vaterstelle an dem jüngeren Bruder vertrat, ge wöhnt, an allem, was Panl betraf, innigsten Anteil zu nehmen, mit ilim zn fühlen und zu empfinden. Gottlob, daß es Nun gelungen war, die Liebe Hildegard Scllings zn gewinnen, dieses prächtigen, keuschen und warm- berttgen Geickiöpfes! Die Ehe würde dem Brausekopf, dellen Eharakter ohnedies nach jenem schwerwiegenden Er^ ei.ulis eine ernstere Richtung genommen, noch mehr sitt- lichen Halt geben, und ihn vor leichtsinnigen, unvorsich tigen Handlungen bewahren. Ein Lächeln, in dem ein Schatten von Schwermut zitterte, huschte über die sinnenden Züge des ernsten Mannes. War es nicht toll, daß der Fünfundzwanzig jährige ihm, dem Sicbenunddreißigfährigen, zuvvrkam? Freilich, wen» Paul erst mit der Tochter deS reichen Liaatsanwaltü Selling verheiratet war, würde auch ihn
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)
- Doppelseitenansicht
- Vorschaubilder
Erste Seite
10 Seiten zurück
Vorherige Seite