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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 02.12.1902
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-12-02
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19021202018
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902120201
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902120201
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1902
- Monat1902-12
- Tag1902-12-02
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Man rühmt die industrielle Anpassungsfähigkeit der sächsischen Arbeiterbevölkerung, die schnelle Aussassuug, die kluge Arbeitsmethode auch des einfachen ManneS; dem Zusammenwirken dieser Eigenschaften mit glänzenden technischen Leistungen und kaufmännischer Umsicht und Energie ist die wirtschaftliche Bedeutung Sachsens zu danken. Aber jene Eigenschaften und Leistungen sind ohne eine gute Volksschule nicht denkbar. Sie hat die guten Eigen schaften auS den Tiefen des VollScharakterS herausgeholt, den Acker soweit vorbereitet, daß er wirtschaftlich nutzbar gemacht Werden konnte. Das geschieht natürlich auch heute noch und e» mag auch in anderen Ländern geschehen sein, aber in keinem Staate scheint uns die Wechselbeziehung zwischen Schule und Wirtschaftsleben so klar und allgemein aus geprägt zu sein wie in Sachsen. So gibt die Schule auch materiell zurück, was man ihr zuwendet. Eine Statistik der gewaltigen Summen, die in den letzten hundert Jahre» in Sachsen für die Volksschulen ausgegeben sind, gibt eS nicht. Es ist nicht einmal festgestellt, waö heute in jedem Jahre für Schulzweckc verbraucht wird, und selbst die Aufzeichnungen der sächsischen Städte über ihre Schul ausgaben könnten heute kaum noch auf zwei Jahrzehnte zurück verfolgt werden, wenn man sich die große Mühe des Nach- forschenö geben wollte. Die erste gründliche und zuverlässige Statistik über die gegenwärtigen Ausgaben für Volksschulen in den sächsischen Stadlgemeinden liegt jetzt jedoch in einer größeren Arbeit deS Rcgierungsassessors Dr. Wächter im neuesten Heft der Zeitschrift der königlich sächsischen statistischen BureauS — „Die sächsischen Städte im 19. Jahrhundert", Fort setzung und Schluß — vor. Mit nicht geringer Mühe ist daS Material von den einzelnen Städten beschafft und tabellarisch verarbeitet. Die sächsische Statistik über die Zahl der Volksschulen und Lehrkräfte in den Städten geht bis auf daS Jahr 1884 zurück. In diesem Jahre gab eS in den sächsischen Städten 2154 einfache, mittlere (Bürger-) und höhere (in denen eine fremde Sprache gelehrt wurde) Volksschulen, die sich Ende 1899 auf 2292 vermehrt hatten. Die Zahl der an diesen Stadtschulen wirkenden Lehrkräfte ver mehrte sich von 8788 im Jahre 1884 auf 12 776 bis Ende 1899, die Schülerzahl von 536 115 auf 688 057. Diese Erhebung hat am 1. Dezember stattgefunden, so daß man die Ergebnisse auch al» dem Stande vom 1. Januar 1900 entsprechend be trachten kann. Für dieses Jahr gelten auch die Feststellungen vr. Wächters über die städtischen Ausgaben sür Volksschulzwecke. Nach seinen in einer ausführlichen Tabelle niedergelegten Ermittelungen haben in jenem Jahre die sächsischen Städte für den genannten Zweck 21,846,364 Mark auSgegeben, von denen 15,867,852 auf Besoldungen entfielen. Im Uebrigen verteilt sich die Summe auf Beschaffung und Erhaltung der Unterrichtsmittel, Heizung, Beleuchtung und Reinigung, bauliche Unterhaltung, Schuldzinsen und Schuldentilgung, Fortbildungsschule und sonstige Verwaltungs kosten; eS sind aber nicht darin enthalten die von den Stadtgemeinden auS eignen Mitteln auf die Erstellung von Schulgebäuden verwendeten Summen. ES ist schon gesagt, daß die Ausgaben der Städte für Volksschulen sich nur auf verhältnismäßig kurze Zeit zurückverfolgen lassen. Nur von jenen sächsischen Städten, die 1865 auf dem Städtetag in Mittweida vertreten waren, liegen in den dort gegebenen Zusammenstellungen Ziffern über die Schulaus gaben auö dem Jahre 1864 vor. Eine Gegenüberstellung der Ausgaben dieses Jahres mit denen aus 1900 möge das Anwachsen der Schullasten in jenen Städten zeigen: GcsamtauSgabeil tcr Schu lasse Namen der Stiidt« Mark ISS4 isoo Frankenberg . 14 881 119 863 Oederan .' . 9 737 47 080 Dippoldiswalde .... . 5023 3l 927 Großenhain . 24 525 132 206 Lommatzsch . 7812 34 779 Meißen . 29 291 213 974 Pirna . 18016 174 623 Riesa . 8 979 134 534 Tahlen . 3 987 27 601 Döbeln . 21121 194 740 Grimma . 16 209 76 300 Hainichen . 13 693 81554 Hartha . 3 955 39 225 Mittweida . 19 634 437 418 O'chatz . 14 964 118 983 Rochlitz ....... . 15 463 67 930 Roßwein . 12 304 90 735 Strehla . 4 845 28 745 Waldheim . 5841 98 334 Wurzen . 19850 208 209 Leider ist nur ein kleiner Teil der sächsischen Städte an der Statistik von 1861 beteiligt, man gewinnt also über das Steigen der Schullasten seitdem kein vollständiges Bild. Tie Aufwendungen sür Schulzwccke sind während der letzten drei Jahrzehnte geradezu lawinenartig gewachsen und zwar teils durch Errichtung neuer Schulgebäude, teils durch Er weiterung der Lehrpläne, hauptsächlich aber durch Ver mehrung der Lehrkräfte und Erhöhung der Be soldungen. Die Ausgaben der Städte sür Volksschulen im Jahre 1900 verteilen sich nach den einzelnen Regierungs ¬ bezirken wie folgt: Kreidhauptmanuschast Bautzen Chemnitz Dresden Leipzig Zwickau Gesamtausgabe 859 898 3 845 257 - 5 988 287 - 7 719 879 - 3 433 043 - Besoldungen 669 090 2 776 448 - 4 038 814 . 5 905 120 - 2 478 350 - Einzelne Stadtverwaltungen haben auch diejenigen Be ¬ träge besonders angegeben, die die Unterhaltung von Koch schulen im Jahre 1900 erforderte. Dieselben bezifferten sich in Leip zig ans 3660 Plauen 3378 Zittau 2466 „F, Mittweida 1202 Pirna 1063 .L und in Schneeberg auf 1045 -F; natürlich sind damit die Ausgaben der sächsischen Stadtgemeindcn für diesen Zweck nicht erschöpft. Von den größeren Städten wendeten in genanntem Jahre sür Volks schulen aus: Le ipzig 5 682 230 von denen 4 382 148 auf Besoldungen entfielen, Dresden 4 393 360 mit 2 898 192 .L für Besoldungen, Chemnitz 2 131 850 „L, unter ihnen 1512 191 sür Besoldungen; dagegen gaben die Städtchen Liebstadt nur 3420 .L, Bärenstein 4032und Unterwiesen thal 4574 sür Volksschulen aus. Die Ermittelungen über Schuldzinsen und Schulden tilgung lassen erkennen, daß sich sächsische viele Städte durch die Errichtung neuer Schulgebäude große Lasten aufgebürdrl haben. Es zahlten 1900 für Schuldzinsen uud Schulden tilgung Dresden 38 669 Chemnitz 40 101 und Leipzig bloß Schuldzinsen 535 170 Aber auch zahlreiche kleinere Stadtgemeinden hatten erhebliche Summen zu zahlen. So Pirna 24 113 Schuldzinsen und 12 071 .-2 Schuldentilgung, Freiberg 15 302 und 16 526 Döbeln 16 946 und 12 402 ^, Auerbach 22 529 und 6461 .6, O-lsnitz 33 994 und 7447 .6, Zwickau 63 489 und 15 427 , Reichenbach nur für Schuldzinsen 46 000 um nur einzelne Städte heraus zuheben. Wenn die hier, wie gesagt, zum ersten Mal gegebene Statistik über die Aufwendungen der sächsischen Städte für das VolkSschulwesen auch noch manche Lücken zeigt, so gibt sie doch im ganzen ein zuverlässiges Bild von der kräftigen und opservollen Föiderung der Volksbildung durch die Städte und widerlegt schlagend die am 21. November vom Abg. Bebel im Reichstage gegen die sächsischen Stadt verwaltungen geschleuderten Vorwürfe. Auch in den meisten sächsischen Dörfern sind bekanntlich die Schul lasten in den letzten Jahrzehnten sehr erheblich gesteigert. In manchem dieser Orte hängt die dort mebr als 200 Proz. der Staatssteuer betragende Höhe der Gemeindesteuer un mittelbar mit dem Aufwande sür die Schule zusammen, der überhaupt in zahlreichen sächsischen Dörfern für die Steige rung der Gemeindesteuer ausschlaggebend iir. Eine Statistik über die erheblichen Leistungen der Land gemeinden für die Volksschulen gibt es jedoch leider nicht und sie ließe sich auch nur durch eine besondere Erhebung beschaffen. Deutsches Reich. k Leipzig, 1. Dezember. (Der sozialdemokratische Parlamentsradau.) Ein interessantes Streiflicht auf die Motive, welche die Sozialdemokratie bei ihrem „Kampfe für das parlamentarische Prinzip" leiten, wirft ein Artikel der „Leipziger Volkszeitung", an dessen Schlüsse eS heißt: „Die Sozialdemokratie kann sich diesen Kampf leisten, weil für sie der Parlamentarismus nicht das letzte Wort ist, das sie zu sagen hat.... Für die Arbeiterklasse ist der ganze Parla mentarismus in dem Augenblicke „Hekuba", politischer Humbug, wo die gesetzliche Vertretung des Volkes zu einer parlamentarischen Bureau- kratie degradiert wird. „Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage." Tie Sozialdemokratie ist eine politische Partei, aber nicht ein seitig eine parlamentarische Partei. Ihre derzeitige Lrgani- sation ist wohl den, Reichstag und seinem Wahlrecht angepaht, aber die Partei steht und fällt nicht mit dem Reichstag und nicht einmal mit dem Reichstagswahlrecht. Ehr sie mit ohnmächtigem Knirschen zusieht, wie dieser kränkliche Reichstag zu einem blutloien Schemen abgetan wird, nimmt sie den Kampf auf Leben und Tod auf und spielt Reichstag und Reichstags Wahlrecht ... aus des Schwertes Spitze " Im übrigen zieht die „Volksztg." mit gleicher Virtuosität wie die sozialdemokratischen Vertreter im Reichstag da« Rakauregister uud geifert von „adliger Junkersippe", „kleri kalem Schreibergesinde", „nationalliberaler Kanaille", „poli tischem Meuchelmord" usw. usw. -i- Berlin, 1. Dezember. (Sozialdemokratische Widersprüche.) Gleich den „Genossen" im Reichstage tobt die „Sachs. Arbeiterztg."gegen den Antrag Kar- dorff, der bekanntlich die gesetzliche Festlegung deS neuen TarijS sichern will. DaS Dresdner Sozialistenblatt bat bei seiner Opposition biergcgen offenbar vergessen, in welcher Weise es sich selbst zu gunsten einer gesetzlichen Festlegung des neuen Tarifs an eben jenem 27. November geäußert bat, an dem der Antrag Karborff em» gebracht worden ist. Damals schrieb die „Sächsische Arbeiterztg." über angebliche Pläne der Mehrbeit u. a. wört lich Folgendes: „Noch stebt die Abstimmung über den ersten Absatz des tz 1 des Gesetze« aus; und hier soll der Nagel eingeschlagen werden. Man will die gefährlichen und staats rechtlichen Bedenke» dadurch aus dem Wege räumen, daß man die Worte (die auf den .folgenden Taris" verweisen) einfach eSkamotiert. An ihre Stelle soll eine allgemeine Vollmacht zu Vertragsverhandlungen für die Negierung treten, die danach auf Grundlage des bisher Beschlossenen mit dem AnSlande kontrahieren soll. Die Ge treide- und Vieh zölle bleiben in dem Gesetze, sie sind auf alle Fälle gesichert. Den Rest schenken sich die Herren. Wir sind der Meinung, daß die deutsche In dustrie deS Zollschutzcs in ihrer übergroßen Mehrheit nicht bedarf: aber daß sie so de» agrarischen Interessen aufge opfert wird, daS sollte doch den Industriellen die Augen öffnen. Die Industrie ist für die Agrarier gerade gut genug, Kompensalionsobjekt zu sein, im übrigen aber kümmern sie sich nicht darum. Und die Arbeiter? Nun, die sind dazu da, auSgebeutet zu werden. So wollen es die Junker." — Angesichts der vorstehenden Auslassung ist unbestreitbar, daß die „Sächs. Arbeiterztg." mittelbar daS Interesse der Industrie an der gesetzlichen Festlegung des neuen Tarifs em gesteht. Ein derartige« Eingeständnis steht im direkten Gegensätze zu der sozial demokratischen Obstruktion im Reichstage, die darauf abzielt, die gesetzliche Festlegung des Tarifs zu ver hindern. Die Auslassung der „Sächsischen Arbeiter ztg." steht ferner in direktem Gegensätze zu dem sozial demokratischen Anstürme wider den Antrag Kardviff. Das Dresdner Sozialisleublatt mußte von seinem am 27. November eingenommenen Standpunkte aus in dem An träge Karborff im Vergleiche mit der angeblichen Absicht der Mehrheit, das Tarifgesetz allein zu verabschieden und der Regierung die oben umschriebene Vollmacht zu erteilen, «neu Fortschritt erblicken. Denn der Antrag Kardorff ver hindert ja, daß die Industrie den agrarischen Interessen „aufgeopferl" wird. Von be,onderem Interesse ist eS, .daß die „Sächsische Arbeiterzeitung" die „Arbeiter", d h. doch wohl die Industriearbeiter, in unmittelbarem Zu sammenhang mit der von den Junkern angeblich aus geopferten Industrie bringt. Offenbar hat die „Sächsische Arbeiterzeitung" in jenen Sätzen zum Ausdruck bringen wollen, Feuilleton. Das Luch des Tages. Jör« Uhl, Roma« von Gustav Frenssen, Verlag von G. Grote in Berlin. Jörn Uhl, das Buch des Tages, von vielen Tausenden gelesen, von vielen Tausenden als einzig schön, als überwältigend bezeichnet, von einem geringen Bruch teil als maßlos überschätzt, allzu breit, ohne Lcbens- wahrheit, abgelchnt und von noch einem anderen, von der Geistlichkeit, sogar als bedenklich, wenn nicht gefähr lich vernrtcilt, denn der freimütige, derb zugreifcnde Frenssen geht gegen sie sehr scharf vor. Ihren Groll be greife ich, doch minder begreife ich den Beifall, den das Bnch bet der großen Menge findet. Diese pflegt sonst so breit ausgefnhrten Werken, breit nicht durch die Fülle der Geschehnisse, sondern durch die Fülle der Gesichter und Betrachtungen, eher aus dem Wege zu gehen. Frei lich auch die Anerbachschen Dorfgeschichten wurden trotz ihrer Uebcrsüllc von Reflexionen gern gelesen, und mit Auerbach hat Frenssen manches gemein, nur daß letzterer rauher und spröder ist und frei von jeglicher Sentimen talität. Der Gegensatz in beider nationaler Herkunft macht sich auch in ihrem schriftstellerischen Wirken bemerk lich. Die holstcinschen Bauern Frcnssens sind nicht ganz so unecht wie Auerbachs Schwarzwald-Dörfler, doch in ihren Betrachtungen nnd in dem Wortgefüge, mit dem sic jene ausdrücken, erinnern sie stark an diese. Besonders die sinnigen Frauen Frcnssens ergehen sich oft in Reflexionen, die für ihren Lebens- und Bildungsgang doch allzu weit hergctwlt erscheinen. Es sei nur an die Stelle erinnert, da des „Landmanns Tochter", die sich dem Geliebten wieder nnd wieder versagt hat, durch den Anblick der nackten Knabengestalt Fiete Krens ihre Sprödigkeit überwinden lernt. „Es kommt wie eine Erleuchtung über sic, daß diese Erscheinung nicht zu fällig daständc, sondern dahin gestellt wäre, daß sic zur Natur -urückkehrc" Dieser Vorgang entbehrt jeglicher Wahrscheinlichkeit, wie er auch sonst noch charakteristisch sür die mangelhafte Technik des Autors ist. Tao Mädchen hat mit -em Verlauf der Handlung nicht das Geringste zu tun, sie ist ohne jegliche Bedeutung für den Roman und nur in diesen hincingebracht worden, um einen flüchtigen Gedanken des Autors zu illustrieren. Einen huperromantischen Anstrich hat auch die junge „Landdeern", und cs ist Anerbachsche Romantik, wenn sie sprichtmicfvlgt: „Wir bleiben nun einmal nicht vhneSchuld. Tas Schicksal rnht nicht eher, als bis cs uns schuldig ge macht hat. Darauf kommt es an, daß du trotz der Schuld den Glauben an das Gute fcsthältst und Liebe und Treue nicht aufgibst. Schuldig sein und den Kampf um das Gute aufgcbcn, das ist der Tod. Schuldig sein und doch für das Gute streiten, das ist rechtes Menschenleben." Bei allem Respekt vor dem Grnbelsiiin der dithnmrscher Bauern und der ungewöhnlichen Bildung, die die meisten sich angeeignct haben mögen: ein „Landmädchen" von solchem Ethos und der Fähigkeit, ihre Gedanken in einem Stile von so klarem und schönem Gefüge aus zudrücken, kann ich mir doch nicht vorstcllen. Nun hat der Schriftsteller zweifellos das Recht, seine Figuren zu idealisieren, doch dann gehören sic auch in ein idealisiertes Milien hinein und dürfen nicht, wie das bet Frenssen der Fall ist, für sich, außerhalb der realistischen Kreise sichen, die der Alltor sonst zu ziehen beliebt. Frenssen erinnert an Auerbach; er hätte lernen können von Jeremias Gotthelf, dem Schöpfer der klassischen Bauernromanc „Uli der Knecht" und „Uli der Pächter". Auch in diesen stellen die Bauern und ihre Frauen Betrach tungen von philosophischer Tiefe an, aber sic beschränken sich damit ans die natürlichen Grenzen ihrer Er fahrungen und eigenen Beobachtungen und bedienen sich als Ausdrucksmittcl der ihnen natürlichen Sprache. Bon Gotthelf sagt ein verständnisvoller Beurteiler: „Wie bei Homer, ist nicht das, was geschieht, das eigentlich Wirk same, sondern cs ist die wundersame Harmonie des Ge schehenden mit den Charakteren der handelnden Per sonen, mit ihrer Umgebung, mit den begleitenden Um ständen in Haus und Familie und in der Natur — kurz, jene Wahrhaftigkeit, die dem Dichter auf Schritt und Tritt I zuflüstert, was unter so veränderten Verhältnissen mit Naturnotwendigkeit vor sich gehen muß". Diese „Har monie des Geschehenden", diese innere Wahrhaftigkeit aber vermisse ich bei Frenssen. Wie viele seiner Figuren nur das Echo seiner eigenen, bei vielleicht ganz fern ab liegenden Gelegenheiten geweckten Reflexionen sind, so handeln auch viele von ihnen nicht nach den oben an- gcsiihrten Motiven, sondern nach Erwägungen, die mit jenen in keinem Zusammenhänge stehen. So vertritt Frenssen in seinem Roman die Auffassung, daß eine ans Familiensinn übernommene Verpflichtung den Menschen nicht nur unfrei mache, sondern ihn auch seelisch schädigen könne. Jörn Uhl hat das von seinem Vater und seinen älteren Brudern vernwhrlvstc, seit langem der Familie zugehörige Bauerngut mit eigener Kraft zu erhalten und wieder cmporzubringcn gesucht, obgleich Neigung uud Begabung ihn einem anderen Berufe zudrängen. Aber er unterdrückt beides ans Pflichtgefühl, ans Pietät- Doch ans seinem Unterfangen ruht kein Segen; er vermag das Gut trotz aller Gewissenhaftigkeit und allen Fleißes nicht zu halten, was übrigens von dem Autor keineswegs glaubhaft motiviert ist, und schließlich brennt es noch ab. Jörn aber empfindet dieses Unglück nur als ein Glück, cs durchbraust ihn wie ein Anfjauchzen, daß er mm frei ist von der „Uhl", von der Uhl, von der er geglaubt hat, cs wäre seine Lebensaufgabe, sic festznhaltcn. „Ich habe in schrecklich großer Arbeit gestanden, wie ein Pferd am Zicglcrgöpel und habe in greulich harten Sorgen gesessen. Aber die Uhl, was ist die Uhl? Was ist die Uhl gegen meine Seele ? Mir ist die Seele hart geworden, wer heilt mir die Seele wieder?" Und da frohlockt er denn ob deo Schicksalsschlagcs, der die Last von seiner Seele genommen hat. Aus diesem Gedankengange aber vermag iä> dem Autor nicht zu folgen, an die Wahrhaftigkeit dieses Vildeo glaube ich nicht: der Bauer, der von Kindheit au mit dem Boden, der Umgebung, dem Viel, und de» Mensche» seines Heiinatsgutcs verwachsen ist, der alle Kraft daran gesetzt hat, cs sich und de» Seinen zu erhalten, der steht vor dem Zusammenbruche deoseiben, iveuu er ein natürlich empfindender Mensch ist, nicht mit Froh locken, sondern mit Trauer und Weh. Hier wächst die Reflexion der naive» Raturkraft über den Kopf, und doch scheint cs, als wolle der Autor vom Beginn der Ge schickte gerade für diese Naturkrast seines Helden Inter esse wecken, sie als das Besondere an ihm hinstellen. Früh mutterlos geworden, von seinem immer mehr ver kommenden Vater vernachlässigt, von seinen Brüdern verspottet, folgt Jörn einzig der Eingebung seines natür lichen Gefühls für die alte Heimat, indem er alle anderen Pläne aufgibt, nur jener seine Kraft und sein Wollen widmet. Der Leser nimmt Anteil an dieser Energie, er bewundert den Helden deohalb, und dann, zu guterletzt, muß er seine Meinung plötzlich ändern, muß er, was ihm beivunderungsivert erschienen ist, plötzlich als Irrtum an schauen. Diese Wendung kommt ganz unerwartet nnd er scheint mir als eine rein willkürliche, nur erwählt, weil sie dem Autor einen „guten" Schluß ermöglicht. Jörn braucht nicht mehr Bauer zu sein, er kann jetzt studieren. Techniker werden, Bücher schreiben. Doch da» allco hätte er eigentlich schon früher gekonnt; wenn er sich dock, innerlich so schnell und leicht mit dem Verlust seiner Heimstätte absaud, dann bedurfte cs ivolil kaum noch der äußerlichen Umstände, der Hupothekenkündigiing, deo Brandes, um ihn von seinen Verpflichtungen zu erlösen. Meinem Gefühle- nach drängt das ganze Buch einem tragischen Ausgange zu; der Uebermut, die Völlerei und Genußsucht der Alte» hat den Gruud zu allem Nebel ge legt, die Junge« brechen unter der Väter Schuld zu sammen. Jörn Uhl, der „lateinische" Bauer, kann das von den Vätern ererbte Gut nicht erwerben, um cs zu besitzen, und erliegt dem Konflikt zwischen seinem Wollen und seinem Vollbringe». Doch dieser tragische Abschluß hätte dem Erfolge des Buches bei der großen Menge vielleicht im Wege gestanden, und dieses Erfolges kann man sich immerhin freuen. Das Werk bereichert die Vorstellung mit mancher eigenartig erdachten Figur und gibt dem Denken neue Anregung durch viele sinnige und originelle Einfälle. Besonders seine Natnrmalcrei ist dem Autor gut gelungen; sie übt etwas von dem prickelnden, erfrischenden Reiz der Nvrdscelust ano, Salz gehalt ist ihr ivie dieser eigen, und der wirkt derbe, aber auch wohltuend ans Körper und Geist. Dieser Salzgehalt wird « denn auch sein, der dem Buche tausendfache Freundschaft zngewandt hat: die Nordseekiinc nnd ihre Bewohner haben'« dem Binnenländer nun mal an getan. M. Uhse.
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