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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 08.09.1903
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1903-09-08
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19030908021
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1903090802
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1903090802
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
- Monat1903-09
- Tag1903-09-08
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Tabellarischer und Ziffernsatz entsprechend höher. — Gebühren für Nachweisungen und Offertenannahme 25 H (excl. Porto). Extra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung ./L 60.—, mit Postbeförderung 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abrnd-AuSgabe: Vormittag- 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Die Expedition ist wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis abends 7 Uhr. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. Nr. 457. Dienötag den 8. September 1903. 97. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 8. September. Unbeabsichtigte Bereicherung des sozialdemokratischen Agitationsmaterials. Man kann sich des bedauerlichen Eindrucks nicht er wehren, das; gerade in letzter Zeit trotz des Anwachsens der Sozialdemokratie von behördlicher Seite Maßnahmen ge troffen werden, die zum mindesten als nicht geschickt zu be zeichnen sind und lediglich der sozialdemokratischen Agi tation neues Agitationsmaterial zuführen. Ein solcher Mißgriff liegt, wenn die Darstellung des „Vorwärts" sich bestätigt, zweifellos in der Verhaftung des sozialdemo kratischen Berichterstatters Nehbein vor. Nach Darlegung des „Vorwärts" handelt es sich um, folgende Tatsache: Durch den pp. Rehbein ging dem „Vorwärts" die Schilderung eines Soldaten über erlittene Mißbandlungen in einem Berliner Gardc-Regimente zu. Der „Vorwärts" veröffentlichte den Inhalt dieses Brieses nicht, sondern wandle sich an den Obersten des betreffenden Regiments zur Untersuchung der Angelegenheit. Der Oberst stattete brieflich der Redaktion des „Vorwärts" für die Mitteilung seinen Dank ab, erklärte aber, eine Untersuchung nicht sübren zu können, ohne den Namen des direkten Urhebers der Mitteilung zu wissen. Die Nennung lehnte sowohl der „Vorwäris", als auch der Bericht erstatter Nehbein, der vor einigen Wochen vor das Militär gericht zitiert wurde, ab. Nnn soll, wie der „Vorwärts" schreibt, der pp.Rehbein am Sonnabend Vormittag im Bett verhaftet worden sein, um durch Haft gezwungen zu werden, den Namen des betreffenden Soldaten zu nennen! Auch wer, wie wir, das ZeugniSzwangsverfahren nicht unbedingt verwirft, wird seine Anwendung unter solchen Umständen tief beklagen müssen. Freilich handelte der Berliner Soldat vorschriftswidrig, als er seine Beschwerde brieflich dem „Vorwärts" mitteilte, anstatt auf dem vorschriftsmäßigen militärischen Wege Be schwerde zu führen. Aber va der „Vorwärts" den Beschwerde brief nicht veröffentlichte, sondern durch seinen Mitarbeiter dem Regimentskommando von den Beschwerden — selbstverständlich odne Nennung deS NameuS — Mitteilung machte, so hätte daS Negimentskommando wohlgelan, wenn es die Untersuchung ein geleitet, die Frage nach der Person des Beschwerdeführers zcboch nicht gestellt hätte. Die Redaknon des „Vorwärts" hatte, wie man ihr wohl allgemein zugestrhen wird, aus nahmsweise ganz korrekt gehandelt, indem sie sich zuerst an die kompetente militärische Stelle wandte; ein solches Ver fahren ist teu Sozialdemokraten von der Reichstagstribüne herab sogar empsvhlcn worben! Die Angabe des Regimenls- lommandos, daß es ohne die Kenntnis des Namens des Sol daten die Untersuchung nicht führen könne, gibt dem „Borwäi lS" lediglich zum Ausdrucke des Zweifels Anlaß, ob eS den Militär behörden mit der Beseitigung oon Mißständen ernst sei. Indessen würbe der Verzicht auf die Einleitung einer Untersuchung bis zur Namhaftmachung deS beschwerdcfübrenden Soldaten im vorliegenden Falle immer noch weniger ins Gewicht gefallen sein, als die VeiHaftung des Sozialdemokraten Nehbein wegen Zeugnisverweigerung. Glaubte die Militärbehörde durch ihr Vorgehen den Soldaten den Weg zu einem sozialdemokratischen Blatte versperren zu können,sowirdder AuSgang dieseSZeugniS-1 zwangSverjahrenS die überhaupt in betracht kommenden Sol-1 baten in der Ueberzeugung bestärken, daß sie ohne Sorge für I ihre eigene Sicherheit sozialdemokratischen Blättern Beschwerden mitteilen können. Glaubte ferner die Militärbehörde, durch ihr Verfahren der privaten Beschwerdesührung sozialdemo kratischer Blätter vorzubeugen, so leuchtet die Unzweckmäßigkeit auch dieses Standpunktes ein. Denn die Behandlung mili tärischer Beschwerden in Parlament und Presse bleibt der Sozial demokratie auch in Zukunft unbenommen, und es wird sich nicht in Abrede stellen lassen, daß sie auf dem letzteren Wege agitatorisch besser abschneidet, als bei einem direkten Verkehr mit den Militärbehörden. Angesichts solcher Erwägnugen kann man sich der Ueberzeugung nicht verschließen, daß die Einleitung deS Zeugniszwangsverfahrens gegen den „Ge nossen" Nekbein hätte unterlassen werden sollen. Der sozial demokratische Parteitag in Dresden, der um ein Agitations- mitiel reicher geworden ist, wird zeigen, wie willkommen den „Genossen" der neue Fall ist. Schutz -er Arbeitswilligen. In Zuschriften, welche der „Post" aus ihrem Leserkreise zugeben, wird immer wieder auf die Notwendigkeit eines gesetzlichen Schutzes der Arbeitswilligen hingewiesen. Wir müssen gestehen, so meint daS genannte Blatt, daß wir uns ebensoviel und mehr von einer entsprechenden Arbeitgeber organisation versprechen, die als ein privates Unternehmen der privaten Solidarität der Arbeiter gegenübersteht. Außer dem ist die Gesetzgebung bezüglich der anzustrebenden Ziele immer beschränkt durch ihre Aufgabe, der Allgemeinheit zu dienen, während eine Arbeitgeberorganisation nur ihre Inter essen zu vertreten hat und sie selbstverständlich ebenso rücksichtslos vertreten muß, wie die Sozialdemokratie die ihren. Doch ist selbst verständlich auch ein gesetzlicher Schutz anzustreben, da die vorhan- deneu Gesetze in keiner Weise auSreichen. Wo Bedrohungen und Mißhandlungen vorkommen, da tritt natürlich eine Bestrafung ein, notL dens wenn man den Täter seststellt. DaS ist aber bei der ausgesprochenen Solidarität der Sozialdemokratie in den meisten Fällen unmöglich. Derartige Zwangsmaßnahmen, selbst wenn sie in Körperverletzungen ausarten, sind in den Augen der Genossen durchaus nichts Schlechtes, da sie dock der „guten Sache" dienen. Man muß sich darüber klar sein, daß wohl nirgends so skrupellos nach der jesuitischen Lehre, der Zweck heilige die Mittel, verfahren wird, wie bei der Sozialdemokratie. Als Beweis dafür fübrt die „Post" nach stehenden Fall an, der sich in Kassel zugetrazen hat: Weil er sich am Ausstande nicht beteiligen wollte, ist hier ein Tischlergeselle von den streikenden Kollegen arg mißhandelt worden. Er war in der Werkstatt seines Meisters emsig bei der Arbeit, als unvermutet mehrere Ausständige hereindrangen und den Ahnungslosen mit ihren Stöcken derart bearbeiteten, daß er erhebliche Verletzungen am Kopfe davontrug und blutüberströmt sich in ärztliche Behandlung begeben mußte. Hier ist das Eharakleristiscke, daß der Ueberfall gar nicht auf persönlichen Haß zurückzusühren ist, sondern daß die be treffenden RowdieS glaubten, im Interesse einer guten Sache so handeln zu dürfen, und daß sie, wenn sie bestraft werden, von ihren Gesinnungsgenossen noch als Märtyrer gefeiert werden. Die Neigung aber zu einem cerartigen Märtyrertum muß ihnen durch eine entsprechende Strafe, die einen entehrenden Charakter tragen muß, ausgetrieben werden. Aber auch hier muß man den wichtigeren Teil der privaten Organisation der Arbeitgeber überlassen, sagt die „Post" weiter, da der bei weitem größte Teil derartiger Zwangsmaßregeln der Arbeiter sich gesetzlich nicht fassen läßt. Wer in Fabrikbesitzerkreisen bekannt ist, der weiß, daß die zielbewußten Genossen den Arbeitswilligen gegenüber noch über eine ganz andere Anzahl von Mitteln verfügen, die für sie völlig gefahrlos sind. Und diese Mittel werden durchgehends dort angewandt, wo man mit der brutalen Gewalt nicht durchkommt. Gewöhnlich läßt man einen derartigen Mißliebigen so oft verunglücken, bis er tot ist, oder seiner Wege geht, oder sich bekehren läßt. Hier ist aber die Absicht nur in den wenigsten Fällen nachzuweisen und dementsprechend auch keine Bestrafung herbeizuführen. Dafür ist eS aber eia offenes Ge heimnis in der ganzen Werkstatt und eine wirksame Be lehrung für solche Leute, die sich immer noch nicht von der Richtigkeit der sozialdemokratischen Lehre überzeugen lassen wollen. Für den jeder „Freiheit" hohnsprechenden Terroris mus der Sozialdemokratie lassen sich täglich neue Beweise sammeln. Heercskeorganisation in England. Revisionen und Kommissionen sind in England an der Tagesordnung, um einer Gesundung und Besserung der inneren Verhältnisse den Weg zu ebnen. So wurde auch unmittelbar nach der Veröffentlichung des Berichtes über den südafrikanischen Krieg die Einsetzung einer Kommission gefordert, die etwa vorhandene weitere Schäden des Heerwesens feststellen und ihre Beseitigung hcrbciführen sollte. Ta aber solche Kommissionen er fahrungsgemäß etwas langsam arbeiten, hat die Armee-Liga die Agitation für eine eingehende Unter suchung der Heeresreorganisation in die Hand genommen. In der ersten Hälfte des Oktober wird in London unter der Leitung des Vorsitzenden der Liga, Lord Blythswood, eine öffentliche Versammlung abgehalten werden, zu der zahlreiche Parlamentarier un- Militärs ihr Erscheinen zugesagt haben und auf der die Bildung einer großen und einflußreichen Parteigruppe zur Vertretung der Reformvvrschlüge im Parlament vorbereitet werden soll. Letztere betreffen folgende Punkte: Bildung eines Reichs generalstabes, Gewähr für die taktische Befähigung der höheren Offiziere durch Beibringung entsprechender Nach weise, bevor sie in höhere Kommandvstellen berufen wer den, Errichtung von Schulen für Unteroffiziere und Um wandlung der Miliz und der Neomanry in tatsächlich vorhandene Reserven. Es ist ersichtlich, daß diese Forde rungen nicht ohne erhebliche Kosten verwirklicht werden können. Indessen hat die Liga in wohlver standener Abschätzung der Volksstimmnng in England, wo die Kriegssteucr und die Kosten des letzten Krieges noch nicht vergessen sind, durch ihren geschäftsführenden Di rektor Gilbert Parker erklären lassen, daß zur Durch führung der von der Liga angestrcbten Neuerungen Mehrausgaben tunlichst vermieden werden sollen. Zu gleich ist wieder einmal die Einführung der allge meinen Dienstpflicht in Vorschlag gebracht wor den. Auch in dieser Frage haben die Leiter der Liga den Wünschen der Mehrheit der Nation Rechnung ge- tragen, wenn sie diese Anträge vorläufig abgelehnt und nur insoweit Konzessionen gemacht haben, daß versucht werden soll, auf dem Wege einer Volksabstimmung di« öffentliche Meinung in dieser Frage festzustellcn. In Verbindung mit der vom Kriegsamte kundgcgebenen Ab sicht, durchgreifende Aenderungen des Heerwesens in Ausbildung und Organisation «intreten zu lassen, ist da-1 her eine Fortdauer der englischen Reformbestrebungen auch auf diesem Gebiete zu erwarten. Die Gegenrevolution in Serbien. Die Gegensätze im serbischen Offizierkorps stehen sich nach wie vor in unverminderter Schärfe gegen über. Die Verhaftungen in der Nischer Garnison haben zwar di« an der Ermordung des früheren Königspaares unbeteiligten Offiziere zu keinerlei Unbesonnenheiten ver leitet, aber das terroristische Gebaren der Günstlinge des Königs Peter scheint seitdem an Schroffheit nur noch zu genommen zu haben. Die Rücksichtslosigkeit dieser Ele mente gegen das sich wider sie erhebende Gros des Offizier korps kennt nachgerade gar keine Grenzen mehr. Dem ,-Berliner Lok.-Anz." wird darüber aus Semlin, den 7. September, berichtet: Weit entfernt, vor der drohenden Gefahr eines Gemetzels zurllckzuweichen, suchen die Ver schwörer vom 11. Juni sich in ihrer ungebührlichen Macht stellung zu befestigen. Ihre Häupter halten täglich Be ratungen ab, die mit den Ministerberatungen parallel laufen und auf diese einen verhängnisvollen Einfluß aus üben. Von vier Mitgliedern des Kabinetts Awakumo- witsch, von denen einige Mitwisser der Ermordung des Königs Alexander waren, werden sie offenkundig unter stützt; die übrigen Minister stehen unter ihrem Terroris mus. König Peter wagt es gleichfalls nicht, gegen sie auf zutreten. In Belgrad fand ein mehrstündiger Minister rat statt, in welchem über etwaige weitere Verhaftungen beraten wurde, da es festgestellt zu sein scheint, daß sich von den 1300 serbischen Offizieren über 900 der Aktion gegen die Verschwörer angeschlossen haben. Natürlich wird einst, weilen nur gegen die Rädelsführer vorgegangen. Die ehemaligen Verschworenen fordern die Verhaftung des Generals Ma g d a l« n i t s ch, der in der Armee einen großen Einfluß besitzt, und des früheren Kricgsministers Milosch Wastitsch. Die Enthebung des verdächtigen Divisionskommandanten in Nisch, Generals Bozidar Iankowitsch , der sich bisher weigerte, sein Kommando abzugeben, wurde beschlossen und wird, wenn nötig, mit Gewalt auägcfübrt werden. An seiner Stelle soll General Djuknitsch, der einzige General., der neben dem kürz lich zurückgetretenen Kriegsminister Atanazkowitsch an -er Verschwörung des 11. Juni beteiligt war, zum Divisions- kommandanten in Mich ernannt werden. Das läßt nichts Gutes ahnen. Die Meldung des Wiener Korrespondenz bureaus, die in Nisch verhafteten Offiziere seien in Frei- heit gesetzt, ist unwahr. Deutsches Reich. * Leipzig, 8. September. In einer auswärtigen Kor respondenz wird jetzt wieder der Rücktritt Sr. Excellenz des Neichsgerichtsprüsidenten vr. von O«hl- schlaeger als nahe bevorstehend bezeichnet. Nach unseren Feststellungen bestätigt sich dies nicht; es sind jetzt noch keinerlei Abmachungen in dieser Beziehung getroffen worden, obwohl das Augenleiden, an dem Se. Excellenz vor längerer Zeit erkrankte und das ihm naturgemäß in mancher Beziehung hinderlich ist, sich als hartnäckiger erweist, als selbst die Aerzte anfangs annahmen. Die neuerliche Darstellung der auswärtigen Korrespondenz beruht im wesentlichen auf Kombination. Berlin, 7. September. (Abänderung der Maß- und Gewichtsordnung.) Wir haben be- Feiiilletsn. vj Ingeborgs Kinder. Roman von MargareteBöhme. Naükrukk verboten. Gegen acht Uhr fuhr der Zug in die Halle des Altonaer Bahnhofes ein. Auf ihre Erkundigung erfuhr sie, daß der Berliner Zug erst nach Mitternacht abfahre; sie hatte also reichlich vier Stunden Aufenthalt, und diese Zeit wollte sie zu einer Spritzfahrt nach Hamburg benutzen. An der Haltestelle, dicht hinter dem Bahnhofsgebäude, bestieg sie ein« elektrische Straßenbahn, um aufs Gerat«- wohl durch Altona und ein Stück in Hamburg hinein zufahren. Zum ersten Male war sie in einer großen Stadt. Mit neugierigen, leuchtenden Augen blickte sie durch die mäch tigen geschliffenen Fenster des Wagens in das bunte, ge räuschvolle Straßenleben. Etwas von dem naiven Ent zücken des Kindes, das zum ersten Male auf den Jahr markt geht und mit staunenden Augen alle die Herrlich keiten betrachtet, überkam sie beim Anblick des ge schäftig aus- und abflutenden Mcnschenstromes, der präch tigen Schaufensterauslagen, des vhrbetäubcndcn Ge raffels und Geklingels der Droschken, EgNipagen und Straßenbahnen und der neuesten Reklame, die über die Firste der Gebäude „Mellins Food" und „Stollwercks Schokolade" der schaulustigen Menge abwechselnd in dunkelroter, blauer, grüner und weißer Beleuchtung vor Augen führte. An einer Haltestelle, wo viele ausstiegcn, verließ sie auch den Wagen. Der Schaffner l-atte „Langereihe St. Pauli" gerufen. Eine breite Straße, an beiden Seiten längs -en Häuserreihen weite Trottoirs und Alleen; die letzteren schon ganz entlaubt. Das Menschen gewühl war hier bedeutend dichter als in den anderen Straßen; alles drängte in die glänzend erleuchteten Etablissements, von denen sich eins an das andere reihte: Theater, Panoptikum, Restaurants, CaföS, Singspiel, hallen, Konzertchäuser und Varietes. Der eisige Nordmestwind machte den Aufenthalt im Fr«ien auf die Dauer unangenehm. Thyra ließ sich eine Strecke von -en Menschenwog«n mit forttreiben, dann spürte sie plötzlich den lebhaften Wunsch, sich -as Innere der strahlenden Hallen anzusehen. Ohne Zaudern, nur von dem Wunsche erfüllt, recht viel neue Eindrücke in sich auszunehmen, trat sie in das von elektrischem Lichte durchflutete Vestibül -es nächst besten Etablissements, an dessen Fronte lange Anschlag zettel ein Konzert der ungarischen Nationalkapellc mit internationaler Damenbedienung bei 20 Pfg. Entree verhießen. Ein Portier in goldstrotzender Gala nahm den Obolus in Empfang und deutete, als Thyra etwas ratlos um sich blickte, mit einer eleganten Hand- bcwegung nach der breiten Treppe im Hintergründe. Eine prickelnd fenrige Musik, die von oben herab ihr entgegentönte, zeigte ihr den weiteren Weg. Die Treppe mündete direkt in das große Konzertlokal. Die Mitte der Fensterwand wurde von dem Podium ein genommen, aus dem das Orchester plaziert war. Die Musiker, etwa 30 an der Zahl, trugen die kleidsame, halb an eine Uniform, halb an eine Livree erinnernde Nationaltracht: enge, dunkle Beinkleider mit dem gold- tressenverschnürten, knapp anliegenden roten Tuchrock. Das große Lokal war dicht gefüllt mit Besuchern, die teils auf parallel an -en Wänden gestellten Divans, teils an kleinen Tischen ihre Aufmerksamkeit zwischen Kunst- und materiellen Genüssen teilten. Eilig umherhuschende Kellnerinnen in knisternd gestärkten weißen Schürzen und kunstvollen Frisuren versorgten -as Publikum mit Getränken und kalter Küche. Thyra fand dicht neben dem Eingänge aus einein der lederbezogenen Divans Platz. Ihr gegenüber saß ein Pärch«n, das unter dem Tische verstohlene Händedrücke und über die Gläser bayerischen Bieres feurig schmachtende Sehnsuchtsblicke wechselte. Das neue vis-L-vis schien die Leutchen zu genieren, sie warfen der Fremden indignierte Blicke zu und als diese nicht darauf reagierte, tranken sie ihr Bier aus und gingen. Thyra bemerkte es kaum, daß sie die beiden vertrieben hatte. Die fremde Welt, in die sie heute den ersten Schritt tat, fesselte in ihrer Gesamtheit ihre Aufmerksamkeit in so hohem Grade, daß sie den einzelnen Erscheinungen nur wenig Beachtung schenkte. Vorläufig sah und hörte sie nichts, als ein unruhiges Gewoge von Menschen, ein leises Summen und Sirren von flüsternden Stimmen und ge dämpften Lachen und darüber die heißen, prickelnden pikanten Weisen der ungarischen Streichmusik. Sie hatte sich ein Glas Bier und ein belegtes Brödchen bestellt. Als die Kellnerin es brachte und sie bezahlte, bemerkte sie erst, daß auf dem Platze, den das verliebte Pärchen verlassen hatte, ein Herr laß. -er sie durch die blitzenden Gläser seines Kneifers aufmerksam beobachtete. Sie wandte das Gesicht ab, aber die sie un ausgesetzt fixierenden Blicke des Fremden hypnotisierten sie förmlich, so daß sie, wider ihren Willen, ihn: wieder -as Gesicht zuwenden und ihn anfehen mußte. Er war nicht jung mehr, auch noch nicht alt, vielleicht so in -ie vierzig hinein. Seine hohe weiße Stirn verlor sich nach hinten in einen vollständig haarlosen, glänzend weißen Schädel, den nur nach unten ein spärlicher Halbkranz von weißen Haaren umrahmte. Das scharfgeschnittene geistreiche Gesicht mit frischen Farben und funkelnden dunklen Augen kontrastierte seltsam mit den Kriterien des Alters. Ein kleiner rötlicher Schnurrbart beschattete den feinen Mund, dessen Form und Ausdruck dem Gesicht etwas Ironisches gab. Seine Kleidung war elegant, doch nicht stutzerhaft. Auffallend schön waren die. schnee weißen, sorgfältig gepflegten Hände deS Mannes. Was mag er nur an mir haben? Weshalb sieht er mich so an? dachte Thyra verwirrt, und als sie wieder -em zugleich forschenden und fragenden Blicke begegnete, schoß eine jähe Glut in ihre Wangen. Bis zu diesem Moment war es ihr nicht eingefallen, daß -ie Anwesen heit eines jungen Mädchens ohne Begleitung in diesem Lokal auffallend und zu allerhand wenig schmeichelhaften Schlüssen aus ihre Persönlichkeit Anlaß geben könnte; erst das halb wohlwollende, hakb ironisch« Lächeln -cs Fremden und seine fragenden lachenden Augen riefen ihr diesen Umstand ins Gedächtnis und erweckten zugleich den brennenden Wunsch in ihr, seine Meinung zu korri- gieren. Er baute ihr selbst eine Brücke, indem er ihr ein Pro gramm überreichte: „Nummer vier", sagte er, „die Musik ist eigenartig hübsch, nicht wahr?" Thyra nmrf einen flüchtigen Blick auf das Blatt und gab cs zurück. „Danke bestens. Ich gehe doch gleich wieder; höchstens, daß ich noch dieses Stück zu En-e höre . . . Ich bin auf der Durchreise . . .", setzte sic zögernd hinzu. „Ich wollte mir Hamburg ein wenig arischen und fiel deshalb en galant hier herein . . ." „Na, das ist doch eigentlich gerade kein „Sereinfall"", lachte der Herr, „die Musik lohnt sich des Anhörcns. Ich bin übrigens auch auf der Durchreise. Sic sind heute erst angekommen?" ,L?or einer Stunde. Und ich reise die Nacht noch weiter — nach Berlin." „Das trifft sich seltsam. Ich benutze nämlich auch den Berliner Nachtzug. Darf ich mich Ihnen bekannt machen: Doktor Kronau." Thyra nannte ihren Namen. Der Fremde führte die begonnene Unterhaltung weiter. Anscheinend unab sichtlich, ganz unauffällig und auf Umrvegen stellte er Fragen und erfuhr so nach und nach alles, n>as ihm in Bezug auf die Person seines lieblichen Gegenübers wissenswert erscheinen mochte. Thyra merkte kaum, daß sie ausgefragt wurde. Mit einer Naivität und Treu herzigkeit, in der sich ganz die Kleinstädterin dokumcn- tirtc, erzählte sie dem fremden Herrn von ihrem Beruf, von den Kämpfen, die sie deswegen schon durchgemacht und von ihren Hoffnungen und Erwartungen betreffs der Zukunft. „So, so, Schriftstellerin sind Sie . . . Also eine Kollegin", sagte Doktor Kronau. „Ich gehöre auch zu der Kaste der Tintenkulis: Zcitungsmensch ... Journalist." Er lachte «in wenig und fuhr dann in seiner nach lässigen, schleppenden Weise fort zu sprechen. Er hatte den Feldzug nach China als Berichterstatter einiger aus ländischer Zeitungen mitgemacht und war erst vor kurzem nach Deutschland zurückgckehrt. Für die nächste Zeit hatte er in Berlin zu tun. Vielleicht könnte er der jungen Kollegin durch seine vielen Verbindungen mit Zeitungsredaktivncn gefällig sein. Wenn sie ihm ge legentlich einige ihrer Arbeiten zuschicken wollte ... Er stieg vorläufig im Zentralhotel ab. Thyra nahm das Anerbieten dankbar an. Die Unter- bringung der Manuskripte war ja immer das schwierigste. Ihren Roman hatte sie bei sich, das heißt natürlich in ihrem Koffer. Ja, wenn sie den verkaufen konnte... „Wir wollen sehen. Die Sache wird sich schon machen, ttebrigcns da uns ein freundlicher Zufall hier zu- sammenwehtc, werden wir — mit Ihrer gütigen Zu stimmung — -och die paar Stunden bis zur Abfahrt bei sammen bleiben, nicht wahr? Wenn Sie gestatten, zeige ich Ihnen noch in aller Eile ein bißchen Hamburg. Mir altem Onkel dürfen Sie sich schon anvertraucn", sagte er scherzend. „Aber davvn abgesehen, ivcrden Sie als Künstlerin in dieser Hinsicht vollständig vorurteilslose Gesichtspunkte beobachten. Ist eS Ihnen also recht, wenn wir jetzt ausbrcchen?" Thyra kämpfte mit einer kleinen Verlegenheit, bevor sie sich bereit erklärte. Sie wurzelte doch noch zu sehr in Ingeborg Juppersens Erziehung, um nicht zu empfinden,
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