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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 10.09.1903
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1903-09-10
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19030910029
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1903091002
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1903091002
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
- Monat1903-09
- Tag1903-09-10
- Monat1903-09
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Man hat in den letzten Jahren so viel von den nationalen Verdiensten des Zentrums gesprochen, und es ist wahr, ver schiedene Gesetzgebungswerke von einschneidender Bedeutung für die Machtstellung des Reichs würden ohne die Mitwirkung dieser großen Partei nicht zu stände gekommen sein. Nicht minder aber ist wahr, daß an anderen Punkten das Zentrum bis auf den heutigen Tag ein unüberstciglicheö Hindernis notwendiger Reformen geblieben ist. Vor allem ist zu be klagen, daß es sich einer gesunden ReichSfinanzreform hart näckig widersetzt hat. Diese Reform ist unbestreitbar eine nationale Frage ersten Ranges. Es handelt sich um das seit Errichtung unserer bundesstaatlichen Verfassung bestehende Problem, das Reich finanziell selbständig zu machen. Dabei ist aber, wie der „Schwab. Merkur" sehr zeitgemäß in Er innerung bringt, recht merkwürdig, wie die Gesichtspunkte für die Beurteilung dieser Angelegenheit sich im Laufe der Jahre verschoben haben. Ursprünglich schien es für das partikularistische Interesse der Einzelstaaten vom größten Werte zu sein, das Reich in finanzieller Abhängigkeit von den letzteren zu erhalten, und so wurde gelegentlich der Zollreform von 1879 auf Betreibe» des Zentrums die anfangs nur als Notbehelf gedachte Einrichtung der Matrikularbeiträge durch die sog. Franckenstein sche Klausel zu einer Art Funda mentalinstitution gemacht. Man wollte damit die Macht der Einzelstaaten gegenüber dem Reiche stärken, insbesondere den aus den Zollerhöhunacn zu erwartenden Einnakmesegen, statt in die Taschen des Reichs, in die der Einzelstaaten fließen lassen. In gewisser Beziehung begegnete sich dieser Zentrums gedanke mit den Wünschen des Fürsten Bismarck, der es wiederholt als sein finanzpolitisches Ziel bezeichnete, daß das Reich nicht mekr der Kostgänger, sondern der reich liche Versorger der Einzelstaaten sei. Nur hatte sich Bis marck das Verhältnis so gedacht, daß durch die Erhöhung der eigenen Einnahmen des Reichs das Bedürfnis nach Matri- kularbeiträgen vollständig zu beseitigen und die in der Reichs finanzwirtschaft sich ergebenden Ucberschüsse an die Einzel staaten zu verteilen wären. Die partikularistische Angst vor dem Zentralismus aber ging darauf aus, eine wirklich selb ständige Reichssinanzwirtschaft überhaupt unmöglich zu machen. Naturgemäß dem Reiche zustehende Einnahmen wurden demselben vorenthalten und in die Kassen der Einzel staaten geleitet, während das Reich darauf angewiesen blieb, zur Deckung seiner wachsenden Bedürfnisse bei den Einzel staaten betteln zu gehen. Wegen dieser durch die Francken- steinsche Klausel beabsichtigten Knebelung des Reichs haben damals die N ationa llibera le n gegen die ganze Zollreform gestimmt. Fürst Bismarck nahm die Sache weniger tragisch, er hegte die Zuversicht, daß die Einzelregierungen dem Reiche nicht versagen würden, was es zu seiner aedeilichen Weiter entwicklung bedürfte. Und er hat Recht behalten. In staatsrechtlich-politischer Beziehung ist die Franckcn- steinsche Klausel ohne die von nationaler Seite befürchtete Wirkung geblieben. Unheilvoll aber hat sie sich in finanzpolitischer Beziehung erwiesen. Sie sollte nach dem Willen ihrer Urheber für die Einzelstaaten eine Wohl tat sein und ist ihnen zu arger Plage geworden. Eine Reihe von Jahren gab es große Ueberschüsse der Ueberweisungen über die Matrikularbeiträge. Die partiku laren Finanzverwaltungen schwammen im Ueberfluß; man er sann allerlei mehr oder weniger luxuriöse Verwendungs zwecke und lud sich, was schlimmer war, auch dauernde Aus gaben auf, als ob die betreffenden Einnahmen für die Ewig keit gesichert wären. Im Reiche aber gewöhnte man sich gleichzeitig mit unglaublicher Leichtherzigkeil an das Schulden machen. Dann kam der Rückgang der Einnahmen und die kolossale, aber unausweichliche Steigerung der Ausgaben im Reiche, zuerst für das Landheer, dann für die Flotte, nebenher für die Arbeiterversicherung usw. Die Matrikularbeiträge überstiegen wieder die Ueberweisungen, die einzelstaatlichen Finanzverwaltungen gerieten in wachsende Verlegenheit, und vor allem erschwerten die starken Schwankungen in den Ueberweisungen und die Unberechenbarkeit der Reichsbedürf nisse eine gewissenhafte, vorausschauende Finanzwirtschast in den Einzelstaaten aufs äußerste. Nicht die nationalen Par teien, sondern die partikularen Finanzminister waren es, die jetzt nach einer Reichsfinanzreform rrefen. Nicht Unab- hängigmachung des Reichs von den Einzelstaaten, sondern Unabhängigmachung der Einzelstaaten vom Reiche war ihre Losung. Die Politik der Franckenfteinschen Klausel hatte Fiasko gemacht, aber das Zentrum, das für sie die Verantwortung trug, lehnte es ab, den Irrweg zu verlassen. Der Miquelsche Reicbssinanzreformplan wurde von ihm schroff zurückgewiesen. So stebt nun die Angelegen heit seit fast einem Jahrzehnt. Das Zentrum wiederholt un entwegt die alten Argumente für die Beibehaltung der Franckenfteinschen Klausel und findet bei den Doktrinären ter radikalen Linken Unterstützung. Der wahre Grund seiner Abneigung gegen die Reform sind indes nicht die vorgeschützten staatsrechtlichen Bedenken, sondern die Furcht, daß mit der Beseitigung der Matrikularbeiträge neue Reichssteuern notwendig werden würden, deren Bewilligung seine Popu larität schwer gefährden würde. Und dabei hat das Zentrum, indem es, ebenfalls seiner Popularität zuliebe, die aus dem neuen Zolltarif zu erwartenden Hauptmehreinnahmen für die Witwen- und Waisenversorgung festgelegt hat, recht eigent lich die Beschaffung neuer Reichssteuern unumgänglich ge macht! Da darf man denn freilich gespannt sein, wie die „regierende" Partei demnächst die von ihren Preßorganen an gekündigte abermalige Zurückweisung der Reichsfinanzreform verantworten wird. Nationale Gleichgültigkeit. Die Tatsache, daß trotz der vielen für die Ostmarken politik ausgewandten Millionen und ungeachtet der 17jährigen Tätigkeit der Ansiedlungskommission der polnische Güter besitz nicht zurückgegangen ist, sondern sich vielmehr immer erweitert, drängt zur Rachforschung über diese für das Deutschtum der polnischen Provinzen überaus be trübende Erscheinung. Muß man auch zugeben, daß die frühere schwächliche Cafrrivische Politik sehr vieles verschuldet habe, so erklären doch diese weiter zurückliegenden Fehler nicht allein die bedauerliche Tat sache, daß gerade in letzter Zeit mehrfach deutscher Güter besitz in polnische Hände überging und dadurch die Ziele der deutschen Ansiedelungskommisston illusorisch gemacht werden. Hierfür gibt es nur eine Erklärung: die aus mannigfachen Gründen entstandene nationale Gleichgültigkeit einzelner deutscher Elemente, die dem aggressivemPolentum keinen Wider stand entgegensetzen können oder wollen. Wie eine solche Gleichgültigkeit zu überwinden sei, darauf wird sich nicht in letzter Linie die Sorge der Regierung bei Durchführung ihrer eingeschlagenen Ostmarken-Politik zu richten haben. Dabei wird sie sich vor allem die Frage vorlegen müssen, ob sie rechtes und festes Vertrauen auf die Stetigkeit dieser Politik erwarten und verlangen dürfe, so lange sie mit der Ver hätschelung des Zentrums fortfährt, das so zärtlich und nachdrücklich des Polentums sich annimmt. Es ist ja mög lich, daß Graf Bülow selbst sich mit der Hoffnung schmeichelt, gerade durch diese Verhätschelung das Zentrum von den Polen zu trennen und es für die Zwecke zu gewinnen, die er in den Ostmarken verfolgt. Aber daß er diese Hoffnung auch auf andere als etwa die Kreise der „Kreuz-Ztg." über tragen könne und werde, mag er ja nicht glauben. Seine letzten Ziele gibt das Zentrum nicht preis, das weiß jeder, der die Geschichte dieser Partei seit ihrer Entstehung aufmerksam verfolgt hat. Von der preußischen Regierung aber weiß man nur zu gut, daß ihre Polenpolitik schon ge wechselt hat wie das Aprilwetter. In den weitesten Kressen kann daher, so lange Zentrum in Preußen „Trumpf" ist, die Besorgnis nicht Weichen, daß am Ende nicht der Ultramon- tanismus sich zur Polenpolitik der Regierung bekehre, sondern umgekehrt die Regierung zur Polenpolitik des Zentrums. Und so lange diese Besorgnis herrscht, ist es im Grunde gar nicht so sehr befremdlich, wenn einzelne deutsche Elemente in den Ostmarken einer nationalen Gleichgültigkeit verfallen oder vielmehr ihre Güter an den ersten Besten, auch wenn er ein Pole ist, veräußern, um sich anderwärts anzukaufen, wo man der Gefahr nicht ausgesetzt ist, früher oder später denselben Dank für nationale^Haltung zu empfangen, von dem z.B. gar mancher preußische „Staatskatholik" zu erzählen weiß, der während des Kulturkampfes für die preußische Regierung „optierte". Nationale Gleichgültigkeit ist eine unausbleibliche Folge von verschwommener und wechselnder nationaler Regierungspolitik. Der Ueberfall i« Süd-Algerien. Ueber das neueste Gefecht zwischen -en Berbern und einer Abteilung der Fremdenlegion an der herrenlosen Wüstengrenze zwischen Marokko und der Provinz Oran treffen allmählich genauere Nachrichten ein. Es fand am 2. September bei El Mungar statt und währte den ganzen Tag. El Mungar ist zwei Etappen von dem südalgerische» Posten Taghit entfernt, sechs Etappen von Djennan-Eddar. Ein Peloton der 22. Kompagnie des 2. Fremdenregiments und ein halbes Peloton der 4. Schwadron des 2. Spahis-Regiments geleiteten unter der Führung des Hauptmanns Vauchez und des dänischen Leutnants Selchan-Hanscn einen Lebensmitteltransport, der für Taghit bestimmt war, als sie am 2. September um neun Uhr morgens von einer Schar Berbern zu Pferde überfallen wurden. Die beiden Offiziere und mehrere Unteroffiziere sielen tödlich getroffen, und nun übernahm ein Feldwebel das Kommando, bis um vier Uhr nach mittags der Hauptmann de Susbielle aus Taghit mit seinen Reitern den Ueberfallencn zu Hülfe kam. Die Berber zogen sich gegen 6 Uhr abends zurück, wie versichert wird, mit starken Verlusten. Die französische Abteilung zählte 120 Mann, davon wurden 37 getötet und 47 ver wundet. Hauptmann Vauchez ist tot, unter den Ver wundeten befindet sich der Leutnant Selchan-Hansen. Die Toten wurden auf dem Felde der Ehre begraben, wo der Kampf volle 8 Stunden gegen einen viel zahlreicheren Feind, der mehrmals zurückgeschlagen wurde und immer wieder kam, gedauert hatte. Der Hauptmaun Susbielle war durch eine« Boten von dem Uebersalle der Wüsten räuber benachrichtigt worden. Wie aus Oran telegraphiert wird, ist General O'Connor von dort nach dem äußersten Süden abgegangen. Die Angriffe der Berber auf Pro- viantzüge haben sich in letzter Zeit gemehrt,' wahrscheinlich, weil ihre Weizen- und Gerstcnernte gänzlich mißraten ist und furchtbare Hungersnot ihnen droht. Früher pflegten sie sich durch Raubzüge nach den Oasen Gurara, Tuat und Fidikelt schadlos zu halten: aber diese sind seit zwei Jahren in französischem Besitze, wodurch ihr Gebiet um einige hundert Kilometer geschmälert wurde. Die Stellung der Ausländer in Handel und Politik Transvaals. Aus Johannesburg, IS. August, schreibt man uns: Im Vordergründe des Interesses hat in den letzten Tagen der Beschluß und die in Verbindung hiermit ge führten Beratungen der Johannesburger Stadtverord neten über Preisangabe für die Lieferung von Straßen- bahnmaterial gestanden. Zahlreiche Preisangebote waren für die Lieferungen, welche im ganzen eine Geldausgabe von 1^4 Millionen Mark umfassen, eingelaufen. Die englischen Offerten waren in jedem Kalle für die Spezial- lieferungsausschrciben die höchsten: die nichtenglischer Firmen am niedrigsten. Die Mitglieder der Stadtverord netenversammlung nahmen nun bei den Beratungen und der Abstimmung eine Stellung ein, welcher namentlich in Rücksicht auf die bald stattfindenden Wahlen eine viel größere Bedeutung beigemessen werden muß, als es sonst der Kall wäre. Es standen sich zwei Parteien gegenüber, die eine, welche verfahren wollte, wie es bei Abschluß von Geschäften üblich ist und das Beste und zugleich Billigste kaufen wollte, die andere Partei, welche ohne Rücksicht aus Preis und Güte englischen Waren unter allen Umständen -en Vorzug geben wollte. In der Ab stimmung siegte die Geschäftspartei, doch nur dadurch, daß der Vorsteher seine Stimme für das Freihandelssystem abgab. Sieben Achtel der Gesamtlieferungen fielen nach Belgien, der Rest nach England. Sehr interessant ist es, daß in dem Falle, wo das Angebot der deutschen Firma das niedrigste war, die Berichte der In genieure empfehlen, wegen des verhältnismäßig gering fügigen Gegenstandes das Angebot, „welches so weit von London kommt", zu gunsten des teuereren eng- tischen Angebots nicht anzunehmen. Es liegt auf der Hand, von welch entscheidendem Einflüsse auf die in Aus sicht stehenden Lieferungen für die Stadt Johannesburg die Stadtverordnetenwahlen sein werden; es kommt aber auch dadurch erst zum Bewußtsein der zahl- reichen Ausländer, von welch enormer kommerzieller Be deutung der Ausschluß der Ausländer von den Stadtverordnetenwahlen sein muß: man denke nur einmal daran, wie leicht es möglich sein wird, eine der englischen Meistbegünstigung geneigte Stadtvertretung zu sammen zu bringen. Die Lieferungsausschreiben haben noch nicht die Lieferungen für den nötigen Wagenpark und die elektrischen Anlagen cingeschlossen; in Sluslicht stehen die kolossalen Ausschreibungen für die Eisen konstruktionsteile für die beabsichtigte Kanalisation der Stadt Johannesburg. Große Summen können demnach dem Auslände und damit auch dem Deutschen Reiche ver loren geherx, wenn eine Mehrheit, wie oben angedeutet, Feuilleton. 7j Inyeborgs Linder. Roman von MargareteBöhme. Na»cruck d'rdoien Der Berliner Zug war schon eingefahren. Sie hatten noch Zeit, ohne besondere Hast ihre Fahrkarten zu lösen, das Gepäck aufzugcben, und konnten dann gleich ein steigen. Thyra zitterte vor Frost, als sie über den Perron schritt. Die feuchte Nebelkälte drang durch die dicken Winterkleider wie durch Flor. Aber eben die schweren, dumpfen Nebelwolken, die wie Säcke über der Gegend hingen, erinnerten daran, daß sie noch auf heimatlicher Erde wandelte, von der eigentlich engeren Heimat aus durch eine Anzahl Wegstunden getrennt. Seltsam! Der Gedanke war ihr plötzlich beinahe tröstlich. „Wir nehmen ein Nichtrauchercoupv —" Thyra veüneinte. Sie wollte Frauencoupe fahren. „Schade " Aber er machte keine weiteren Ein- Wendungen. Nach einer Weile seufzte er ein wenig. „Nun habe ich mich durch meine Dummheit um mein ganzes Onkel- renommce gebracht, und doch bin ich eigentlich gar -nicht so schlecht und schlimm, wie Sie denken." Es klang auf richtig verdrossen, ohne jede andere Beimischung. „Ich denke weder das Eine, noch das Andere. Haben Sie Dank für ihre Freundlichkeit, Herr Kronau. Adieu." Kronau reichte ihr die kleinen Gepäckstücke ins Coupö. „Wenn wir über den Berliner Bahnhof hinaus sind, können Sie es sich ruhig beguem machen. Dann be kommen Sie keine Gesellschaft. . . . Bis morgen früh am Lehrter Bahnhof. Empfehle mich. Gute Nacht." Sie nickte au)' seinen Gruß. Es stand fest bei ihr, daß sie nie von Kronau eine Gefälligkeit erbitten, noch an nehmen werde. Der Zug passierte die verschiedenen Verbindungsbahn- Höfe, ohne daß jemand einstieg. Als auch auf dem Ber- liner Bahnhofe keine Passagiere in ihr Coupö kamen, ver- suchte Thyra, Kronaus Rat zu folgen und ei.« wenig zu schlafen. Umsonst Trotz großer Erschöpfung und körper- ltcher Müdigkeit wollte die ersehnte Ruhe sich nicht ein- stellen. Ihre Gedanken irrlichterten noch in den ver flossenen Abendstunden, die plötzlich in einer wesentlich veränderten Beleuchtung hinter ihr lagen. Sie hatte mit einem Male das Gefühl, als ob alle sie verspottet hätten, — die temperamentvolle Krau mit den kohlschwarzen Augen, der blonde, redselige Redakteur und in erster Linie dieser Kronau Ja, der ... Sie Hätte weinen mögen vor Wut und Acrger über ihre Vertrauensselig keit, mir der sie ihm ihr Herz ansgeschüttet hatte, aber es ließ sich natürlich nicht mehr ungeschehen machen. Am liebsten hätte sie das kleine Abenteuer in Hamburg — so interessant und amüsant es an sich gewesen war — unge schehen gemacht: sie wurde das unbehagliche Bewußtsein nicht los, daß ihre Reise anstatt unter günstigen Auspizien, wie sie vorhtzn geglaubt, mit einem Fiasko begonnen hatte. Viertes Kapitel. Doktor Fritz Christiensen war sehr erstaunt und nicht eben angenehm überrascht durch das Telegramm, das ihm die bevorstehende Ankunft seiner Pflegeschwester meldete. So viel er auch sann, es gelang ihm nicht, sich einen Vers'darauf zu machen. Lediglich ihn zu besuchen, kam sie nicht; denn einmal war es ausgeschlossen, daß Tante Jngeborg ihren Konsens zu einer so kostspieligen Vergnügungsreise gab, zweitens war die Jahreszeit zu einer solchen wenig geeignet, und endlich würde sie ihn in diesem Fall brieflich von ihrer Absicht in Kenntnis ge setzt haben. Folglich blieb nur ein Schluß, und zwar der nächstliegende: Sie mußte sich mit der Tante überworfen haben und war Knall und Kall abgereist. Im Grunde hielt er Thyra für zu klug, um einen so unüberlegten Schritt zu tun, aber wer konnte wissen! Die Annahme war in Anbetracht der näheren Umstände nur allzu wahr scheinlich. Eine nervöse Unruhe peinigte den jungen Mediziner. Es bedurfte keiner besonderen Phantasie für ihn, um sich das lähmende Entsetzen zu vergegenwärtigen, das sein letztes Schreiben bei de°r Tante Hervorgerufen hatte. Er mochte nicht daran denken, es war etwas so Un behagliches, über das keine Sophismen hinweghalfen. Freilich hatte er nicht versäumt, in seine Mitteilungen etwas von seinen glänzenden Zukunftsaussichten ein fließen zu lassen, aber er kannte Jngeborg Juppersen zu gut, um nicht zu wissen, daß derartige Bemerkungen wenig Eindruck auf sic machten. Thyra hatte natürlich feine Sache plädiert, und dabei mochte es zu heftigen Reibungen zwischen beiden ge kommen sein. Sie hielt so fest und treu zu ihm, seine Thyra: überhaupt, sie hingen so aneinander, sie war ihm gleichzeitig eine liebe, zärtliche Schwester und ein guter Kamerad. Wenn nicht die ungemütliche Geschichte mit der Tante gewesen wäre, hätte er sich seines Lebens gerade jetzt recht erfreuen können. Es war ihm alles so wunderbar geglückt. Rein ausgesagt: geglückt. Denn daß man fleißig und begabt, tüchtig und strebsam sein und dennoch Zeit seines Lebens ein armer, schwer mit des Lebens Widerwärtig keit und Niedertracht ringender Teufel bleiben kann, — diese Lebensweisheit war dem jungen Aeskulapsohn schon lange vor der Erlangung seines Doktordiploms auf gegangen. Unmittelbar nach seinem bestandenen Examen war er als Assistent in die Klinik des berühmten Chirurgen Ge heimrat Professor Leiscmann berufen worden, eine Aus zeichnung, um die sich zahlreiche Kommilitonen vergebens beworben hatten und um die er von diesen allseitig be neidet wurde. Wer eine Zeit lang mit Professor Leise mann zusammen arbeitete und sich das Vertrauen des berühmten Arztes zu erwerben verstand, dessen Zukunft war gesichert, er durfte mit einiger Bestnmntheit darauf rechnen, daß er zu einer Zeit, wo seine gleichaltrigen Kollegen in den meisten Fällen noch bitter um eine kleine Praxis kämpften, schon mit beiden Füßen auf dem festen Boden einer angesehenen und einträglichen Position stand. Leicht war cs nicht, bei Professor Leisemann anzu kommen. Zu viele drängten sich an ihn heran; die große Konkurrenz verminderte die Aussicht, in die immerhin beschränkte Zahl der jungen Assistenzärzte eingcrciht zu werden. Persönliche Konnexionen und Verbindungen gewähr leisteten in jedem Fall eine Bevorzugung: Konnexionen, Protektionen, Beziehungen, diese Zaubermittel, die gol dene Brücken zu den höchsten Zielen des modernen Lebens bauen. Dank der reichlichen Mittel, die seine Pflegemutter ihm während seiner Studienjahre zufließen lieb, konnte er sich in eine der vornehmsten Verbindungen ausnehmen lassen, und in dieser hatte er sich mit einem jungen^ reichen Russen, der nur der Wissenschaft zu Liebe einige Semester Medizin studierte, befreundet. Die beiden wurden mit -er Zeit unzertrennlich. Einen Sommer machten sie zusammen eine Schweizerreise und den nächsten Sommer begleitete Christiensen seinen russischen Freund auf dessen Güter in der Nähe Moskaus. Durch Kusekoff, der viel in der Familie Leisemann ver- kohrte, wurde Fritz Christiensen auch in dieselbe ein geführt. Es gibt Menschen, die mit ihrem Herrgott allerhand schöne Dinge teilen. So die Allwissenheit. Ihre Augen haben etwas von -er Eigenschaft der Röntgenstrahlen an sich. Sie haben, kraft dieser wunderbaren Gabe, Ein blick in die intimsten Familienverhältnisse, sie sehen alles, sie wissen alles. Und von diesen, mit solcherlei Kräften ausgestatteten Personen behaupten etliche steif und fest, daß in dem geheimrätlichen Haushalt mehr verbraucht als eingenommen wurde, und daß trotz der fürstlichen Honorare, die von den Patienten des berühmten Chirurgen entrichtet wurden, in des Professors Kasse ost eine bedenkliche Ebbe herrsche. Sie rieten ferner, daß Sergei Kusekoff sich um die jüngste Tochter Leisemanns bemühe und baß der reiche junge Ausländer einen ge wissen Einfluß auf den Geheimrat habe, weil dieser dem Plan einer Verbindung seiner Jüngsten mit dem vermögenden Russen außerordentlich wohlwollend gegen überstehe. Die Allwissenden behaupteten es wenigstens. Sergei Kusekoff also machte den Geheimrat in aller Diskretion auf die hervorragende Befähigung seines Freundes Christiensen aufmerksam. Der Geheime ver stand und reagierte. Christiensen wurde zu einigen Ge sellschaften eingeladen, bei welchen öklegenHeiten der Professor ihn jedesmal durch eine längere Unterhaltung auszeichncte. Tann durfte er einigen interessanten Operationen in der Leiscmannschen Klinik beiwohnen, und am rage nach seinem Eramen hatte er seine Berufung zum Assistenzarzt auf dem Schreibtische liegen. Fritz Christiensen war ehrgeizig. Neben dem festen Willen, sich über die gewöhnliche Durchschnittsleistungs norm hinauszuschwingen und sich eine Stellung in der Welt zu erstreben, besaß er Selbstbewutztsein genug, um an den Erfolg seines Willens zu glauben. Er unterschätzte seine Kräfte nicht, aber er hatte in den verflossenen ,>ahrcn die Augen aufgehalten und Beobachtungen ge macht und Lebensweisheit gesammelt. Und aus seinen gesammelten Ersahrungen resümierte eben die lieber- zeugung, daß anderthalb Lot Glück in der Westentasche in diesem Leben mehr bedeuten, als so und so viel Ge lehrsamkeit, Geist und Verstand in der Hirnschale. Und
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