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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 30.09.1903
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1903-09-30
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19030930022
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1903093002
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1903093002
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
- Monat1903-09
- Tag1903-09-30
- Monat1903-09
- Jahr1903
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Die „National- Zeitung" klammert sich nämlich an den Umstand, daß die bekannte Resolutton des Berliner Jungliberalen Vereins dem Delegtertentage nicht als „Antrag" vorgelegt, sondern nur vor -em Delegiertentage „verantwortet" worden sei, um hieraus das Nachstehende zu folgern: „Demnach kann auch von einer „Ablehnung" dieser Resolutton, von der in andern Blättern fälschlich berichtet wird, nicht die Rede sein. Damit ist, wie es den gegebenen politischen Ber- hältnifsan entspricht, die Diskussion über etwaige Ver ständigungen mit der Sozialdemokratie bis zu den Ur wahlen erledigt." — Auch an einer andern Stelle sagt die „Nattonal-Zeitung", daß das Verhältnis der National liberalen zur Sozialdemokratie „vor den Uvw'ahlen" keiner weiteren Erörterung bedürfe. Nach diesen Aus lassungen der „Nattonal-Zeitung" scheint der Jungliberale Verein Berlin die Frage einer Verständigung mit der Sozialdemokratie bei Stichwahlen nach den Ur- wählen von neuem „anschneiden" zu wollen. Tin der artiges Verfahr»» würde eine Verhöhnung des Hannoverschen Delegtertentages sein. Denn auf dem Hannoverschen Delegiertentage ist die grund sätzliche Stellung der nationalltberalen Partei zur Sozial demokratie sowohl durch den Referenten Dr. Sattler, wie durch die ganz überwiegende Mehrheit der Dis- kussionsredner nicht nur „bis" zu -en Urwahlen, sondern für de« gesamten Wahlkampf festgelegt worden. Zur urkundlichen Bckräftigung dieser Stellttnignahme dient der einstimmig angenommene Wahlaufruf, in dem es wörtlich heißt: „Leider sind ... die Stimmen der sozialdemokratischen Partei, deren staats- und gesellschaftsfeindliche Bestrebungen durch die Tagung in Dresden von neuem in volles Licht gestellt sind, in gefahrdrohender Weise angeschwollcn. Der Kampf gegen diese in Wahrheit rückschrittliche Partei bleibt nach wie vor unsere nationale und liberale Pflicht . . . Unsere Aufgabe ist es, dem Rückschritt an jederStelle und in jeder Form entgegenzutreten. Das muß unser Ziel auch bei den bevor stehenden Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhausc sein." Hier wird also der „Kampf" gegen die Sozialdemo kratie nicht bis zu den Urmahlen, sondern — wie es selbst verständlich ist — ganz allgemein für die „Wahlen" zum preußischen Abgeordnetenhanse angekündigt. Wenn die jungliberalen Delegierten dieser Fassung des Wahlauf rufes in der Absicht -»gestimmt haben sollten, den Kamps gegen die Sozialdemokratie nur „bis zu den Urmahlen" führem und dann die Verständigung mit der Sozialdemo kratie bet Stichwahlen von neuem betreiben zu wollen, dann stünde man vor einer regervatio mentalis, die den Neid manches Jesuiten erregen könnte. Abgelauscht wäre eine solche Taktik aber nicht bloß den Jüngern Loyolas, sondern auch den ritterlichen Kämpen des Dresdener Parteitages, welche der anttrevisionisttschen Resolution mit -em Vorsatze zustimmten, bet der revisionistischen Taktik zu verharren. Schon jower Beschluß des Jung- ltberalen Vereins Berlin hat auf dem Hannoverschen Delegtertentage die größte Entrüstung hervorgerufen. Eine Taktik vollends, wie sie nach den Andeutungen der „Nattonal-Zeitung" geplant zu sein scheint, würde die Entrüstung verdoppeln. Hierauf mit allem Nachdruck htnzuweisen, sollten sämtliche zuständigen Faktoren nicht ermangeln. Unglaubliche Borgänge. Bei dem Disziplinarverfahren gegen hannoversche Gefängnisbeamte, das mit der Verhängung geringerer Strafen endigte, sind nur solche Vorgänge zur Sprache ge kommen, die man als kleinere Verfehlungen bezeichnen kann. Seinerzeit waren noch viel schwerere Beschuldigungen in der Presse erhoben worden, und gegen ihre Verbreiter ist bisher eine Anklage nicht erhoben worden, so daß die Annahme gerecht fertigt erscheint, daß jeneBeschuldigungen doch nicht so ganz grund losgewesen seien. Es wird nun neuerdingsvoneinerinHannover erscheinenden Korrespondenz behauptet, daß noch ein anderes Disziplinarverfahren im Gange sei, dem nicht kleinere Dienst widrigkeiten, sondern Verbehen im Amte zu Grunde liegen. Wir können mit der „Köln. Zta." nur dringend wünscheu, daß, falls diese Angaben auf Richtigkeit beruhen sollten, daS Verfahren möglichst beschleunigt wurde, denn die nach der ganzen Lage der Sache nicht wohl mehr abzuweisende Ver mutung, daß im Gefängnis von Hannover dem Straf gefangenen Prinzen von Arenberg mit Rücksicht auf seinen Stand unerlaubte Bevorzugungen zu teil geworden sind, hat in weiten Kreisen böses Blut gemacht; es ist also durchaus erforderlich, daß diese Angelegenheit zu einem Schluß gebracht werde, sei es durch die Erklärung, daß andere Vergehen von Beamten äls die in der Disziplinär untersuchung bereits geahndeten nicht vorliegen, sei es, daß die Schuldigen der gebührenden Strafe entgeaengeführt werden. Im Volke darf sich der Gedanke nicht festsetzen,- daß die Gesetz« zu Gunsten hoher Aristokraten, wenn diese fick' keineswegs als „Edelste der Nation" ausgewiesen haben, in anderer Weise angcwendet werden wie gegen sonstige Bürger. Heute liegt ein Bericht vor, der sich mit einem ganz andern Fall beschäftigt, der aber ebenfalls nur zu leicht so ausgclegt werden kann, als ob bei der Strafvollstreckung aristokratische Gefangene eine ungerechtfertigte Bevorzugung von den Ge fängnisbehörden erhielten. Den „Posener Neuesten Nachrich ten" wird nämlich aus Danzig folgendes geschrieben: Gras Pückler, der in Danzig zu einer bekannten Erscheinung geworden ist, hat am letzten Montag, an dem bekanntlich in Danzig die Enthüllung des Kaiser Wilhelm-Denkmals stattfand, frei und offen vor aller Welt in Frack und Claque an dem offiziellen Fest mahl teilgenommen, an welchem sich die Spitzen der kommunalen Behörden und auch die Minister v. Podbielski und Rhein- baben beteiligten. Man sah, daß Graf Pückler, von dem man wußte, daß er, wie jeder Festungsstuben-„Gefangene", höchstens 5 Stunden „großen" Urlaub haben konnte, am Montag nicht zur Festung zurückkehrte, sondern ganz gemütlich nach dem feudalen Diner in Danzig im „Danziger Hof" übernachtete. Daher stammte wohl die Annahme, daß der gräfliche „Festungsstubeii Gefangene" sich bereits auf freiem Fuße befände; tatsächlich war er aber einfach durchgebrannt l Erst am nächsten Morgen soll er sich in aller Seelenruhe wieder in der Festung eingefuuden haben. Diese Erzählung bedarf dringend einer behördlichen Richtigstellung, denn eine derartige Bewegungsfreiheit, wie sie dem Grafen Pückler angeblich gestattet worden, ist auch Festungsgefangenen gegenüber unzweifelhaft ^unstatthaft. Es klingt wie ein Hohn auf die Theorie vom Strafübel, wenn ein Gefangener sich an einem offiziellen Feste beteiligen kann, bei dem die höchsten staatlichen Spitzen anwesend waren; aber wie gesagt, eine Berichtigung ist nötig, bevor auch dieser Vorgang als Zündstoff zu einer Verhetzung in die Massen geworfen werden kann. Die Lage am Balkan. DaS offfizöse Wiener „Fremdenblatt" bespricht die bevor stehende Ankunft des Kaisers Nikolaus und weist darauf hin, daß die öffentliche Meinung in Oesterreich- Ungarn das Einvernehmen mit Rußland seit seinem Ent stehen hoch eingeschätzt habe. Dann heißt es wörtlich: Die euge Annäherung hat sich in allen Phasen der makedonischen Bewegung bewährt, wodurch der Beweis erbracht ist, daß sie aus der Erkenntnis der beiderseitigen Interessen hervorgegangen ist, und daß die vertrauensvollen Beziehungen, zu denen man nach lange dauernder Rivalität gelangt ist, auf mehr als vorübergehenden Grundlagen beruhen. Rußland strebt im Vereine mitOesterreich-Ungarn nicht einen Gebietsgewinn, sondern die ruhige Fortentwickelung der einheimischen Bevölkerung in den gegenwärtigen Grenzen an. Die Friedensliebe der beiden Herrscher traf ebenso wie die politischen Interessen beider Länder zusammen und daraus ergab sich die Kon sequenz, daß man die Gestaltung der Schicksale der Balkanhalbinsel nicht unberechenbaren leidenschaftlichen Bewegungen überlassen dürfe, welche dort, durch die türkische Mißwirtschaft begünstigt, immer wieder entsteht, und daß man, so oft es erforderlich sei, gemeinsam auf den Gang der Dinge Einfluß üben müsse. Das Zusammenwirkea Oesterreich-Ungarns und Rußlands konnte die Unruhe» auf dem Balkan sittlich nicht hindern; sei» erster und höchster Zweck ist Mißverständnissen und Trübungen zwischen beide» Reichen selbst vorzubeugen. Diesen Zweck hat es voll kommen erreicht. Die Freundschaft zwischen beiden Reichen ermöglicht ein kräftiges Einwirken zu gunsten der Erhaltung des Friedens zwischen den Balkanstaaten, die sonst auf ihre Rivalität rechneten, und ein kräftiges Einwirken auf die Türkei. Wenn auch die makedonischen Comitös ihre Tätigkeit mit gesteigertem Terrorismus fortsetzen, so ist durch das energische Auftreten der beiden Kaiserreiche erreicht worden, daß Bulgarien den Frieden bewahrte. Die Anwesenheit Kaiser Nikolaus' und des Minister deS Aeußern, Grafen Lambsdorff, wird Gelegenheit bieten, die Situation im Orient neuerdings zu erörtern. Die beiden Mächte sind, wie auch der englische Premierminister letzthin erklärte, mehr als die anderen Staaten in der Lage, die Balkanangelegen- heiten so zu behandeln, wie es dem allgemeinen Interesse entspricht. Der englische Premierminister ist dafür nicht wenig in seinem Lande angegriffen worden, wer aber praktische Politik treibt und zugleich den Frieden will, muß das Programm billigen, das Oesterreich-Ungarn und Rußland ein halten. Kaiser Nikolaus ist ein Friedenskaiser, nicht nur in der Throne, sondern auch wirklich und befindet sich darin in Ueberttn- stimmung mit unserem Monarchen und der Völker Oesterreich- Ungarns. Wir wollen hoffen, daß sich dank dieser Ueberttnstimmung auch die gegenwärtige schwere Situation überwinden und eine all- mählige Besserung der Zustände iu den tückischen Provinzen herbei führen lassen wird. Wenn das „Fremdenblatt" auf die autitürkische Be wegungin England hinweist, so wird die bis jetzt noch ab lehnende Haltung des konservativen Kabinetts immer schwie riger, denn die Agitation für eine Einmischung Eng lands wird mit einem Hochdruck betrieben und zwar unter Beihülfe angesehener Politiker aller Richtungen — selbst der Führer der Liberalen im Unterbaust Bannerman ist da runter —, daß ein Heraustreten Englands aus dem Konzerte der Mächte nicht ausgeschlossen erscheint. Vielleicht läßt die Regierung sich nicht ungern dazu drängen. Wie man un» aus London, 29. September, meldet, nahm gestern abend eine große öffentliche Versammlung in Sanct JameS' Hall eine Resolution an, in der erklärt wird: 1) Die Mißregierung in Makedonien und das Mißlingen aller Versuche zur Einführung der Reformen unter der tückischen Kou- trolle machen es notwendig, daß die direkte Herrschaft de» Sultans in den makedonischen Provinzen aufhüre; 2) die von England in dem Berliner Vertrage übernommenen Ver pflichtungen erfordern, daß England Schritte tue, um der Nieder- metzelung von Nichtkämpfenden und der gegenwärtig verübten Plünderung Einhalt zu gebieten und auf die audereu Vertrags mächte zu gunsten der obenbezttchneten Politik ttnwtcke; 3) wird die Hülfeleistung zur Abwendung einer Hungersnot für dringend notwendig erklärt und die Einsetzung eines BaltankomitSS ver- langt, um den Mißständen vorzubeugen. Unter de» Rednern und Teilnehmern an der Versammlung waren all« politische» Parteien und alle religiösen Bekenntnisse vertret««. Ein weitere» Telegramm besagt: Btt d«r Versammlung in Sanct James' Hall, die gestern abend unter dem Bischof von Worcester abgehalten wurde, gelangte ein Brief de» Erzbischofs von Canterbury zur Verlesung, in dem er erklärte, die Versammlung habe de» Willen de» ganze» Volkes hinter sich, das entschlossen sei, den ganzen mäch tigen Einfluß Englands auszuüben zum Ziele der Unterdrückung der Tyrannei, Raubgier und Mißwirtschaft in Makedonien. Es waren Briefe von Bischöfen und 39 Parlamentsmitgliedern eingelaufen, darunter von Campbell-Bannerman und Grey. — Auch die bulgarische Re aierung zeigt sich noch widerstandsfähig, wie aus folgender Meldung hervorgeht: * Sofia, 29. September. (Agence TslSgraphique Bulgare.) Der Ministerpräsident Petrow empfing gestern eine Abordnung der makedonischen Kolonie Sofias, die ihn fragte, welche Haltung die bulgarische Regierung einnehme und einnehmen werde gegenüber der makedonischen Frage und wie die Regierung den Fall ttneS Angriffskrieges gegen die Türkei ins Auge fasse. Der Minister präsident erwiderte, keiner anderen Regierung lägen die Interessen der Makedonier und Adrianopolitaner mehr am Herzen, als der bulgarischen Regierung, die immer die Freundschaft der Türkei und die vollständige Ueberttnstimmung in allen Streitfragen nachgesucht habe. Durch die jüngsten Ereignisse sei daran nichts geändert. Die Regierung verfolge die Ereignisse mit dem Interesse, das sie zu lassen, und vernachlässige niemals das Recht noch die Pflicht, ihre» Feuilleton. 24j Ingeborgs Linder. Roman von MargareteBöhme. Siawkruck verboten. Dhyra hatte in den beiden Nächten, die dem Fest bei Leisemanns folgten, kein Auge geschloffen. Wie in dumpfer Betäubung legte sie die lange Reise nach Hause zurück; erst, als die Häuser Altstadts in der Ferne aus tauchten, löste sich die krampfartige Spannung ein wenig, und es war ihr, als kehre eine Andere heim. Eine Andere, " als wie Thyra, die vor einem halben Jahre mit den hoff nungsgeblähten Segeln ihrer Illusionen die Fahrt in die Welt angetreten. Wie eine Schiffbrüchige, zerschlagen, ent. täuscht, müde an Leib und Seele, kam sie zurück. Aber dennoch, dennoch brachte sie einen Gewinn mit: der Wust der unklaren, unreifen Ideen, die vordem ihren Kopf er füllt, hatte sich entwirrt und gelichtet, sie war sehend ge worden, für die Werte und Unwerte des Lebens. Ein freundliches Lächeln flog über Jngeborg Jupper- fenS Züge, als Thyra eintrat. Langsam richtete sie sich im Bett auf und streckte der Heimkehrenden beide Hände entgegen. „Bist du da, Thyra?" sagte sie leise. ,Hch freue mich, daß du gleich kamst." Nur ein scharfes Auge konnte an dem dunkleren Wangenrot und dem erhöhten Glanz der Augen die Kranke erkennen. Ihre Hände aber brannten wie Feuer. Erschüttert sank Thyra neben dem Bett nieder und küßte die lieben Hände dieser besten aller Mütter. In der Dämmerstunde desselben Tages beichtete sie der Tante alles, ihre Liobe zu Fritz und den Schmerz um seinen Verrat. Und weil das Bett im Schatten stand, und sie selber das Gesicht mit den Händen bedeckte, sah sie nicht die tiefe Bewegung, die während ihrer, von zer rissenen, schluchzenden Tönen unterbrochenen Erzählung durch die Züge der Kranken ging. ,Homm her", bat Jngeborg, und als Thyra sich auf den Bettrand setzte, ergriff sie die Hände des jungen Mädchens und zog sie an ihre Wange. „Still, Kindchen, still!" sagte sie mit matter, fiebernder Stimme, „des Herrn Wege sind nnerforschlich und seine Ratschlüsse voll Weisheit. Bisweilen meinen wir wohl, daß eS finstere Nacht in uns sei, und erst später erkennen wir, daß es nur der Schatten seiner unermeßlichen Gnade war, der kühlend und erquickend unseren Pfad beschirmte und ihn vor ausdörrender, sengender Sonnenglut be wahrte. Nimm es so auf, dann trägt es sich leicht, glaube mir." Gegen nacht fieberte die Kranke immer stark. Tags- über lag sie meist still in den Kissen; zeitweise schlief sie. Eines Tages bat Thyra den alten Arzt, ihr reinen Wein über den Zustand der Tante einzuschenken. Der alte Herr zuckte die Achseln. Eine langwierige Krankheit. Kann sich monatelang hinziehen. In einzelnen Fällen erfolgt die Auflösung freilich auch plötzlich." „Die Auflösung —? Und die Genesung —?" „Die ist leider bet einem so schweren Leiden ausge schlossen." Da wußte Thyra, daß sie Wer kur- oder lang ganz allein in der Welt dastehen, und daß sie bald keine Heimat mehr haben werbe. Und sie weinte bitterlich. Die Tante war eine anspruchslose Kranke. Vormittags schlief sie gewöhnlich, »nd da die Magd mit Leichtigkeit die wenige Hausarbeit allein schaffte, blieb Thyra viel Zeit zum Arbeiten übrig. Erstaunlich schnell schritt die Umgestaltung ihres Romanes vor sich. An Fritz dachte sie wenig. Seine Gestalt schien sich in ihrer Seele verflüchtigt zu haben, aufgelöst zu einem wesenlosen Nichts. Die Liebe zu dem Manne hatte tief in ihrem Herze,» ge wurzelt, die Wunde blutete noch stack, und die schmerzende Leere war immer noch in ihr, aber er selbst, seine Person, hatte keinen Platz mehr in ihrem Herzen. Dieser Mensch, der sich um Geld und Position an ein ungeliebtes Weib verschacherte, hatte mit dem Mann, den sie geliebt hatte, nichts gemein. Wenn sic nicht schrieb und die Tante auch nicht ihrer bedurfte, las sie viel. Bon einer Altstädter Buchhandlung hatte sie sich einige Novellen und Romane ganz moderner Autoren kommen lassen, die sie mit Interesse studierte, und an deren Lektüre sie ihre Betrachtungen knüpfte. Die neue, stark realistische Strömung mochte, wie die Sezession in der objektiven Kunst — sicher eine segensreiche, fruchtbare Wandlung in die während der letzten Jahrzehnte etwas verflachte belletristische Literatur bringen, aber, wie unter den Jüngern der sezessionisttschen Kunstrichtung, ver bargen auch hier manche Moderne ihr Nichtkünnen unter einer erborgten, manchmal zur Karikatur verzerrten Originalität, den tauben Kern in der Schale einer bizarren Form. Abends wollte Jngeborg gern ein halbes Stündchen vorgelesen haben; Abschnitte aus der Bibel und Psalmen, hin und wieder auch Gesangbuchlieder. Früher war ihr, Thyra, nichts so langweilig und geist tötend vorgekommen, als dies Bibcllesen. Jetzt tat sie es nicht nur der Kranken zu Liebe gern, sie vertiefte sich auch selber, aus persönlichem Interesse, in den köstlichen, ewig in gleicher Klarheit und Lauterkeit sprudelnden Urquell aller Philosophie und Morallehre. Und je öfter und weiter sie las, desto näher kam sie der Ueberzeugung, daß die Dogmen von Darwin und Nietzsche und ihren vielen Nachtretern und Nachbetern, — diese Dogmen von Ttermenschen und Uebermenschen, die in der Hauptsache auf eins herauskommen, nichts als farbige Glassplitter sind, gegenWer dem strahlenden, harten Juwel der gött lichen Lehre Regelmäßig zweimal die Woche kam Pastor Mertens zu der Kranken. Gleich bei dem ersten Wiedersehen hatte Thyra sich bei ihm wegen ihres Benehmens am letzten Abend vor ihrer Abreise entschuldigt; mit einem schwachen, fast wehmütigen Lächeln wehrte er ab.... Zu Weihnachten hatte er sich mit der Tochter eines Amtsbruders aus einem benachbarten Dorf verlobt Die Gemeinde bedurfte einer Psarrfrau. . . . Thyra begrüßte die Mitteilung von seiner Verlobung mit geheimer Erleichterung. Einem unbefangenen, freundschaftlichen Verkehr stand nun nichts mehr im Wege. Mitte Juni erhielt Thyra zwei Briese aus Berlin. Einen von Frau Kronau-Weingarten. Sie schrieb, daß ihr Mann, der jetzt fast ganz hergestellt sei, zu seiner Er holung in Abbazia verweile. Im Herbst wollte sie ihre Pension verkaufen; ihr Mann und sie gedachten ihren künftigen Wohnsitz in Basel zu nehmen. Als Nachschrift fügte sic hinzu, daß der Rechtsanwalt Fabriant sich nach Thyras Ergehen und ihrer Adresse erkundigt habe. - Der zweite Brief mar von Anna Baland. „Liebe Thyra! Ich ergreife die Feder, um Dir mitzu- teilen, daß ich mich verlübt habe. Mein Bräutigam heißt Fritz Gemme und ist Obergeselle bei dem Hofmetzger Add- mauer. Wir sind eben daran, uns eine Wirtschaft in der Prinzenstraße zu pachten. Heinrich ist von tüchtigen Leuten und hat sechzchntauscnd Mark Vermögen von Mutterswegen, ohne sein Erspartes. Er ist sehr sparsam und unmenschlich verliebt in mich. Im September heiraten wir. Ich habe an Bahne Lüpsen geschrieben, daß ich mir für die dreitausend Mark jetzt eine feine Aussteuer kaufe; daS wird ihn blödsinnig ärgern, meinst Du nicht auch? Liebe Thyra, ich habe gehört, daß Du wieder zu Hause bist, und bas tut mir furchtbar leid für Dich, denn ich begreife rein nicht, daß man es in dem Drecknest so lange ausge halten hat. Hier ist doch ein anderes Leben. Aber Du wirst gewiß einen tüchtigen Brocken von Fräulein Juppersen erben, und dafür kann man es schon eine Weile aushalten. Bist auch schon mal bei den Alten gewesen? Schreibe mir mal, was die Altsche sagt, und ob sie sich ordentlich giftet, daß es mir jetzt so fein geht. Sollst mal sehen, wenn ich mal wieder nach Altstadt komme! Die werden gucken. Mein Heinrich hat mir zu meinem Ge burtstage ein schwarz- und weißgestreiftes seidenes Klei- geschenkt, hochfein! Und als Brautkleid kriege ich weiße Seide. Meine Adresse ist jetzt: Oberlandesgerichtsrat von Emden, Altonaer Straße. Bet meiner vorigen Herr schaft kam die Geschichte eher zum Klappen, als ich dachte. Frau Baronin verreiste vor vier Wochen und kam nicht wieder. Nachher kamen alle Leute mit Rechnungen, Schneider, Schuster, Schlächter, Konditor, aber hat keiner nix gekriegt, weil alles Markievicz gehörte. Ich bin nix zu kurz gekommen. Die Baronin war doch eine gute, feine Dame, bloß ein bißchen leicht, weißt Du. Hier ist keine Frau im Hause, ich muß kochen und hab ein Dienst mädchen unter mir. Herr Rat ist sehr nett, sagt immer „Aennchen, Aennchen, — wenn Cie Ihren Mann mal so gut pflegen, wie mich —" und hat irmner den Schelm im Nacken. Nun will ich schließen. Schreibe bald mal Deiner Frenndtn, Anna Baland." Thyra faltete lächelnd den Briefbogen zusammen. Da war ganz die leibhaftige Anna, die aus dem Schreiben herausschaute. Aber cs freute sie, daß die robuste Natur des Mädchens den Fährnissen der stark infizierten. Lust im Lohdeschcn Dienst anscheinend glücklich widerstanden hatte. Wenn sie sich mit einem braven Manne verheiratete, fo war das sicher für sie die glücklichste Lösung. Im Juli verschlimmerte sich der Kranken Zustand er heblich. Hatte Thyra bisher noch an der Hrssfnung festge- halten, daß der «rzt irre und die feste Koustitutton der Tante die Krankheit überstehen werde, — letzt sah sie das Ende rapide nahen. Manche Nacht wachte sie bis gegen morgen am Bett der Fiebernden, und horchte angstvoll auf die wirren Reden, die den brennenden Lippen ent strömten. In diesen Phantasien war immer von einem blauen Heft die Rede. „Hole es, Thyra! Geh! Hörst du? Verbrenne eS, ehe jemand es findet.... ah .... ah....
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