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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 18.12.1902
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-12-18
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19021218012
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902121801
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902121801
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1902
- Monat1902-12
- Tag1902-12-18
- Monat1902-12
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Keinen Zollwächter, keine Soldaten mehr, die ganze Menschheit ein einziges Volk von Brü dern! So stets im Katechismus der roten Internationale, und die deutschen Sozialdemokraten nehmen's in der Tat auch noch heute bitter ernst mit Liesen Glaubensregeln. Die „Proletarier" Singer und Bebel würden heute noch jeden Genossen „hinausfliegen" lassen, der den Ketzereien von Vaterlandsliebe und dergleiSen reaktionärem Alt- weibersingfang huldigt. Man behauptet häufig, daß die deutsche Sozialdemokratie anfange, die Bahnen des alten Marx orthodoxen Kirchenvätern zu überlassen und unter Führung -er Reformer und Entwickelungstheoretiker vom Schlage der Heine, Bernstein, Dchippel neue Wege einzuschlagen. Das bleibe dahingestellt. Die fran zösischen Genoffen jedenfalls, die von An fang viel zu realpolitisch waren, um sich mit den Zukunstsstaatsphantastereien abzugeben, nahmen auch den Lehrsatz von der Allerweltsbrüderlich keit gerne auf, weil sie die leichtentzündlichen franzö sischen Bolksmasscn mit solchen Phrasen so schön berauschen konnten; in der Praxis kümmerte sich aber kein Mensch darum,und unseren westlichen Nachbarn isrdas erbärmliche Schauspiel bisher erspart geblieben, -aß Landeskinder Gesetzesvorlagen bekämpften, die nur zur Verteidigung -es Vaterlandes dienen. Freilich bietet auch sonst der französische Sozialismus ein ganz anderes Bild als der deutsche. Bei uns haben es die alten Parteidiktatoren noch immer verstanden, die Theorie von der Einheit und Unteilbar keit der proletarischen Bewegung auf den großen Partei konzilen zur Anerkennung zu bringen, und auch so fort schrittliche Männer, wie Bernstein, fürchteten die Ex kommunikation und baten um Absolution. Anders in Frankreich. Der französische Sozialismus spaltet sich in eine Reihe von verschiedenen Parteien, die jeder einheit lichen Führung entbehren, ja, die sich unter einander sogar sehr heftig bekämpfen. Es sei hier nur an dcu offenen Krieg zwischen den Guesdisten und -en klein bürgerlichen Sozial-Radikalen erinnert. Neben den mar xistischen Doktrinären aus der Schule Qu cs des, den Leuten der scharfen Tonart vom Schlage Baillants, stehen die progrcssistischen Allemanisten auf der einen, die anarchistischen Sansculotten auf der ander» Seite. Das Fähnlein der Marxisten schmilzt aber immer mehr zu sammen, die sozialistischen Ultras haben bei den letzten Wahlen keine Erfolge erringen können, und zum Heil für Frankreich hört man auch seit dem Tode Earnots fast nichts mehr von der unheimlichen schwarzen Internationale, die alle Leiden der Menschheit mit Dolchniesser und Dyna mit beseitigen will. Dagegen hat sich der Sozialis- m nsIauröS' zu einer Nolle aufgeschwungen, die den opportunistischen Anhängern dieses vielgcwandtcn Mannes den größten Einfluß auf die offizielle Politik ge stattet. Hier ist die Brücke zn der bürgerlichen Demokratie mit sozialreformerischer Farbe, die Baud in nsw., schon geschlagen. Es wird nicht lange dauern und dieser Flügel der Sozialdemokraten ist auch formell die eigentliche Regierungspartei, was er tatsächlich schon lange war. Die Entwickelung dieser Salonsozialisten geht mit rapi der Geschwindigkeit vor sich. Als Waldeck-Rousseau vor nun 3Z4 Jahren in sein Kabinett der republikanischen Verteidigung den Sozialisten Mi Herand aufnahm, glaubten verschiedene alte Herren im Palais Bourbon, das Ende der Welt sei nahe, und in Deutschland, wo man auch den französischen Genossen nach dem liebenswürdigen Mnstcrbilde des Herrn Stadthagen, des „deutschen" Genossen, cintaxierte, dachte man, die Tage Robcspierres seien wieder gekommen. Und das Wunderbare geschah: Herr Millcrand beantragte nicht den Ausbau einer neuen Gouillotine auf dem Konkordicnplatz, er ließ nicht die Kir chen und die Kasernen in die Luft sprengen, er benahm sich in seinem Ministersessel sehr höflich und manierlich, wie jeder andere Kollege. Er mißbrauchte die Staats gewalt nicht, um die fetten Bourgeois zu expropriieren und bei Ausständen die Pion-Pions für die Streikenden mar schieren zu lassen. Er bekam langsam etwas Geheimrät- liches und verurteilte die Ausschreitungen anfgcwiegclter Bergarbeiter. Und doch nützte er den Genossen sehr viel, z. B. in dem großen Kampfe in Le Ercuzot. Es kam der Tag, wo der Zar Frankreich besuchte, und Herr Millcrand blieb trotzdem im Amte; ja, die Republik sah im Ans- stcllungsjahrc leibhaftige preußische Minister bei sich zu Gaste und Herr Millcrand machte mit die Honneurs. Mille rands Einfluß deckte Waldeck-Rousseau «ach liuks den Rücken, so daß der Ministerpräsident die Arme gegen die Feudal-Klerikalen frei bekam. Das Geheimnis des Er folges Waldeck-Rousseaus ist eben die Anwesenheit Mille rands im Kabinett. Der geschmeidige Notar auS Nantes ist nicht mehr im Amte, er spart sich wohl für andere Zeiten auf, nachdem er, der Ministerkollegc des Sozia listen, mit Kaiser Wilhelm in Norwegen znsammenge-- troffen. Heute sitzt im Ministerium Combes kein So zialdemokrat. Und doch herrscht heute diese Partei in Frankreich. Bor drei Jahren zweifelte man noch an der Rcgierungs fähigkcit der Genossen, heute sind sie die eigentlichen F ühre r der Ministeriellen geworden, Herr Eombcs nur noch ihr Eommis. Bald werden sich nur noch eine große sozialistisch-radikale Ne- formpartci und eine nationalistische in Frankreich gcgcn- überstchcn. — Die französischen Genossen vom marxistisch orthodoxen Programm sind immer mehr in den Hinter grund gedrängt, und der von keinen theoretischen Spinn weben eingeengte Jaurös, der seine Frau und seine Kin der trotz des wilden Geschreis der Intransigenten ganz priesterlichem Einfluß überläßt, und Millerand, der ehe malige blutrote Laterncnmaun, der jetzt stark der Streberei verdächtig ist uud dessen Ehrgeiz nach dem Sessel des Ministerpräsidenten verlangt, diese Männer des skrupellosesten Opportunismus sind die Herren der Lage, sie, die längst die Marxschcn Schriften als Makulatur über Bord geworfen und längst das revolutionäre, völker verbrüdernde Phrasengelcier, das bei uns noch herrscht, vergessen haben. Wie rnhig und verständig in seiner neuesten Ent- wickelungsphasc Herr Millerand denkt, zeigt eine Rede, die er kürzlich vor den Wählern des 12. Arrondissements hielt. Herr Millcrand als Nationalist! Der Aktschluß in einem Schauspiel, das noch lange nicht zu Ende ist und noch manche Ueberraschnngcn verspricht. „Die Arbeiter sind die ersten Opfer aller Störungen deS nationalen Lebens." „Ohne Geld gibt's keine Re formen, Sie müssen deshalb das Budget mitberaten; eSist lächerlich, das Gcsamtbudget im Prinzip abzulchne n". „Kolonialer N a t i o n a l b e s i tz ist für den Arbeiter eineLebenssrag e." „Der Sozialismus muß aktiv an der Macht teilnehmen, wenn er nicht selbst erklären will, daß er außerhalb des Ge setzes steht und minderjährig ist." „Der Sozialismus darf sich nicht mehr ans die Nolle eines Kri tikers beschränken." „Alle Franzosen haben ein gleiches Interesse an dem Blühen des nationalen Organismus!" Diese Sätze gehen nicht in dem politischen ABC-Buch einer kapitalistisch - verseuchten Partei, sondern sind die Worte des Herrn Millerand, eines der Hauptführer der französischen Sozialdemokraten. Heute ist's also an den Herren Singer und Bebel, das Ende der Welt nahe zu wähnen, heute, wo ein waschechter Genosse sich zu solchen Ketzereien verirrt und ansängt, wie ein ganz ver nünftiger Mensch und guter Patriot zu reden. Der deut ¬ schen Arbeiterschaft wird man natürlich von den Gedanken nichts erzählen, die an der Seine ohne Furcht vor Partei bann ansgeiprochen werden können. Die deutsche Sozial demokratie muß sich noch sehr ändern, um den französischen Genossen auf den Bahnen des gesunden Menscüenver slandes folgen zu können. Ihre erlauchten Führer werden jedenfalls das Mögliche tun, um die deutschen Arbeitcrsvzialisten von dieser Entwickelung fern zu halten. I?. Deutsches Reich. s. Leipzig, 17. Dezember. (Ihr!) Gute Freunde, die nicht „Du" zu einander sagen, reden einander Wohl mit „Ihr" an, und auch das lustige Volk, das unter der gemeinsamen Decke der Fetlschminke zu stecken gezwungen ist, sagt „Ihr" untereinander. Aber sonst ist die Anrede ein wenig unmodern geworden, gilt nicht für sein und in unseren kritischen Tagen, wenn von oben nach unten gesprochen, nicht für klug. DaS scheint jetzt anders werden zu sollen. Von hoher Stelle ist in einer sonst sehr sympalhischen und außergewöhnlich geschickten Essener Rede unter der Aufwallung landeS- väterlicher Gefühle daS „Ihr" gefallen und hat dem sozialen Empfinden einen nassen Umschlag appliziert, dessen abkühlende Wirkung sich steigert bei denen, die den Eindruck der Persönlichkeit nicht gefühlt haben. Ein Schön heilsfehler braucht ein Kunstwerk durchaus nicht zu ent stellen, er soll manchmal sogar einen eigenen pikanten Reiz haben. Wer nun aber den Fehler von dem Kunstwerke los löst, jin dem Wahne, durch ihn allein dieselbe Wirkung erzielen zu können, ist ein schlechter Aesthetiker. Ein solcher ist z. B. der preußische Minister der öffentlichen Arbeiten Herr Budde, von dem berichtet wird, daß er mehrmals in seiner Ansprache an die Berliner Straßenbahner gelegentlich der Abhalfterunz deS letzten Straßenbahn pferdes das „Ihr" gebraucht habe. Der Minister kann eine Entschuldigung für sich ansühren: Bor etwa zwei Jahren war er noch Soldat und ou revisnt toujours . . . Nun, tragisch ist die Sache nicht, aber hämische Interpreten wissen geradeNebensachen zu benutzen, wenn dieHauptsache ihnen peinlich ist. Und auch daS möchten wir sagen, daß für Sozialpolitiker im Patriarchenkostüru die Zeit vorbei ist. „Meine Herren"! wirkt besser als „liebe Kinder"! Berlin, 17. Dezember. (Die Polen bei den nächsten R c i ch st a g s w a h l e n in Nord-Ost- Deutschland.) Dieser Tage fand eine Bersanrmlung polnischer Wahltrcisdelegicrter für Westpreuhen, das ost- prenßische Ermland und die v st p o m m c r s ch e n Wahlkreise Bütow nud Lanenburg statt. Auf der Ver sammlung wurde beschlossen, frühzeitig in die Agitation einzutretcn, und zwar zunächst durch Herausgabe einer Wahlbrvschürc, die in sämtlichen beteiligten Reichstags wahlkreisen zur Verteilung gelangen soll. Man erinnert sich, daß vor einigen Wochen die Polen in Oberschlesien in die Wahlagitation eingctrcten sind, und man sicht daraus, daß sie im Südvsten und im Nordoslen gleich rege an die Feuilleton. Eine nächtliche Wanderung über den Schipkapaß. Eine Erinnerung an die Schipkafeier von A. K. Nachdruck verbalen. In Tirnowo waren alle Hotels und Logierhänser überfüllt gewesen. Wo irgend nur sich ein Unterkommen bot, haitte man dasselbe benutzt; denn der Besuch des Fürsten Ferdinand nud seines hohen Gastes, des Groß fürsten Nikolaus Nikolajewitsch von Rußland, der nebst einer Anzahl russischer Generale und anderer Offiziere von dem ersteren in Varna in Empfang genommen worden, um über Tirnowo nnd Gabrorvo zu der Lchipka- fcier zu reisen, hatte viel Volk von nah und fern nach der alten bulgarischen Zarenstadt geführt. Als ich in der Nacht vor der Ankunft der fürstlichen Herrschaften in Tirnowo cintraf, fand ich deshalb kein Zimmer mehr unbesetzt, trotz aller alten Bekanntschaften und guter, Empfehlungen. Indessen hatte der Wirt des Hotels Boris Mitleid mit mir; er führte mich nach Schluß seines WirtschaftSbetriebeö nachts gegen 2 Uhr in fein einige Straßen weiter entferntes Haus, wo er mir in seinem Salon eine Schlafstätte auf einem Sopha anwtes, dessen Länge und Breite in einem beleidigenden Gegensatz zu meiner Figur stand und mit dem ich deshalb die ganze Nacht in einem ingrimmigen Kampfe lag, der keine Minute Schlaf aufkommcn ließ. Ich schicke diese Erzählung voraus, um den verehrten Leser auf meine geringe Disposition für eine zweite schlaflose Nacht, noch dazu bet den Strapazen, die mir die selbe bringen sollte, vorzubereitcn. Am Morgen festlicher Empfang der fürstlichen Gäste, Glockengeläute, Böllerschüsse, lebensgefährliches Gedränge in den bergigen, mit einem vorsintflutlichen Pflaster ver sehenen Straßen, dann harter Kampf um einen Wagen nnd schließlich nahezu sechsstündige Fahrt hinter dem fürst, lichcn Zuge her auf staubbedeckter Straße nach Grabowo. Dort, in dem kleinen Städtchen, eine noch größere Ueber- füllnng als in Tirnowo, zumal der Fürst und sein Gast nebst ihrem Gefolge daselbst übernachteten. Also ohne Aufenthalt weiter bis Tschcrwenbreck am nördlichen Fuße des SchipkapasscS. Bon Gabrowo bis Tschcrwenbreck ist der Weg ziemlich eben und die braven Pferde, die mit kurzen Unterbrechungen von Tirnowo aus mit be wunderungswürdiger Ausdauer sehr rasch, stellenweise so- gar im Galopp, gelaufen waren, hatten ihre letzten Kräfte -usammengenommen, um im flinken Trabe noch diese letzt« »treck« ihr«» Tag,»dienst«» zn überwinden. I Von Tschcrwenbreck ans gedachte ich zu Pferde den Weg l über den Paß nach dem Dorfe Lchipka znrückzulegcn, da I wegen der großen Steilheit des Weges außer Ochsen gespannen in der Regel Wagen den Paß nicht befahren, Es war scholl 8 Uhr abends, als wir in Tschcrwenbreck anlangten, und seit einer Stunde bereits finster. Zum Unglück waren aber keine Pferde, außer einem alten, ab getriebenen Klepper, der soeben von jenseits des Passes kam und dem ich die Tour nicht noch einmal an dem Tage zumute« mochte, vorhanden, da alles von den zahl reichen zur Feier gekommenen Fremden mit Beschlag be legt worden war. Man riet mir, bis zum anderen Morgen zn warten, da im Laufe der Nacht einige Pferde zurückkchrcn würden; da ich indessen in dem kleinen, nur aus einigen wenigen Häusern bestehenden Orte kein anderes Nachtquartier zu erhalten befürchtete, als das war, wie ich cs in der letzten Nacht gehabt, vor allem aber erwog, daß ich morgen früh in den Troß des Fürsten Ferdinand und des Großfürsten Nikolaus ge- raten und dann in Schipka, wo ich mehrere Tage ver- bleiben mußte, kein Unterkommen mehr finden würde, so faßte ich den Entschluß, zu Fuß den Weg zurückzulegen. Ich weiß nicht mehr, woher meine Kenntnis kam — irgendwo hatte ich gehört, daß der Weg von Tscherwen- breck nach Schipka etwa 2 bis 2Z4 Stunden lang sei, und ich glaubte, diese unschwer zurücklegen zu können, denn ich bin sonst ein rüstiger Fußgänger, und manchen nngcebneten, mit Stcingeröll übersäten Felsenpfad habe ich in Montenegro, Albanien und Makedonien per psckes opostolorum, bei Tage, wie bei Nacht, schon zucückgelegt. Die Karte, welche ich beim trüben Schein einer Stall- laterne zu Nate zug, schien mir diese Annahme zu be stätigen. Mein Noflelenker freilich, dem ich von meinem Entschlüsse Kenntnis gab, bekreuzigte sich und suchte mich von demselben abzubringen. Es sei zu weit, zumal bei Nacht, ich solle bis zum andern Tage früh warten, bis Pferde wieder vorhanden wären. Indessen, ich glaubte, er spräche aus Eigennutz: vermutlich würde ihm eine Provision für mein Nachtlager nnd für das Pferd ent gehen, welch beides er mir besorgen wollte, wenn ich bliebe. Hätte ich doch auf ihn gehört! So zog ich denn kurzer Hand meinen Winterüber- Sicher an, da oben auf der Pafthvhe ein kalter Wind wehen sollte, nahm meinen Koffer in die Hand und wandte mich zum Gehen. Nach wenigen Schritten bereits begann der Aufstieg. Der Weg war, so viel ich in der Dunkelheit erkennen konnte, breit angelegt, und so glaubte ich nicht fchlgehen zu können, obgleich eS so finster war, daß ich nicht sehen konnte, wohin ich meinen Fuß setzte. Früher nur ein armseliger Saumpfad und al» solcher au» vergangenen Jahrhunderten überkommen, war der Weg zum ersten Male 1837 anläßlich der Rundreise, welche Sultan Mahmud Ik., in dessen Begleitung sich der nachmalige Feld marschall Graf von Moltte befand, durch den europäischen Teil seines Reiches angctreten hatte, in einen besseren Stand versetzt worden, und seit dem russisch-türkischen Kriege 1877—78 hatte man ihn nach nnd nach zu der breiten Verkehrsstraße gemacht, die er jetzt darstellt. Noch eben jetzt hatte man in Würdigung des bevor stehenden Fürstenbcsuches die bessernde Hand an ihn ge legt, namentlich auf seiner südlichen Hülste, wo er sehr jäh, zuweilen in einem Winkel bis zn 00 Grad, herab stürzt. Rüstig schritt ich voraus. Rechts nnd links hatte ich zunächst Wald, der nur ab und zu einer lichten Stelle Platz machte. Der Koffer schien mir nicht allznschwcr, die Luft war milde, über mir wölbte sich der dunkle Himmel, von dem winzige Sternchen hcrabblitzten. Ich wünschte mir Glück, daß ich dem Rate meines Kutschers nicht ge folgt war. Ich säße jetzt in dumpfer Stube oder läge auf einem zweifelhaften Bett, dessen legitimen Insassen mich vermutlich trotz der schon schlaflos verbrachten vor herigen Nacht nicht würden zur ersehnten Ruhe kommen lassen — ich zähle nämlich zu den auserlesenen Lieblingen dieses Gesindels, das nur zur Plage der Menschheit ge schaffen zu sein scheint (mein Freund, der Pfarrer, sagt statt „zur Plage" „zur Strafe"; hat der Gottesmann Recht, so büße ich Unschuldslamm für zwanzig Böse wichter) —, wogegen ich jetzt in freier, gesunder Luft einem Ziele zustrcbte, das ich hoffentlich binnen kurzem erreichen -und daS mir ein gutes Obdach gewähren würde. Nach einer Viertelstunde dampfe ich bereits. Schwere Schweißtropfen perlen von der Stirn herunter und netzen den Bart. Ich lüfte den Rock Und nehme den Hut in die unbeschwerte Hand. Indessen, dies Schwitzen bin ich bei meinen Wanderungen schon gewöhnt; cs ist zwar etwas unbequem, aber man nimmt es als Zubehör zu einer Fußtmrr mit in den Kauf. Ich wandere wieder 10 Minuten weiter und bleibe dann stehen, um Koffer und Hut mit den Händen zu talkschen. Rückschauend sehe ich schon tief unter mir die Lichter von Tschcrwenbreck. Weiterhin nach Norden erblicke ich einen Lichtschimmer — vermutlich Gabrowo, das zur Feier der Anwesenheit deS Fixesten illuminiert hat. Ich muß also schon ziemlich hoch gestiegen sein. Da kann es nicht lange dauern, bis ich die Paßhvhe erreicht habe! Frischen Mutes nehme ich meine Wanderung wieder auf. Der Wald hat mich jetzt auf eine Strecke verlassen. Ich sehe rechts in dunkeln Umriffen einen Berg über den anderen hervorragen. LirAS ist am Straßenrand eine Barridre. Vermutlich geht cö da jäh zu einem Abgrund hinab, der jedoch in dem Dunkel der Nacht vor meinen I Augen verhüllt ist. Wenn nur der Mond ansgehen würde! Aber da fällt mir ein, daß gerade jetzt kein Mondschein im Kalender verzeichnet steht. Fatal! Der Weg vor mir ist nur an einem helleren Schein kenntlich, irgendwelche Unebenheiten und Hindernisse aus demselben kann ich nicht bemerken. Alle Augenblicke trete ich in eine Vertiefung oder stoße an einen Stein. Und dazu gehe ich in Lackstiefeln. Man legt hier unten im Orient so viel Gewicht auf eine elegante Schuhbeklcidung, und ich alter Narr habe mich verleiten lassen, dieser Mode ebenfalls meinen Tribut zn zollen. Es ist jetzt o Uhr. Noch immer geht cs bergauf. Selbstverständlich. Denn sonst wäre ja der Paßübcrgang ein Kinderspiel. Es fällt mir ein, daß der Paß ja nicht durch eine Talsenknng geht, sondern sich über die Berge hinzieht, also das nicht darstellt, was man nach dem Sprachgebrauch allgemein unter Paß versteht. Wohl schon die Ureinwohner Bulgariens nnd RumclienS haben sich diesen Pfad gesucht und durch Generationen zurecht getreten, bis er all die Wandlungen durchlebt hat, die ihn heute zur der bequemsten Verkehrsstraße gemacht haben, welche den Norden des Balkangebirgcs mit dem Süden verbindet. Nur steigt er bloß 1200 Meter an, während die höchsten Spitzen der benachbarten Berge 1500 Meter messen. 1200 Meter! Ich rechne nach. Wenn ich alle Minuten sechs Meter aufsteigc, erreiche ich nach 3 Stunden 20 Minuten den Gipfel. Erst den Gipfel — dann noch der Abstieg! DaS macht mich doch etwas stutzig. Aber was, eine derartige Rechnung ist Unsinn. Man steigt /rascher bergauf, kommt flinker vorwärts. Und man rechnet doch wohl auch die Höhe vom MeercSnivcan auS. Zehn Uhr. Der Koffer ist doch eigentlich nicht leicht. Zwar habe ich nur einen Anzug, etwas Wäsche, einige Bücher nebst Schreibutensilien, ein Plaid nnd das auf Oricntreiscn fast unentbehrliche Kissen darin, und er mag wohl ursprünglich nicht schwerer als 15 Kilogramm ge wesen sein, aber er drückt doch jetzt ganz niederträchtig. Der Wald ist nach und nach zurückgeblieben. Nur au einer Stelle tritt er noch einmal hervor. Am Straßen rand zieht sich eine durch zusammengetragene Steine auf gebaute niedrige Mauer hin. Ich setze mich auf sic, um auszuruhen. Wie wohl das tut, wenn man keinen Koffer mehr in den Händen trägt! Da bewegt sich der Stein, auf dem ich sitze. Erschrocken springe ich auf. Ist cs eine Schlange, welche in ihrem Nest dnrch mein Gewicht unangenehm gestört wurde? Die Schlangen sollen ja mit Vorliebe im Gestein ihre Wohnungen auf schlagen. Aber nein! Do hoch oben wird es keine Schlangen mehr geben. Vermutlich ist eS also nur eine Eidechse, welche ich aufgestört habe. Beruhigt nehme ich meinen Koffer wieder zur Han- und ziehe weiter meines Wege». (Schluß folgt.)
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