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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 24.12.1902
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-12-24
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19021224015
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902122401
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902122401
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- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1902
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Diese ununterbrochene Binnenwanderung beschränkt sich auch nicht allein auf die Arbeiterbevölkerung, sondern alle Klassen werden von ihr berührt. Die Groß stadt bildet einen Anziehungspunkt für den Reichtum des ganzen Landes. Geschäftsleute mit Hochfliegenden Plänen, die vorwärts wollen, andere, die in Dorf nnd Kleinstadt zu Wohlstand kamen nnd sich von der Arbeit zurückziehen, Beamte im Ruhestande sind am „Zuge nachder Großstadt" stark beteiligt; selbst viele reiche Landwirte schätzen ihre Annehmlichkeiten höher als die gesunde Einsamkeit ihrer dörflichen Herrenhäuser. Aber sozialpolitische Bedeutung erhält jene Flutwelle lediglich durch die Fortschwemmung der landwirtschaft lichen Arbeiter in die Stadt und in die Fabrik. Die „Leute not" ist zu einer ständigen Klage auch der sächsischen Landwirtschaft geworden. Im sächsischen Landeskulturrat wurde darauf Hingewiesen, daß diese Not geradezu die landwirtschaftliche Entwickelung in Frage stelle, von anderer Seite wurde betont, daß sie selbst die Grundlagen des Staatslebens gefährde. Auch in sozialen Dingen ist cs vor allem notwendig, sich durch die ruhige Prüfung der Tatsachen ein sachliches Urteil zu bilden. Die agrarische Leutenot wird nun ausführlich in der leider viel zu wenig beachteten sehr umfangreichen Be gründung der heute so heiß Umstrittenen Zolltarifvorlage behandelt. Nach den Zählen dieser amtlichen Veröffent lichung Hat sich in den Jahren von 1882 bis 1895 auf 100 Hektar landwirtschaftlich bebauter Fläche im deutschen Reiche die Kopfzahl der landwirtschaftlichen Bevölkerung von 58,69 auf 54,79 Personen vermindert. Sie ist also in dreizehn Jahren um 3,90 zurückgegangen, wobei be rücksichtigt werden muß, daß diese Ziffer nicht etwa nur die landwirtschaftlichen Arbeiter, sondern auch die Frauen nnd Kinder cinschließt. In Sachsen wurden nach Ver letzten Gcwerbezählung etwa eine Million Hektar land wirtschaftlich benutzt. Bon den 193109 Betrieben waren jedoch 90 814 unter einem Hektar groß, weiter gab cs 48 953 Betriebe mit einem bis fünf Hektar, also über dreiviertel aller landwirtschaftlichen Betriebe sind in Sachsen Zweigwirtschaften, in denen Gesinde nur in Autznahmefällen gehalten wird. Eigentliche Großbetriebe mit hundert rmd mehr Hektar gab es nur 756 — 0,39 Proz. aller Betriebe. Nach dieser Betriebsstatistik und nach unseren eigenen Feststellungen in sächsischen Dörfern ge langen wir zu der Annahme, daß nur etwa der vierte Teil der sächsischen Landwirte an der Arbeiterfrage un mittelbar interessiert ist. Nach der sächsischen Berufs statistik ging in -er Zeit von 1882—1895 die Zahl Ver ständigen landwirtschaftlichen Tagelöhner in Sachsen von 41 295 auf 34 994, also um 6301 zurück, das eigentlich« land wirtschaftliche Gesinde verminderte sich von 98 320 auf 89 875, unter ihm verringerte sich die Zahl der Mägde um 5413. Diese Verlustziffern sind geringer, als man bei den starken umd immer wiederkehrenden Klagen über die Landflucht -er Arbeiter in manchen Kreisen vielleicht an genommen hat. Es ist dabei zu berücksichtigen, daß sie sich auf etwa 48 000 landwirtschaftliche Arbeiter ruid Gesinde beschäftigende Betriebe verteilen. Auch ist in Anschlag zu bringen, -aß die landwirtschaftliche Maschinentechnik be sonders seit 1882 ganz außerordentliche Fortschritte ge macht und in Sachsen sehr große Verbreitung gefunden hat; es gab 1895 in sächsischen landwirtschaftlichen Be trieben 88 381 landwirtschaftliche Maschinen. Würdigt man alle diese Zahlen, so gelangt man zu der Ueber- zeugung, daß die Rückwirkung des „Zuges nach der Groß stadt" und in die Fabrik auf die landwirtschaftliche Ent wickelung in Sachsen nicht so stark und allgemein ist, als man vielfach behauptet. Jedenfalls ist es mit Vorsicht und Einschränkung aufzunehmen, wenn betont wird, die Ent wickelung der Landwirtschaft sei durch die Leutenot ge radezu gefährdet und die Grundlage des Staates werde erschüttert. Auch wenn keine Ursache zu derartigen starken Be fürchtungen vorhanden ist, so bleibt die unleugbare Ab- ivendumg der dörflichen Bevölkerung von landwirtschaft licher Tätigkeit doch immerhin sowohl wirtschaftlich wie sozial ein so ernster Vorgang, daß er die ihm zugcmendete Aufmerksamkeit verdient. Nicht nur alle landwirtschaft lichen Bereinigungen beschäftigen sich fortgesetzt mit ihm, sondern auch Volkswirte und Sozialpolitiker aller Parteien spüren den Ursachen dieser Erscheinung nach. Diese schwere Ausgabe würde man sich sehr leicht machen, wollte man einfach behaupten, die Landflucht ist auf B e r- gnügungS« und Genußsucht »urückzuführen. Wenn das -er Fall wäre, dann brauchte die sächsische Dorfbevölkerung nicht abzuwandern, denn bei uns ist selbst in einfachen Bauerndörfern meistens überretchlich Gelegenheit zu Vergnügungen aller Art geboten. Die Vereinssimpelei hat sich auch das Dorfleben erobert und sie gibt meistens Veranlassung, daß die Dorsjugend aus den Tanzereien, Trinkcreien und Festefeiern kaum noch heraus kommt. Wer an der Vergnügungshctzc in seinem Dorfe noch nicht genug hat, der kann Sonntags bei den ausgezeichneten sächsischen Berkehrsverhültnissen meistens leicht in eine nahegelegene Stadt gelangen und dort ein übriges tnn. Nach nuferer Erfahrung spielt die Genutz- und Vergnügungssucht der Arbeiter bei der Landflucht eine untergeordnete Rolle. Biel wichtiger ist die Lohnfrage, aber auch sie ist nicht allein entscheidend, sondern sie bildet nur eine der Ursachen. Denn zwischen den landwirtschaftlichen und in dustriellen oder gewerblichen Löhnen ist der Unterschied nicht etwa erheblich. Zwar ist -er eigentliche Gcldlohn ge ringer, aber rechnet man den Naturallohn hinzu, so wird ein großer Prozentsatz der landwirtschaftlichen Mägde und auch der Knechte höher bezahlt, als die Arbeiter und Arbeiterinnen in manchen sächsischen Großindustrien. Eine Großmagd der Leipziger, Dresdner und Bautzener Gegend hat ein höheres Gesamteinkommen, als sehr viele Konfektionsarbeitertnnen, Weberinnen, Posamenten näherinnen nnd Verkäuferinnen. Nach den von der sächsischen Landesversicherungsanstalt veröffentlichten Zählen haben die land- »nd forstwirtschaftlichen Arbeiter gegenwärtig das nachstehende Einkommen: Bezirk Iahrrlvcrdiknst KreiShauptmannschaft Bautzen - Chemnitz - Dresden - Leipzig -» Zwickau männlich 500— 950 450— 850 » 550— 800 - 540-1000 - 440 - 800 - weiblich 360- 500 300—550 . 330- 500 - 330 - 510 . 270-560 . In dieser Tabelle sind die Naturalleistungen in Geld umgercchnct nnd, wie cs üblich ist, sehr niedrig angcsetzt. Für gewisse Arbeiten werden auch höhere Löhne bezahlt als sie in dieser und in der nachstehenden Tabelle zum Ausdnlck gelangen. Nener-ings bietet die Anwendung der Maschinentechnik Gelegenheit, auch bei der Boden bestellung mehr gelernte Arbeiter heranzuzichen nnd diesen gewähren viele Landwirte für gute Führung der Maschinen beim Säen, Mähen nnd Dreschen bestimmte Zulagen. Nach unseren Feststellungen erhalten in der Dresdner Gegend männliche Tagcarbeiter in der Ernte zeit 2,50 .F, weibliche 1,20 .4! und das Essen. Das bare Einkommen deS eigentlichen Gesindes stellt sich dort etwa wie folgt: Arbritkrgnirxc ZahrcSvkrbienst Großkneckt Kleinknecht Großmagd KIeinmagd Osterjungen 300 150-180 . 150—180 . 90-120 . 60- 70 - Daneben wird volle Verpflegung, Wohnung nnd Heizung gegeben. Ost sind außerdem im Dienstverträge gewisse Geschenke ausbedungcn, auch werden sämtliche Kassenbeiträge meistens von der Dienstherrschaft bezahlt. Den einheimischen nichtständigen Arbeitern ist von jenen Landwirten, bei denen sie in der Ernte tätig sind, häufig ein Stück Kartoffelfeld ohne Entgelt cingcräumt; in manchen Dörfern ist ihnen nach dem Einbringen de's Ge treides das „Nachrechcn" gestattet. Ueberschlägt man das alles, so kommt man zn der Uebcrzeugung, daß das gesamte Einkommen der in der sächsischen Landwirtschaft beschäftigten Arbeiter, wie ge sagt, nicht geringer ist, als jenes vieler Industriearbeiter mrd Gewerbegehülfen. Der allerdings geringere Geld lohn gibt aber leider vielfach den Ausschlag, namentlich bei den jüngeren Leuten. Sie lassen sich durch den höheren Barlohn in Stadt und Fabrik bestechen; das genauere Rechnen und die Einsicht kommt erst später, wenn sie der landwirtschaftlichen Beschäftigung und den dörflichen Ver- hältnifscn bereits zu stark entfremdet sind, oft auch durch Schulden beim Büdchenkrämer, Hauswirt und Hand werker festsitzen. Auch ein so erfahrener sächsischer Land wirt wie vr. Hübel auf Sachsendorf betont in seiner mit dem Renningpreise ausgezeichneten Schrift über die Gestaltung des landwirtschaftlichen Betriebes mit Rück sicht auf den Arbeitermangel die große Bedeutung eines hohen Barlohnes. Er wünscht eine kräftige Erhöhung desselben und hält es für falsch, auf seine Kosten etwa die Naturalleistungen zu stark auszudehnen. Aber auch vr. Hübel irrt sich nach unserer Uebcrzeugung, wenn er durchbltcken läßt, daß die landwirtschaftliche Arbeiterfrage in der Hauptsache gelöst sei, wenn der Ackerbau wieder einen angemessenen Gewinn abwerfe und in der Lage sei, höhere Löhne zu zahlen. Wir weisen immer wieder darauf hin, daß der Arbeits- lohn nach unserer Erfahrung wohl sehr wichtig, aber nicht da» Entscheidende ist. Die Leutenot in den Dörfern ist eine Frage der ganzen sozialen Stellung VeS Arbeiters in der Landwirt- s chaft. Auch vr. Hübel deutet das an, wenn er sagt, je mehr sich in der Arbeiterbevölkcrung der Wunsch nach möglichster Unabhängigkeit an'sbreite, um so mehr werde sich das Angebot von Arbeit verringern, die mit einer besonders weitgehenden Beschränkung der Freiheit ver bunden sei. Aber ist das denn notwendig? — Jedes Dienstverhältnis bringt Abhängigkeit von dem Arbeit geber mit sich. Das liegt in der Natur der Sache und kann nicht geändert werden. Aber das Maß der Willens- und Freiheitsbeschränkung kann ein verschiedenartiges sein. Der Knecht will nicht geknechtet sein. Und leider ist cö wahr, daß in dieser Beziehung von den Land wirten sehr viel, und vielleicht ohne alle Absicht, gesündigt wird. Auch mit einem musterhaften landwirtschaftlichen Betriebe läßt sich eine geregelte Arbeitszeit vereinbaren, an -er vielleicht nur in der Heu- und Ge treideernte nicht immer festgehalten werden kann. Aber auf wie vielen Gütern besteht denn eine geregelte Ar beitszeit? Meistens bemißt sie sich während neun Mo naten im Jahre nach Sonnenauf- und Sonnenuntergang. Selbst an den Sonntagen wird oft eine größere Arbeits leistung verlangt als notwendig ist. So bleibt vielfach dem verheirateten Gesinde tatsächlich keine Zeit, sich in erwünschter Weise auch einmal der Familie und eigenen Angelegenheiten zn widmen, die Mägde finden oft nicht die Mutze, sich ihre im Dienst des Gutsbesitzers ab gerissenen Kleider wieder anszubcssern, wenn sie nicht todmüde in der Nacht aufsitzen wollen. Diese sehr oft unnötig lange, weil gänzlich ungeregelte Arbeitszeit nennt der Aermere Dorfbewohner in Sachsen mit scharfer Betonung „Plack"; er will damit nicht stets die Schwere der Arbeit, sondern viel öfter ihre wider natürliche Ausdehnung bezeichnen, die den Menschen unter das Zugtier herabdrückt, dem auch der rücksichts loseste Bauer ganz bestimmte Ruhezeiten gönnt. Auch Ur. Hübel spricht sich mißbilligend über derartige Ar beitszeiten aus, und er empfiehlt, auf -en größeren Gütern die Gespannsührung von der Fütterung und Ab wartung der Zugtiere zu trennen. Welchen großen Ein fluß diese Arbeitszeit auf die Lcutcnot hat, wird viel zu wenig beachtet. Aber es leuchtet doch ein, daß cs für- junge männliche und weibliche Arbeiter ungemein ver lockend sein muß, au's der Landwirtschaft zu einer Be schäftigung übcrzugchcn, deren Dauer fest geregelt ist und die dem Arbeiter Zeit läßt, nach ihrem Abschluß täglich noch einige Stunden dem eigenen Millen leben zn können. Auch im übrigen herrschen im landwirtschaftlichen Arbcitsverhültniö Mißstände, die nicht etwa durch das wirtschaftliche Unvermögen, sondern durch Schlendrian, Unkenntnis und sehr übel angelegte Knickerigkeit — Spar samkeit wäre eine falsche Bezeichnung — verschuldet wird. Was um alles in der Welt kann einen Bauer, der leer stehende Anszugsräumc hat und das Brennmaterial nur aus seinem nahen Walde herein zu holen braucht, be stimmen, seinen Leuten während der schlechten Jahreszeit einen geheizten Aufenthaltsort zu verweigern! Es ist leider eine Tatsache, daß manche bäuerliche Dienstboten keine Gelegenheit haben, ihre bei der Arbeit durchnäßten Kleider zu trocknen. Dazu kommt oft noch schlechte Kost nnd nnpassende Behandlung. Arbeiter richtig behandeln, ist eine Kunst, die Erfahrung, Ueberzcugung und Men schenliebe erfordert. Der sächsische Bauer ist von Natur wohlwollend, und im allgemeinen sind die Fälle, in denen sich Dienstboten über grobe Behandlung auf Bauer gütern beklagen, selten. Häufiger hört mau jedoch der artige Klagen von Leuten, die auf Rittergütern arbeiteten. Auch hier scheinen cs weniger die Herren, als Inspek toren und Verwalter zu sein, die den rechten Ton dem Gesinde gegenüber nicht zn finden verstehen. Ost nimmt sich so ein jugendlicher Angestellter auch gegen erwachsene Personen noch das„Du" heraus, er würde cs aber als eine Ungeheuerlichkeit empfinde», auf die sofortige Entlassung folgte, wenn ein alter Knecht oder Hosarbeiter das mit gleicher Münze znrückgeben würde. In Ostekbien mag der ungenierte Ausdruck des H e r r e n b e w u ß ts e i n s in der Anrede vielleicht nicht empfunden werden, in Sachsen ist jedoch diese Zeit längst vorüber. Es gibt bet uns wenig einheimische landwirtschaftliche Arbeiter, die das „Du" des Herrn oder gar seines Angestellten nicht als eine unbe rechtigte Zurücksetzung empfinden. Man komme uns nicht mit patriarchalischem Brauch. Dieser Brauch ist eben nicht mehr angebracht, und in der Tat drückt sich eine wirkliche patriarchalische Gesinnung in anderer Form, als in der Verletzung berechtigter Avbeitergcfühle aus. Auch das Kapitel vou der Kost ist recht lehrreich. Genug zu essen gibt es fast immer, aber mit der Koch, kunst der Bäuerinnen ist meistens kein Staat zu machen. Unglaubliches wird in dieser Beziehung geleistet; fast immer aus Unkenntnis und weil man sich nicht die Zeit nimmt, die Nahrung für die Menschen mit derselben Sorg- falt zuzubereiten, wie für das Vieh. Hier wirkt nicht Spar- samkett übel, sondern Oberflächlichkeit. Versöhnend ist, daß Bauer und Bäuerin fast immer tapfer mitessen, aber trotzdem wissen die landwirtschaftlichen Arbeiter eine kräftige und gut zubcrcitete Kost sehr wohl zu schützen. Die Güter sind in ihrer Umgegend bekannt, wo diese den Leuten vorgesetzt wird, ebenso natürlich jene, wo die Be köstigung unzulänglich ist. Bei Vermietungen nimmt das Gesinde hierauf Rücksicht; die Güter mit guter Kost be kommen auch in der Erntezeit weit leichter einheimische Arbeiter, als die anderen, und die Rittergüter machen hier keine Ausnahme. Eine große Bedeutung hat auch die Wohnungs frage. Sie ist in den sächsischen landwirtschaftlichen Gegenden natürlich nicht so brennend, wie in den Städten und Jndustriebczirkcn, aber doch so wichtig, daß man iHv ernste Beachtung schenken muß. Sie kommt namentlich für verheirateten Arbeiter in Betracht. Wenn diese nicht ein eigenes Häuschen besitzen, fehlt cs oft an einer passenden Wohnung, und die Hülfe des Arbeitgebers ist notwendig. Wo dieser selbst Arbcitcrwohnnngen baut, empfiehlt auch I)r. Hübel, nicht etwa nur das dürftigste Obdach zu ge währen. Die Wohnung soll auch dem einfachen Schön- heitögefühl entsprechen, sie soll praktisch angelegt sein, so daß der Arbeiter sich in seinem Heim wohl fühlen kann. Durch die gewährte Wohnung soll der Dienstherr, nach einem Wort des genannten Landwirts, die Achtung zum Ausdruck briugcn, die er treuen Arbeitern zollt. Wohlfahrtspflege ans dcmLande! Fami lienabende, Bibliotheken, Borträge, Heimatpflege! Gewiß, das alles ist zu billigen. Aber selbst in einem so stark mit BildnngSbestrebnngcn aller Art durchsetzten Lande wie Sachsen ist cs zunächst notwendig, dahin zu wirken, daß die landwirtschaftliche Arbeiterbevölkerung sich einer vernünftigen Regelung der Arbeitszeit, gesunder Woh nungen, zweckmäßiger Nahrung und angemessener Be handlung erfreut. Das wirtschaftliche Wohlbe finden muß das nächste Ziel aller, sozialen Fürsorge sein. Nur, wo die Gemüts- und Geistcspflege auf diesem Grunde baut, wird sie Erfolg haben. In sächsischen Dörfern ist eine bessere materielle Fürsorge möglich, ohne daß der Dienstherr schwere Opfer an seinem Gut bringen muß. Aber allerdings müssen Opfer gebracht werden an alten Vorurteilen, Gleichgültigkeit, Schlendrian und Unwissen heit. Geld allein tut es nicht, in -cm ganzen Arbeite- Verhältnis muß mehr Menschenliebe, soziales Empfinden, höhere Einsicht in die Forderungen der Zeit zum Ausdruck gelangen. Der soziale Fortschritt in der angegebenen Richtung ist das ltz-ste Mittel, der Landwirtschaft wieder mehr heimische Arbeiter zuzusühren. Deutsches Reich. Berlin, 23. Dezember. lDie National sozialen als Schrittmacher der Sozial- d e m okrati e.) Nach der Annahme des Antrages Kar dorff haben die Nationalsozialcn in verschiedenen Orten Prvtestversammlungen cinbcrufen, die sehr zahlreich be sucht waren, aber weitaus am meisten von — Sozial demokraten, für die cs ganz angenehm sein konnte, aus so billige Weise zu Versammlungssüleu zu gelangen. Diese Sozialdemokraten gebrauchten dabei die Taktik, zu nächst einen nationalsozialcn Referenten sprechen zu lassen und sich sodann als Herren der Versammlung z» gerieren. Bei einer in Iserlohn abgehaltencn Prvtcsi- vcrsaittmlung kam dabei ein sür die Nationalsozialcn freilich nicht crguicklichcr Humor zur Geltung. Der „Vor wärts" berichtet darüber: „In der Diskussion nahm das Wort Genosse Limbertz, welcher den Ausführungen des Referenten beipflichtete, im übrigen aber das n a t i o n a l s o z i a l c Programm gehörig zer pflückte nnd deren Flotten- nnd Militaris mus-Rummel mit bitterer Satire geißelte." Die nationalsoziale Versammlung, die doch natürlich zu dem Zwecke cinberuscn worden war, der Partei neue An hängerschaft zu werben, dürste demnach kaum diesen Zweck erreicht haben. Der sozialdemokratische Redner bedrohte beiläufig gleichzeitig den Iserlohner Abgeordneten Lenz mann, der wegen der Haltung seiner Partei zur Ob- strnktion'sfrage einen gehörigen Denkzettel erhalten werde. Wenn Herr Lcnzmann das Mandat verlöre, so könnte die nationalliberale Partei als berufenste An wärterin darauf ganz damit zufrieden sein. Menn aber, wie es den Anschein hat, die nationalsoziale Partei den Wahlkreis mit einer Kandidatur beglücken will, so könnte ein ganz anderes Resultat hcrauskommeu. Wir haben die nationalliberale Partei die berufenste Anwärterin ans daS Mandat genannt, weil sich der Kampf in diesem Wahlkreise bkSber ausschließlich zwischen National, liberalen und Fortschrittlern bezw. Freisinnigen ab gespielt hat, wobei beide Parteien nahezu gleich stark waren. Sozialdemokraten und Zentrum — das letztere hat zwar keinerlei Aussichten, bringt aber immerhin einige Tausend Stimmen auf — gaben den Ausschlag. Die Sozialdemokraten konnten bisher niemals ni diesem so industriellen Wahlkreise auch nur in die Stichwahl kommen; ihre Stimmcnziffer ist aber von 2300 im Jahre 1888 und 4500 im Jahre 1>9O so angcwachsen, daß sie bei den letzten allgemeinen Wahlen mit 7315 Stimmen nur um 400 Stimmen hinter dem freisinnigen, und gar nur mit 300 Stimmen hinter dem nationalliberalcn Bewerber zurückstanden. Es fehlte also sehr wenig daran, daß sie in die Stichwahl gekommen wären. Wenn nun diesmal ein nationalsozialer Bewerber ausgestellt wird, so bat dieser selbst zwar nicht die leisesten Chancen, aber er
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