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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 03.10.1903
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1903-10-03
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19031003027
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1903100302
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1903100302
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
- Monat1903-10
- Tag1903-10-03
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Der vor wärts" bietet mit der Wiedergabe spaltenlanger Erklä rungen und Gegenerklärungen und erneuter gegenseitiger Beschimpfungen der kämpfenden Genoffen aber doch nur ein schwaches Spiegelbild -erwachsenden Erregung. Greller tritt diese -n Tage durch die Mandatsntvderlegung -es „Genoffen" Göhre, der Vielleicht schon bald Nachahmer in -en Abgg. vr. Braun (Frankfurt a. O.-Lebus) und Hildenbrand (Stuttgart) findet, die beide von den Bebelianern mit wahrer Berserkerwut bekämpft werden. Das Gleiche gilt von dem Vertreter -es 3. Berliner Wahl kreises, dem Rechtsanwalt Wolfgang Heine, der -war mit schwerer Mühe ein Vertrauensvotum seiner Wähler errungen hat, aber gerade dadurch dem Diktator Bebel noch anstößiger geworden ist. Mit einer Unbe fangenheit, die nur einer „Majestät" gestattet ist, präpa riert Bebel einen VersammlungS-Sieg über Heine, in dem er nur die Crsmedersozialdemokratt- schenCrsmezu jener Versammlung -ulaflen will! Dem ersten Napoleon gleich, schart Bebel auf diese Weise die alte Garde, di« ihm auf Tod und 'Leben ergeben ist, um sich, damit der revisionistische Heine die Rolle des entlaubten Stammes spielen lerne. So. schreckt der Ober-Demokrat Bebel nicht im mindesten vor einer Sichtung der „Ge nossen" nach einer Art aristokratischen Prinzips zurück, um über Heine zu triumphieren. Nachdem jüngst „Ge nosse" Zubeil bereits die Faust gegen Heine erhoben, wird sich dieser wohl die Frage vorlogen müssen, ob es nicht auch für ihn Zeit sei, sein Mandat niederzulegen. Diese- abstoßende Schauspiel der auf ein unsagbar tiefe» Niveau herabgesunkenen Zänkereien und das herein- gebrochene chaotische Gewirr im sozialdemokratischen Lager muß aber sowohl für die „Genoffen" wie für die andern Parteien durch sich selbst wirken. Nichts wäre verkehrter, als jet-; diese Gärung zu stören oder sie durch irgend welche Maß nahmen befördern zu wollen. Wenn in diesen für die Sozialdemokratie kritischen Wochen von anderer Seite kein« jener klassischen Mißgriffe und Ungeschicklichkeiten begangen werden, die -er Zentrumsführer Gröber mit dem sinnigen Ausdruck „Schweinoglück der Sozialdemo kratie" bezeichnete, so kann der Dresdner Parteitag sich zu einem Wendepunkte der Sozialdemokratie gestalten. Daß die persönliche Erbitterung der Genossen unterein ander deren Agitationskraft für die bevorstehenden Wahlen lähmen sollte, ist indes nicht zu erwarten. Im Gegenteil. Die Sozialdemokraten werden sich mit in grimmigster Wut in die Wahkbowegung stürzen, um die schrillen Mißtöne des jetzigen Haders durch lauteste Schlachtrufe für den Wahlkampf zu übertäuben, und fer nerhin alles versuchen, üm durch sensationelle Vorstöße die Nachwirkungen der Dresdner Tagung abzulenken. Ge- > lingt dies im gewünschten Matze nicht vorher, tz> soll im Reichstage gelegentlich des Militäretats eine Debatte entfesselt werden, die in ihrer 'Form vielleicht noch diejenige aus den Dezembertagen des vorigen Jahres hinter sich läßt. Für die Regierung und die bür gerlichen Parteien gilt es La, ruhig Blut zu bewahren und sich durch die beabsichtigten Provokationen der Sozial demokraten nicht auf einen Weg drängen zu lassen, der zur Zerstörung -es Parlamentarismus führen und der Reaktion Oberwasser bringen müßte. Anderseits aber er warten wir von der nationalliberalen Fraktion, -aß sie zum traurigen Kapitel der Soldatenmtß- handlungen sofort diejenige nachdrückliche Stellung nimmt, welche der tiefe Ernst dieser Vorgänge in unserem Heere erheischt. Damit wird sie zugleich der beabsichtigten wilden Agitation der Sozialdemokratie in dieser Frage von der Reichstagstribüne die schärfste Spitze abbrechen. Die badischen LaudtagSwahlen und das Zentrum. Das führende bayerische Zentrumsorgan stellt sich ver wundert und entrüstet darüber, daß die badischen National liberalen in ihrem Wahlaufrufe energisch Front argen das Zentrum machen. DaS Blatt folgert daraus, daß dadurch noch nachträglich die Stellungnahme der bayerischen Zentrumswähler, die bei den Reichstagsstichwahlen keinen Finßer für die Nationalliberalen gerührt hätten, gerecht fertigt würde. Diese Argumentation ist aus zwei Gründen verfehlt. Zum ersten ist eine Haltung, die das Zentrum im Juni eingenommen hat, doch unmöglich durch einen Wahlaufruf zu rechtfertigen, der Ende September erlassen wird. Zum zweiten aber ist, wie überall, so auch in Baden ein wesentlicher Unterschied zwischen den Reichstags wahlen und den Landtagswahlen zu machen. Bei den Landtags wahlen in Baden dreht sich der Kampf ausschließlich darum, ob die Nationalliberalen oder das Zentrum die führende Partei im badischen Landtage sein sollen; dies wird schon dadurch bewiesen, daß das Zentrum im badischen Landtage nur um ein Mandat hinter den Nationalliberalen zurücksteht. Unter diesen Umständen versteht es sich ganz von selbst, daß der nationalliberalen Partei Badens bei den LandtagSwahlea der Kampf gegen das Zentrum in allererster Reihe stehen muß. Niemand wird es dem Zentrum verargen, wenn es in seinem Wahlaufrufe ebenfalls entschiedene Stellung gegen die Nationalliberalen nimmt. Durch den nationalliberalen Wahl aufruf also wird es in keiner Weise entschuldigt, daß das badische Zentrum bei den letzten Reichstagswahlen ebenso wie schon vorher bei denen von 1898 drei Reichstags-Wahl kreise der Sozialdemokratie ausgeliefert hat. Den Dank dafür hofft das Zentrum wohl bei den bevorstehenden Land tagswahlen einzuheimsen. Ohne die Hülfe der Sozial demokratie wäre es dem Zentrum ja auch nie gelungen, die Position im badischen Landtage einzunebmen, die es inne hat und deren Verstärkung eS erhofft. Wenn das bayerische Zentrumsorgan dann weiter von dem „katholischen Volke" spricht, dessen Forderungen von den Nationalliberalen in schroffer Weise abgelehnt würden, so beweist gerade Baden, daß nichts verkehrter und anmaßender ist, als die Identifizierung des „katholischen Volkes" mit dem Zentrum. Wäre dies richtig, so könnten die National liberalen und die Sozialdemokraten zusammengenommen doch wohl nicht in einer Reihe überwiegend katholischer badischer Wahlkreise mehr Stimmen erhalten, als daS Zentrum, welches angeblich das „katholische Volk" vertritt und mit ihm identisch ist. Wenn beispielsweise in dem zu 84 Proz. katholischen Wahl kreise Donaueschingen der nationalliberale Bewerber in der Hauptwahl nur um 400 Stimmen hinter dem ZentrumSmanne rurückstand, so beweist dies doch wobl, daß daS „katholische Volk" über daS Verhalten der Nationalliberalen gegen klerikale Forderungen, besonders in der Kloster frage, aber doch wohl nicht so entrüstet ist, wie das bayerische Zentrumsblatt glauben machen möchte. Die Statistik der Reichstagswahlen beweist aber ferner, daS die Behauptung des bayerischen Zentrumsorgans, die badischen Nationalliberalen würden auf dem Trockenen sitzen, sobald sie nicht mehr durch den Beamtenapparat unter stützt würden, durchaus unzutreffend ist. Wie wenig Be deutung der Beamtenavparat bei den Reichstagswahlen Hat, daS ist ja in Bade» ebensowohl wie im ganzen Reiche durch daS starke Anwachsen der Sozialdemo kratie zur Genüge dargetan worden. Wenn also die National liberalen bei den Reichstagswahlen auch in überwiegend katholischen Bezirken Badens sehr stattliche Stimmenziffern erhalten haben, so spricht dies dafür, daß ihre Position nicht im Beamtenapparat, sondern im Volke wurzelt. Diese Tatsache berechtigt auch zu den besten Hoff nungen für die badischen Landtagswahlcn, und der Grab gesang, den das Zentrum schon so oft für die National liberalen angestimmt hat, dürfte nach diesen Wahlen ebenso verstummen, wie nach den Reichstagswahlcn, die bekanntlich eine starke Zunahme der natioualliberalen Stimmen im ganzen Reiche gebracht haben. Haager Schiedsgericht. Das Schiedsgericht in der venezolanischenAn- gelegenheit entschied gestern die Frage der Ver handlungssprache dahin, daß die Verhandlungen englisch oder französisch geführt werden müssen. Venezuela erhob gegen den Beschluß Einspruch, mit der Begründ»««, daß er sich auf die irrige Annahme stütze, daß Venezuela den von Frankreich im Artikel 4 des Protokolls gemachten Vorbehalt angenommen habe. Schiedsrichter v. Martens bemerkte hierzu, der Gerichtshof könne die Richtigkeit dieser Bemerkung Venezuelas in Ermangelung der amt lichen, hierauf bezüglichen Schriftstücke nicht prüfen. Nach neuerlicher Beratung entschied der Gerichtshof dahin, daß das Französische subsidiär zugelassen sei. Clunel-Frank- reich legte Anträge Belgiens, Spaniens, Frankreichs, der Niederlande und Schweden-Norwegens vor, die in der ersten Sitzung vom Minister Murawiew als Beklagte be zeichnet wurden, im Gegensatz zu den Blockade- mächten England, Deutschland und Ita lien, die Bevorzugung vor den anderen Mächten verlangen. In den Anträgen wird erklärt, die Bevorzugung sei rechtswidrig, und die kläge- rtsche Partei müsse zuvor ihre Forderung begründen. Die beklagte Partei beantrage, daß die Anträge den Blockade mächten sobald als möglich mitgeteilt werden, damit diese in angemessener Frist darauf erwidern kvimen. England bekämpfte den Antrag mit der Begründung, daß keine Kläger vorhanden seien. Die Blockademächte als Kläger qualifizieren, heiße, der Entscheidung des Gerichtshofes vorgreifen. Balfour, Chamberlain, Miluer. Der englische Premierminister! Balfour hielt gestern in Sheffield beim Frühstück des konservativen Landes» verbandes noch eine Rede, in welcher er zugab, daß die Lage schwierig sei. Bezüglich der Finanzfrage habe er nichts hinzuzufügen. Die jüngsten Ereignisse hätten im wesentlichen die Partei nicht gespalten, wohl aber die Regierung. England habe den größten Kolonialminister verloren, den eS je gesehen habe. Die Verdienste Chamberlains könnten nicht übertrieben, sein Platz nicht ausgefüllt wer den. Er habe den Gründen nichts hinzuzufügen, die Cham berlain zu der Annahme veranlaßten, er könne seiner Sache besser in nichtamtlicher Stellung dienen. Balfour fuhr fort, er sehe der Zukunft der Partei nicht mutlos entgegen, die unionistische Partei sei niemals besser gestellt, ihre Gegner niemals in hoffnungsloserer Verwirrung gewesen. Er glaube, das Land werde sich der Unionistenpartci zuwenden, wenn es in schwieriger Lage sei und große Interessen des Reiches auf dem Spiele ständen. Trotz des Pancgyriküs auf Chamberlain, der de« Premier anscheinend ganz im Banne des Tarifrevo lutionärs zeigt, gehen über die Art der Ausführung der beiderseits als notwendig erkannten ,Meform" die An sichten der beiden führenden Männer doch weit aus einander. Balfour ist überzeugt, daß die Be völkerung des Mutterlandes für eine Besteuerung der Lebensmittel nicht zu haben sei. Chamber lain dagegen hält nach wie vor an -er For derung von Eingangszöllen für Nahrungs mittel und an dem Grundsätze fest, daß nur auf diesem Wege das Endziel, engerer Anschluß der Kolonien an das Mutterland, zu erreichen sei. Es ist kaum anzu nehmen, daß sich Chamberlain durch die Erklärung deS Premierminister- in Sheffield bewogen fühlen wird, eine Revision feiner Anschauungen vorzunehmen, war er es -och, der den Premier auf seine Seite herübergezogen hat. Aus diesem Gegensätze der beiden leitenden Männer können sich Schwierigkeiten entwickeln, die jetzt noch un absehbar sind, die aber vielleicht schon in -erauffällig langen Dauer -er Bemühungen zur Kabinettsildung zum Ausdruck kommen. Nie mand weiß im Augenblicke, ob die Regierung das pro» tektionistische System mit oder ohne Schutzzölle zur Durchführung bringen wird, und diese Unsicherheit, die gegenwärtig das gesamte politische Leben beherrscht, droht auch, die wirtschaftlichen Interessen nachteilig zu be rühren. Lord Balfour hat eine Broschüre, Mr. Chamber lain ein ganzes Buch über die Frage der Tarifreform zu- fammengeschrieben und ins Volk geworfen. Diese dem Manne von der Straße etwas ungewohnte Kost wird erst verdaut werden müssen, ehe die Regierung die Massen aufrufen kann, zwischen einerpartiellen und einer totalen Schutzzollpolitik, -wischen Lord Balfour und Mr. Chamber lain zu wählen. — Hinsichtlich Lord Miln erS Feuilleton. Das neue Modell. Sj Roman von Paul Oskar Höcker. Nachdruck verboten. Zweite- Kapitel. Inzwischen hatte sich auf dem Abteiplatze wieder eine stattliche Menge angesammelt, die voller Spannung des Kommenden harrte. Aus dem mächtigen Trümmerhaufen inmitten des Platzes, dessen Größe man jetzt erst erkannte, wo der ehr würdige Kirchenbau in sich zusammengesunken war, ragten noch immer Mei hohe Mauern und ein Teil des Kreuz- ganges empor. Die Gestalten der rauchgeschwärzten Feuerwehrleute und Pioniere, die hier und dort mit Auf- räumungSarbetten beschäftigt waren, hoben sich im flackernden Lichtscheins der Fackeln nur in ungewissen Linien ab. An den Häuserwänden, die den Platz um gaben, verharrten die Zuschauer ziemlich regungslos. Wenn von Zeit zu Zeit ein Kommando erklang, so hielten sich die Arbeiterfrauen und Dienstmädchen die Ohren zu, wül sie glaubten, die längst erwartete Explosion werde nun erfolgen. Manchmal ging dann ein Lachen durch die Rethen und Scher-reden wurden laut. Alle Gespräche drehten sich natürlich um di« Sprengung. Mehr als deutsch hörte man sranzöstsch sprechen — oder vielmehr wallonisch, da- dem Französischen nabverwandte romanische Idiom, worin sich in Chateau-Lannev da» Volk verständigte. Liselotte lehnte im offenen Fenster neben Frau DauS. Mittwald hatte sich am Nachbarfenster mit seiner Staffelei eingerichtet; bei künstlicher Beleuchtung nahm er von dem eigenartigen Bilde wieder eine Skizze auf. Gon Zeit zu Zeit schlug den Frauen irgend eine Be merkung von den Zuschauern vor den Häusern an- Ohr. Da sie beide, wie die meisten gebildeten Einwohner von Lhateau-Lanney, sowohl die französische, ihre Mutter sprache, als auch die deutsche Sprache beherrschten, entging ihnen da» lebhaste Interesse nicht, da» die gesamte Be völkerung dem Vorgänge entgegenbrachte. Krau Dau- bemerkte, daß auch die Aufregung ihrer Freundin stetig wuchs. E» zwang sie immer wieder, da junge Mädchen zu beobachten. Liselotte besaß nicht den wallonischen Typus ihrer Eltern, sie war nicht brünett, wie die Mehrzahl der hier ansässigen Romanen, sondern sie hatte dunkelblondes Haar und graue Avgen. Ihre Figur war trotz ihrer einundzwanzig Kahre noch nicht »oll entwickelt. Sie war schlank, anmutig, aber durchaus keine auffallende Schönheit. Das wirklich Gewinnende ihrer Erscheinung lag bloß in ihrem offenen Blicke, ihren feinen Zügen. Die wechselvollen Ereignisse der letzten Tage hatten sie aus dem Gleichgewichte gebracht, ihr gan zes Wesen verriet heute mehr Temperament, als ihre Um gebung bei ihr vorausgesetzt hatte. Boller Unruhe folgte sie den Vorbereitungen da unten. Leutnant Donat hatte verschiedene Minenschachte graben lassen, von denen Stollen nach dem noch stehenden Gemäuer vorgetrieben wurden. Da der größt« Teil dieser Arbeiten unter der Erde auSgeführt wurde, konnten die Zuschauer die Vorgänge nicht übersehen. Mehrmals glaubte man daher, daß eine Stockung eingetreten sei. Aber kurz vor Mitternacht kam eine große Bewegung unter sämtliche Soldaten und Feuerwehrleute. Auf einen kurzen Befehl des jungen Offiziers verließen di« Mann schaften die Brandstätte und traten bis dicht an die Häuser wände zurück. Hier bildeten st« mit geringen Abstände« eine Kette, die das Publikum am unvorsichtigen Vor dringen hindern sollte. Der weite Platz war nun fast menschenleer und lag ziemlich dunkel da. Nur Leutnant Donat befand sich noch inmitten der Ruine, und zwei Unteroffiziere, die Fackeln in der Hand trugen, hielten in seiner Nähe. Nun wurden auch sie zurückgeschickt und der Kommando, führer hantierte allein zwischen den Trümmerhaufen; man sah ihn hier und dort sich bücken. Bretter und Bohlen beiseite schieben. Dttttwald hatte seine Skizze im Stiche gelassen und war zu Len Damen zurückgekebrt. „Binnen fünf Minuten soll das Werk getan sein", sagte er in sichtlicher Erregung, „ick bin aufs äußerste gespannt." Liselotte war bleich, ihre Blicke hefteten sich an die dunkle Gestalt des jungen Offiziers. „DaS ist ein gefahrvoller Beruf. Wenn seine Be- rechnumgen nun nicht stimmen, — wenn die Mauerreste nach einer andern Seite fallen, al» er eS erwartete?" „Da — jetzt setzt er die Zündschnur in Brand!" Sie sahen, wie Donat den beiden Fackelträgern Be fehl gab, zurttckzuweichen. Eilig verfügten sie sich in die Kette -er Soldaten. „Mein Gott", sagte Liselotte, „wird er selbst denn dort stehen bleiben? DaS ist ja gerade, al- wolle er daS Schicksal herauSfordern?" Unter den Zuschauern wuchs die Erregung. Die meisten Krauen erhoben die Arme und hielten sich die Ohren zu; die ängstlichen Blicke waren auf die exponierte Gestalt -eS Pionier» gerichtet. „Seht doch", rief Fra« Anna plötzlich, „er winkt «n» zu!" Donat hatte sich tatsächlich nach seinen neuen Be kannten umgewandt, für einen Augenblick beleuchtete der Schein seiner Fackel sein junges Gesicht, er grüßte dann, wies auf die schwärzliche Mauer, von der er kaum fünf zehn Meter entfernt war, und zog seine Taschenuhr. Das ängstlich erregte Stimmengewirr fiel bis zum Flüstern ab — dann herrschte Totenstille. Liselotte hatte die Hände ineinander gepreßt. Sie be reute es nun doch, hier geblieben zu sein. „Nein, ich mag es nicht sehen", entfuhr es ihr. Aber sie hatte nicht die Kraft, den Blick abzuwendcn. Wiederum atemloses Schweigen. „Da — da —!" kreischte plötzlich eine Frauenstimme auf. Irgend etwas rührte sich oberhalb der Trümmerstätte, man hörte ein Rollen, nicht stärker als ob ein Eisenbahn zug vorüberführe. Gleich darauf ein Klirren wie von GlaS und Eisen, Gepolter von Steinen — aber keine laute Detonation. Zu sehen war vorläufig gar nichts. Dicker, qualmähnlicher Staub wirbelte auf und erfüllte im Nu den ganzen Platz. Wie eine gelbliche Wolke schlug die dicke Staubluft auch gegen das geöffnete Fenster. Mitt wald hatte noch die Geistesgegenwart, es rasch zu schließen. „Es ist schon geschehen!" rief er. „Die Abtei steht nicht mehr!" Liselotte und Anna spähten sofort Lurch die vom Staub angelaufenen Fensterscheiben. Gegenstände waren durch die Dunstschicht hindurch, die über -em Platz lag, nicht zu erkennen. Man sah nur, daß die Fackelträger sich von allen Setten des Platzes wieder der Mitte genähert hatten. Wie ein feuriger Ring hob sich der Lichtschein der Fackeln auS der dichten Wolke ab. Der Stille unten folgte jetzt ein lebhafte- Stimmen gewirr. Man fragte, rief» einige lachten — die Mehrzahl aber hustete. Endlich legte sich der Staub ein wenig. Wo die Ruine noch kurz zuvor die Aussicht nach der andern Seite des Platzes versperrt hatte, erkannte man jetzt allmählich die gegenüberliegenden Häuserfronten: die Mauern, die Reste deS Sreuzganges, waren wie weg rasiert. Nur der Trümmerhaufen schien auf -er Nord sette beträchtlich angewachsen. Zitternd fragte Liselotte nach Donat. . „Da steht Donat!" rief Mtttwald. „Seht nur, er winkt «fieber ganz lustig zu un» her- über!" rief Frau DauS. Sie rissen nun doch da» Fenster auf. Der junge Offizier verließ soeben die Stelle, an der er während der Sprengung au»gehalt«n hatte, und begab sich mit einer Anzahl Fackelträger nach -em Nordrand der Brandstätte. Im Fackelschein sah man auch Cioilisteu sich näher wagen. Es war ein allgemeines Staunen, Fragen und Debattieren. Der ängstliche Druck war von den Gemütern genommen. Für die Mehrzahl der Zuschauer war das Erlebnis nur eine kleine Sensation der Nerven gewesen. Auf Lise lotte hatte es aber einen tiefen Eindruck ausgeübt. Sie war an diesem Abend nicht im stände, noch länger mit -en Freunden zu plaudern. Da auch die Sorge um den Vater sie nach Hause trieb, verabschiedete sie sich bald von Anna. Mittwald begleitete sie heim. Die Straßen lagen noch über hundert Meter weit in dickem Dunst, der Staub legte sich auf die Atmungsorgane und hinderte beide am Sprechen. Zu Hause erfuhr Liselotte von ihrer Mutter, daß der Vater- noch immer in tiefem Schlafe lag. Ohne sich über das Schauspiel der späten Nachtstunde weiter auszulassen, suchte sie ihr Bett auf. Andern Tags fühlte sich der Baumeister so weit ge kräftigt, daß er, trotz der ärztlichen Warnung, aufstaud. Aber seine ganze Haltung, der müde, grämliche Ton, in -em er sprach, bekundete «einen Angehörigen, daß das Ereignis ihn innerlich stark gewandelt hatte. Er mar sichtlich gealtert in den paar Tagen. Liselotte war es nicht möglich, heute ihre täglichen Musikübungen vorzunelnnen. Einmal hinderte sic daran die Rücksicht auf den Vater, dem vor allen Tingcn Ruhe anempfohlen war, dann zitterte in ihr selbst auch noch die Erregung von den letzten Erlebnissen zu heftig nach. In den Vormittagsstunden stellten sich die beiden Direktoren der Brüsseler Firma bei Kcrkhövt ein, in deren Begleitung sich der Vertreter der Versichcrungs- gesellschaft befand. Trotz des leidenden Zustandes von Kerkhövt ließ es sich nicht umgeben, daß die Regelung' der geschäftlichen Seite sofort in Angriff genommen wurde. Auch die Sachverständigen der Feuerwehr, der Fabrikwächter und andere Zcngcn, sowie die Vertreter der Polizeibehörde wurden zu der Konferenz hinzu gebeten. Aus Schonung für den in seinem Nervensystem so stark angegriffenen Baumeister erledigte man die Ber» Handlungen in seiner Privatwohnung. (Fortsetzung folgt.)
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