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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 17.12.1902
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-12-17
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19021217010
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902121701
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902121701
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1902
- Monat1902-12
- Tag1902-12-17
- Monat1902-12
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Preis die v gehaltene Petttzerle 8L Neklame» mtter dem vlrdakttonsstrtch («gespallen) 73 vor de» Fainllteaiiach» richte» (Sgrfpalteu) 30 Aabellarticher mrd gifternias «Nprrchevs höher - Bebahrev für lllachwetsungkn mch Offerteuauaahme 23 H (exck. Porto). Ertra-Vellage« lgefalzt), nur mit bei Marge»'Ausgabe, ohne PostbASrderuog ^l »0.—, mit Postbeiürderung ^l 70.—. Aunaiimeschlub für Anzeigen: Abend-Ausgabe- vormittags l0 llhe. Morgei-Aosgaber Nachmittags 4 Uhr Anzeige» stad stet» a» di« Arpebitivn zu richten. Die Erp,dMo» ist wochentags mmilterbrock-n geöffnet voa früh 8 bis abends 7 NM Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. Sk KO. Mittwoch dm 17. Dezember 1902. 88. Jahrgang. Verfehlte Spekulation. SS Die eben vollzogene Ersatzwahl im Reichstagswahl- kreise Ltegnitz eröffnet eine für die übertriebenen Er wartungen der Sozialdemokratie bezüglich des Ausfalles der nächsten Reichstagswahlen recht ungünstige Aussicht. Der Wahlkampf wurde geführt in der Zeit des wütendste» Streits um den Zolltarif, aber der Ausgang der Wahl hat alles eher als den Beweis dafür geliefert, das; die Wählerschaft mit der „besonderen Art", in der die sozial demokratische Partei das Zustandekommen des Zolltarifcs zu verhindern versucht hat, einverstanden gewesen wäre. Die Sttmmenziffer der Sozialdemokraten ist im Vergleich zu den letzten Wahlen nicht gestiegen, sondern gefallen, und vor allem ist gerade in den städtischen Bezirken die sozialistische Stimmenziffer erheblich zurückgegangen. Tie Städte aber sind naturgemäß die Hochburgen des Sozialis mus, und so ist ein Sttmmenrückgang gerade hier ein böses Omen für die Partei. Die Ursache dieses Fehlschlages liegt auf der Hand. Der revolutionäre Charakter der Sozialdemokratie mußte in Len letzten Monaten auch dem blödesten Auge er kennbar werden. Die Sozialdemokraten haben drei der wichtigsten politischen Freiheiten und Rechte, die Ver ein s - u n d B e r s a m m l u n g s f r e i h e i t, die P r e ß- freiheit und vor allem die parlamentarische Freiheit derart gemißbraucht, daß man auf den Ge danken kommen muß, eine durch den Mißbrauch bewirkte Beeinträchtigung dieser Freiheiten wäre ihnen sehr er wünscht, um Bürgertum und Regierung unheilbar mit einander zu verfeinden. Die Sozialdemokraten haben planmäßig in den letzten Wochen Versammlungen bürgerlicher Parteien, beispiels weise in Ltegnitz, Görlitz und Halle, derart gestört, daß der ordnungsmäßige Verlauf der Versammlungen unmöglich gemacht wurde. Sie müssen cs schon arg getrieben haben, wenn ein freisinniges Blatt, der „Liegnitzer Anzeiger", schreibt, die Sozialdemokraten hätten es nur dem Leiter einer Versammlung zu verdanken gehabt, daß nicht st arkeBauernfäu st ei h ne n arg mitspielten. Die Sozialdemokraten scheinen cs geradezu darauf abge sehen zu haben, Prügelscenen in öffentlichen Versamm lungen hervorzurufen. Wenn es aber dahin kommt, so liegt die Gefahr nahe, daß an eine Einschränkung der poli tischen Versanrmlungsfreiheit gedacht werden muß. In derselben Weise gefährdet die Sozialdemokratie die Preßfreiheit durch schamlose Ausbeutung dieses Rechtes. Wir wollen hier gar nicht an die immer widerkehrende Verhöhnung der höchsten Person im Staate, oder an die Parteigängerschaft für Deutschlands Feinde, sobald das Reich in einen Konflikt mit einem fremden Staate gerät, erinnern: wir verweisen nur auf den Fall Krupp und auf die Schamlosigkeit, die die sozialistische Presse noch be wies, nachdem sic diesen Mann ums Leben gebracht hatte. In weiten Kreisen der Presse waltet der Wunsch ab, daß der Redakteur vom Zeugniszwauge über den Einsender eines Artikels befreit werde,' aber darf man angesichts der verleumderischen Leistungen der sozialistischen Presse er warten, daß dieser Wunsch jemals in Erfüllung gehe? Im Gegenteile, man wird statt einer stärkeren Gewährleistung der Preßfreiheit eine Beeinträchtigung derselben be fürchten müssen, wenn die Sozialdemokratie es so weiter treibt. Und, was beinahe das Schlimmste ist: wenn Pri vatpersonen mit eklem Schmutze beworfen werden, wie im Falle Krupp, so würden weite Volkskreise eine Be einträchtigung der Preßfreiheit guthcißen, weil sie das richtige Empfinden dafür haben, daß die Presse dazu da ist, öffentliche Angelegenheiten zu erörtern, aber nicht, Privat personen zu beschimpfen. Auf dem Gebiete der Preßfreiheit und des Vcrsamm- lungsrcchtcö liegt die Gefahr der Beeinträchtigung be stehender Freiheiten in der Zukunft ; im Falle der par lamentarischen Einrichtungen handelt cs sich um eine vollzogene Tatsache. Der Antrag Kardorsf war zweifellos ebenso eine materielle Beeinträchtigung der parlamentarischen Redefreiheit, wie die Aenderungen der Geschäftsordnung eine formelle Verringerung des Schutzes der Minoritäten darstellt. Wer die parlamentari schen Freiheiten hvchhält, wird sich gewiß nicht freuen, daß cS so gekommen ist; aber er wird zugebcn müssen, daß die Sozialdemokraten durch ihr unverantwortliches Benehmen die Mehrheit zu gewaltsamem Vorgehen zwangen. Denn eine Fortdauer der Zustände, wie sie in den letzten sechs Wochen herrschten, hätte den Parlamentarismus noch viel mehr geschädigt, als cs durch die gewaltsame Erledigung des Zolltarifs geschehen ist. Der Zolltarif ist nun zu stände gekommen und das be deutet in mehrfacher Hinsicht eine böse Schlappe für die Sozialdemokraten: erstens find die ruhmredigen und vor eiligen Versicherungen ihrer Führer, sie würden den Tarif zu Falle bringen, auf das gründlichste Lügen gestraft^ zweitens sind die Verhandlungen schon sechs Monate vor den Wahlen zu Ende geführt worden, während sic bei einer anderen Taktik -er Sozialdemokratie bis in das Frühjahr gedauert und damit noch unmittelbar vor den Wahlen Agitativnsstvsf geliefert hätten; und schließlich ist zu dem Zustandekommen des Zolltarifcs noch eine Ver kürzung der Minvritätsrechte hinzugekommen. All dies ist den sozialistischen Abgeordneten zn verdanken, und da auch ihre Wähler nach dem Erfolge gehen, so wird cs den Herren Bebel und Genossen nicht leicht werden, der Mißstimmung der Wählerschaft Herr zu werden. Die „echte" sozialistische Wählerschaft, die durch den gründlichen Mißerfolg der Partei noch nicht ernüchtert ist, wird cs werden; die Mitläufer — und diese haben bisher stets einen erheblichen Prozentsatz der sozialistischen Ltimmziffcr geliefert — ist bereits durch das in den letzten Monaten so stark yervorgetrctcne revolutionäre und rohe Gebaren der Sozialdemokratie stutzig gemacht worden. Tie Schlüsse auf den Erfolg der Sozialdemokratie bei den nächsten Wahlen ergeben sich von selbst. Oie Exekution gegen Venemela. Unser militärischer Mitarbeiter schreibt uns: Tie Annahme des LchiedSgertchtsvorschlags des Prchidenten Castro muß heute, nach dem Bombarde ment Puerto Cabeltvs schon aus dem Grunde als völlig ausgeschlossen gelten, als die Verhandlungen eines Schiedsgerichts die Begleichung der Forderungen der koalierten Mächte an Venezuela nicht nnr in Frage stellen, sondern auch ans unabsehbare Zeit hinausschieben und zu keiner Sanierung der darauf bezüglichen Verhält nisse in Venezuela überhaupt führen würden. Die beiden Mächte sind sich völlig sowohl über die Berechtigung, als die Höhe ihrer Forderungen und über die Notwendigkeit des sofortigen Beginnes der Regelung derselben durch die geforderte Ratenazhlung von je 31000 Lstrl. klar, sowie zweifellos auch darüber, daß dieser Betrag kein zu hoher, selbst für die durch den Bürgerkrieg bisher in Anspruch genommenen Finanzen Venezuelas ist. Schon der un längst bei uns vfsiziöscrseits erfolgte Hinweis, die augen- blick.ichc, nicht ungefährliche schmerzhafte Phase sei durch- zumachcn, da auf andere Weise zu gedeihlichen Ver hältnissen nicht zn kommen sei, ließ den feste»' Entschluß der beteiligten Negierungen erkennen, die Aktion gegen Venezuela ohne Unterbrechung dnrchzusühren, cs fei denn, dasselbe bewillige sofort alle Forderungen, zahle die 84 000 Lstrl. und biete genügende Garantien. Dessen Regierung bedarf jedoch offenbar, nach über ein Jahr währender Versmleppuug der Angelegenheit, einer fühl baren nachhaltigen Lehre und des ferneren unzwei deutigsten Beharrens darin, daß die Geduld der Mächte ihr gegenüber zu Ende ist. Neue Verletzungen des Völkerrechts sind inzwischen mit der, wenn auch nur vorübergehenden Ver haftung des deutschen und englischen Konsuls in Puerto Cabello und der Besch'agnahme ihres Eigentums, sowie des englischen Dampfers „Tvpazc" zn den bisherigen hin- zngckvmmcn und haben den Konflikt noch verschärft, und ferner droht immer noch die Gefahr, daß die in Venezuela befindlichen Deutschen und Engländer, so weit sie nicht be reits das Land verließen, vom Präsidenten Castro als Geiseln betrachtet und behandelt werden könnten. Was die inzwischen getroffenen militärischen Maßregeln Castros bei den Küstenpläyen La Guanra und Puerto Cabello betrifft, so beweisen die selben seine Kopflosigkeit und Uebcrstllrzung in gleichem Maße, wie die politischen. Die beiden Plätze sind gegen die weit überlegenen schweren Marinegeschütze mit ihrer völlig unzulänglichen Armierung und ihren veralteten, wahrscheinlich halb verfallenen Befestigungen und zum Teil in aller Eile improvisierten Befestigungsanlagen, wie das baldige zum-Schweigen-bringen des Forts von Puerto Cabello bewies, keinen Tag zu halten. Ueberdies würde ihre Verteidigung diese beiden bedeutenden Hafenstädte Venezuelas einem vernichtenden Bombardement aus- seven. Das noch in zwölfter Stunde mit der Mnnitivns- ausrüstung versehene Fort Lavigia La Guayra's liegt zwar auf dominierender Anhöhe nur etwa 000 Meter von der Reede von La Guanra, südlich der Stadt, und ebenso weit das östlich der Stadt gelegene Fort Gavilan, während die dritte Befestigung, die der Trinchera-Batterie, unmittel bar am Strande der Reede gelegen ist. Allein da Vene zuela nnr über etwa 100 größere und kleinere, aber ver altete Bronzegeschütze und nur 6 Avmstrong- geschütze, außer seinen 30 Kruppschen modernen Feld geschützen, und 6 Maschinengewehre verfügt, so hätte ein Widerstand dieser alten Mauerwerkbesestigungen ohne jeg lichen Panzerschutz, gegenüber panzer-geschützte« schweren Schiffsgcschützen, keinen Augenblick ins Auge gefaßt wer den sollen. Dies scheint man venczvlanischerseits auch er kannt zu haben; denn die gesamte Munition wurde be kanntlich aus den Befestigungen La Guanras fortgeschafst, und zwar offenbar nach den die Straße und Balm nach Caracas beherrschenden, weiter rückwärts gelegenen Punkten, wo die nach La Guanra entsandten, nunmehr auf bereits öOOO Mann und — wohl viel zu hoch — auf 50 Ge schütze veranschlagten Truppen inzwischen die militärisch wichtigen Stellen besetzten und befestigten. Ebenso zweck los aber, wie die erberen Maßregeln bei La Guayra war, in Anbetracht der Minderwertigkeit der Armierung und der Werke, die begonnene Ergänzung der Kortbefestigung Puerto Cabellos. Tie an der Straße von La Guayra nach Caracas getroffenen militärischen Anordnungen aber deuten darauf hin, daß Präsident Castro sich der Inferio rität seiner militärischen Stellung an der Küste bewußt wird und bemüht ist, die 15 Kilometer von ihr entfernte Hauptstadt gegen einen even tuellen Vorstoß von Landungstruppen zu sichern. Caracas ist jedoch aus den bereits früher dargelegten Gründen vor einem solchen gesichert, nnd überdies schon vor etwa Jahresfrist von Castro mit, wenn auch voraus sichtlich nicht besonders starken Außen- werken zur Verteidigung versehen worden, die allerdings einem geregelten Angriff eines genügend starken Landungskorps nebst der erforderlichen Artillerie, keinen längeren Widerstand zn leisten, jedoch immerhin der Verteidigung einer starken Besatzung einen Anhalt zu geben vermöchten. Da icdvch alle waffendienst fähigen Venezolaner im Alter von 18 bis 50 Jahren zu den Fahnen einberufcn wurden, und diesem Ausruf scharenpweise folgen sollen, so dürste es an einer starken Anzahl, wenn auch höchst minderwertiger Verteidiger, der Hauptstadt und ihrer Zugangsstraße, gebotenenfalls nicht fehlen, da die Anzahl von 100000 Mann, welche von dem Londoner Vertreter Venezuelas als die von der Republik min destens ins Feld zu stellende bezeichnet wurde, nicht als Feuilleton. Talente in der Gefängniszelle, ii. Wir sahen an der Hand der Erfahrungen des früheren Gefängnisgeistlichen Reinhold Stade an einer Rcilrc staunenswerter Beispiele die eigentümlichen, ja sogar innerlich befruchtenden Anregungen, welche die Stille einer weltabgeschiedenen Gefängniszelle so oft auf das seelische Empfindungslebcn ausznüben vermag. Wird die selbe auch in den meisten Fällen für Geist und Gemüt eher einen niedcrdrückcndcn oder einschläfernden Einfinß üben, dem daher auch verwaltungsscitig durch die verschieden artigsten Anregungen, durch Zuspruch, Darbietung einer entsprechenden Arbeitsbeschäftigung usw. zu begegnen ist, so kann doch auch wieder im einzelnen Falle, wie wir sehen, diese nicht zu vermeidende Depression der Ge fängnishaft eine um so lebhaftere Reaktion eines ge steigerten geistigen Leben Hervorrufen nnd geradezu manche in den betreffenden Individuen ticfschlnmmerndc geistige Gaben zum Erwachen und zu einer vorher un geahnten Betätigung bringen. Stade schließt die Reihe dieser Bilder mit einem solchen, welches gerade für den letzten Gedanken einen besonders sprechenden Beleg geben wird. Ein junger Mensch vom Lande, kleiner Leute Sohn, der bis zu seinem vierzehnten Lebensjahre die Dorfschule besucht, dann in die Lehre gekommen, nirgends gut getan, und schließlich als Handarbeiter gearbeitet hat, kommt mit etwa neunzehn Jahren wegen verschiedener Streiche ins Gefängnis zu dreijähriger Strafe. Kurz vor Ablauf derselben entspringt er noch draußen auf der Außenarbett, durch die, trotz all seiner Bitten um Verzeihung, dauernde Abkehrung seines Elternhauses in hochgradige Aufregung gebracht und von fieberhafter, nervöser Sehnsucht nach Freiheit ergriffen; er bricht, um sich auf seiner Flucht andere Kleider nnd Nahrungsmittel zu verschaffen, nochmals verschiedentlich ein und erhält, wiederum ergriffen, nunmehr eine sieben jährige Zuchthausstrafe, ein schier nncrsteiglicher Berg von Jammer und zerstörtem LebenSglück als tragische Frucht des einen unseligen Augenblickes der Flucht im Angesichte der in kürzester Zeit winkenden Freiheit! Da galt es denn nun vor allem, im Hinblick auf diesen entsetzlichen Kontrast, den jungen Menschen vor der so nabe liegenden Verzweiflung zu bewahren und auf den rechten christlich-religiösen Standpunkt zu bringen. Die Verzeihung der nun endlich erweichten Eltern trug zu seiner Beruhigung und Läuterung das Ihrige bei, und nun vollzog sich in dem inneren Leben dieses tief beklagenswerten jungen Menschen eine bemerkens werte Umgestaltung. Nicht nur daß er in aufrichtiger Reue über feine verlorene unstätc Jugend seinen Blick im heiligen Ernste über die vor ihm liegenden Jahre schwerster Buße hinweg auf den Aufbau eines von Grund auf zu erneuernden Lebens richtete, sondern er entfaltete sich auch in diesen einsamen Stunden niederschmetternden Jammers und bitterster Gewisscnsvorwürfe, in denen wohl der Zehnte an Jllgcnd und Zukunft trostlos ver zweifelt wäre, seine formalen Geisteskräfte in der Stille seines Zuchihauslcbcns geradezu bewundernswert. Wie sein innerer Mensch in der Trübsal seine Läute rung bestand, so wurde durch sie und in ihr auch eine intellektuelle geistige Reife gezeitigt, die sicherlich auch die Beachtung der Psychologen verdient. Zeugt cs nicht von einer wunderbaren, inneren Entfaltung, daß ein junger Mensch mit Dorfschulbildung, der in seinen paar un- stätcn Jngendjahreu nirgends eine weitere und tiefere Ausbildung erfahren hatte, sondern in Handarbeit groß geworden, nach jahrelanger Gcfängniöhaft nun in: Zucht hause unter all den deprimierenden entsetzlichen Ein drücken von Roheit, Elend und niedrigster Gesinnung u. a. folgenden Brief an seinen früheren Seelsorger schreiben konnte: „Die Zusendung Ihres werten Schreibens vom lO.Iuni hat mich sehr erfreut, um so mehr, da ich am 27. Juni, als an meinem Geburtstage, durch einen Brief meiner lieben Mutter freudig überrascht wurde. O, wie lange schon hatte ich auf den Zuruf „Vergebung" gehofft, und nun bekam ich nach langer Zeit den ersten Brief, welcher aber auch von überströmender Mutterliebe geschrieben war. Eure Hochwürden sind ja Spender des Trostes und wissen wohl auch, wie dem zu Mute ist, der, von aller Welt verstoßen und verlassen, die Worte vernimmt: „Ich vergebe dir." Und wenn es auch nur sterbliche Menschen sind, so ist es doch etwas Erhabenes, wenn man weiß: hier und da ist noch jemand, der mein Bestes will und nicht Vorurteile halber alles verdammt. Wohl hat es lange gewährt, ehe sic mir schrieb, aber um so größer ist die Freude, Mutterliebe ist ja ohne Schranken, das weiß ich, habe eS oft erfahren, aber des Dankes ver- gefsen. . . . Wenn mir mein Vater doch auch schreiben wollte, aber sein Herz ist hart wie Stein, all mein Bitten ist fruchtlos. So bitte ich Sie herzlich, schreiben Sie ihm, daß er mir ein freundliches Wort gönnen und mir doch auch einmal einen Beweis väterlicher Liebe, statt über mäßiger Strenge, zeigen soll, die mir doch so nötig und von frühester Jugend versagt -lieb... Ja, was soll man dazu sagen, daß der jüngste Brief dieses jungen Mannes von der wachsenden Erweiterung seines geistigen Lebens und Strebens in folgenden Wor ten Zeugnis gibt: „Ich suche mir durch fleißiges Ar beiten die Zeit zu vertreiben. Auch habe ich durch be sondere Lektüre eine andere Anschauung der Tinge be kommen. Ich habe die letzte Zeit mit viel Interesse die Shakcspcarischen Werke gelesen; besonders waren cs aber die philosophischen Werte Schopenhauers, welche ich hier alle gelesen habe, wobei ich Muße hatte, mich selbst zu prüfen. Seine Charakteristik ist sehr wahr und hat mir viel gezeigt, was ich bin. . . . Ich konnte dem hohen Flug dieses Geistes nicht recht folgen, aber mit Hülfe des Fremdwörterbuches und Kürschners Wcltsprachen-Lexikvn habe ich mich daun einigermaßen hincingcfunden. Die Welt als Wille und Vorstellung mußte ich zweimal durch gehen, ehe ich begriff, wie cr's meinte. Die Verneinung und Bejahung des Willens zum Leben, von der Nichtigkeit des Daseins und „Vom Tode" hat mich sehr bewegt und mich auf mancherlei ernste Gedanken geführt. Ich bin ja nur ein Laie, habe mich aber gewundert und gestaunt über die Schätze dieses Wissens. ... Er nennt die Seele das Ding an sich und sagt selbst, daß dieser Wille oder Urkraft besteht und nicht verwest, sondern den Konso- litätsgcsctzen gemäß fortbesteht, und er findet nichts, dem diese Kraft unterworfen ist. . . . Ich sage mir, wenn es etivas gibt, was fvrtbesteht, so gibt es auch etwas Höheres, das hierüber Macht besitzt, und habe oft gedacht: „Was die Vernunft nicht fassen kann, das beut dir Gott aus Gnade an." Seine Ethik hat mich über vieles be lehrt, aber mit — bloß — moralischen Grundsätzen wird wohl selten ein Mensch bestehen können. Er könnte mir den Glauben an Gott nicht rauben, so viel er auch dagegen streitet. . . . Goethes Werke und seine Gedichte haben mich sehr erfreut, hauptsächlich Wilhelm Meister ist einzig; aus den Gedichten habe ich verschiedene gelernt. Ich bin auch tm Besitz von Emanuel Gcibcls Gedichten, und dieser fromme Sänger hat mich durch seinen zarten und doch oft so tiefen Sinn schon recht oft erfreut. . . . Ich hatte seit längerer Zeit das Englische unterlassen, habe aber jetzt eine Gram matik zum ersten Unterricht und lerne wieder fleißig .. Ein jugendlicher Zuchthäusler, mit den elementarsten Borkenntnissen der Dorfschule, der in seiner kargen Frei- zeit Schopenhauer studiert, an Shakespeare und Goethe sich erfreut, Geibel treffend beurteilt und, wie man sieht, selbständig und nicht ohne Verständnis über die schwie rigsten Fragen, in die er sich mit eisernem Fleiße hin eingelesen und hineingearbeitet hat, reflektiert! — DaS ist gewiß keine alltägliche Erscheinung und ein inter essanter Fall für eine einmal in der Zukunft zu schreibende Gcfängnispsychvlogie. Diese Gefängnispsychologic zu schreiben, halten wir niemanden für geeigneter als den Verfasser der Er innerungen „Aus der Gesängnisseelsorgc'' und der „Ge- fäugnisbildcr" selbst. Es wird ja wohl an Einwen dungen gegen die Auffassung Stades nicht fehlen, und vor allem wird man ihm Vorhalten, daß er zu leicht bereit ist, aus den Verhältnissen heraus zu erkläre«, zu entschul digen, zu verzeihen und den „Mantel der christlichen Liebe" über Schuld und Verfehlung zu decken. Aber das war seines heiligen Amtes schönstes Vorrecht — soll doch der Verbrecher im Kerker nicht geistig und moralisch untergchen, sondern wieder auf einen menschenwürdigen Standpunkt gehoben werden —, und sodann und vor allem: gerade das liebevolle Eingehen auf die Gedanken welt des Sträflings, das väterliche Bekümmern um seine Sorgen und Wünsche, die tägliche Zwiesprache mit dem Aiisgcstoßencn, von dem niemand, ost selbst Vater und Mutter, nichts mehr wissen will, gerade sie haben ihn in die Lage versetzt, ganz und gar sich hincinzudcuken in die Gefühls- und Gedankenwelt jener Verdammens-, aber auch tief Beklagenswerten, in der Seele der Gefangnen und Zuchthausinsasscn zn lesen, ihre IdcenwcK, die Motive ihres Handelns, ihr Verzweifeln und Hoffen zu verstehen, manche Seele auf diesem Wege unmittelbarster persönlicher Annäherung zu retten, manchen Auf gegebenen dem Leben und der Gesellschaft wicderzugcbcn und eine Fülle von Erfahrung und gute», wohlgemeinten Nates auszugiebeu, aus der der Strafrichter sowohl wie der Gcfängnisvcrwalter, der Seelsorger sowohl wie der Psychologe, der Theologe wie der Sozialethikcr, der Staatsmann wie der Menschenfreund sicherlich genug lernen können. Vor allem möchten wir sein Buch denen empfehlen, welche mit zu rate» und zu taten haben an der so sehnsüchtig erwarteten Reform des Strasvoll- zuggesetzes. Alle aber, die im Kampf gegen das Ver brechen sich die Hände reichen, werden in den „Gefängnis bildern" ein kaum zu erschöpfendes Arsenal der besten Waffen finden. Wir schließen ganz im Sune Stades, besten gefängniSseelsorgerischc Schriften ganz zweifellos bleiben den Wert haben werden, mit der Mahnung: Gebt keinen Menschen gänzlich verloren, so lange noch ein Puls in seinen Adern schlägt. DeS Menschen Herz ist bildsam bis zu dem Augenblicke, wo es aufhört zu schlage», man muß nur den Meißel an der rechten Stelle und tm rechten Winkel anzuseyen verstehen! -r-
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