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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 10.10.1903
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1903-10-10
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19031010024
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1903101002
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1903101002
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
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Er antwortete nämlich aus den in einigen Blättern erhobenen Vorwurf, es sei eine schwere Unterlassungssünde der Regierung, daß sie nicht unmittelbar nach dem sozialdemokratischen Parteitage in Dresden, der den revolutionären Charakter der Sozialdemokratie so klar bekundet habe, mit be stimmten Gegenmaßregeln geantwortet — er erwiderte auf diesen Vorwurf, die Regierung hege die Ueberzeuguzig, daß Lurch die Dresdner Verhandlungen jedem patriotisch denkenden Deutschen die Augen geöffnet sein müßten,- sie hoffe bestimmt, daß es der deutschen Bürgerschaft ge lingen werde, eine Gesellschaft, deren Endbestrebungen so unverhüllt auf den Umsturz der bestehenden Staatsein richtungen, ja sogar auf Beseitigung -er Religion ge richtet seien, aus eigener Kraft von sich abzuschütteln, und -aß man die geeigneten Mittel und Wege dazu finden werde. Es war zu erwarten, daß Herr von Hammcrstein mit dieser Erklärung zu neuen Borwürfen Veranlassung geben würde. In solchen ergeht sich denn auch der größte Teil der konservativen Presse. Besonders heftig aber treten die ,Hamb. Nachr." auf, die entrüstet ausrufen: „Wohin sind wir geraten, wenn preußische Staatsministcr öffentlich eine Auffassung bekunden, wie dies Herr v. Hammer stein getan hat? In was muß sich das ehedem so feste Ver trauen des Volkes auf die Kraft der preußischen Regierung verwandeln, wenn ein Minister öffentlich bezeugt, daß von feiten der Regierung nichts geschehen soll, um die Umsturz partei zu bekämpfen, daß man alles dem Bürgertume überlassen will, weil man Angst vor dem Kampfe und vor Attentaten hat und weil diese Angst wirksamer ist als der kategorische Imperativ, den Fürst Bismarck in seiner klassischen Aus- drucksweisc mit den Worten charakterisierte, ihm sei, als ob jemand mit der Pistole auf sein Gewissen ziele. Wir können immer nur wiederholen, daß von einer noch so energischen Be kämpfung der Sozialdemokratie seitens der bürgerlichen Par teien wenig oder gar nichts zu erhoffen ist, so lange die Negie rung sich zurückhält, anstatt die Führung in diesem Kampfe zu übernehmen, wie es ihre Pflicht wäre. Wie kann von dem Bürgertum energische Bekämpfung der Sozialdemokratie ver langt oder auch nur erwartet werden, wenn es sieht, daß die Regierung die Hände in den Schoß legt und mit den „Genossen" L tout prix auf friedlichem Fuße zu leben wünscht? . . . . Wir können immer nur wiederholen: Die Macht der Sozial demokratie zu brechen, wäre für den Staat ein Leichtes, wenn seine leitenden Männer nur die Kurage dazu hätten. Es ge nügte: Brandmarkung der sozialistischen Be strebungen durch die Gesetzgebung als staats und gemeingefährlich und als strafbar, Zer störung der sozialistischen Organisation, d. h. Verbot aller sozialistischen Vereine und Druckschriften, Beschlagnahme der Partei kassen und Beseitigung der geheimen Ab stimmung bei der Wahl." Wir glauben, Fürst Bismarck würde auch für diese Auslassung eine klassische Bezeichnung gefunden haben. Ter große Realpolitiker hätte jedenfalls nicht vergessen, daß die „Kleinigkeit", welche die „Hamb. Nachr." ver langen, ohne Staatsstreich nur möglich ist mit Zustim mung des Reichstags und daß im neuen Reichstage 81 Sozialdemokraten, 0 Mitglieder der Freisinnigen Ver einigung, 21 der Freisinnigen Volkspartci, 6 der Deutschen Volkspartei, 100 des Zentrums, 7 Welfen, 16 Polen und 1 National-Sozialer sitzen, also 8umma summarum 241 von 307 Abgeordneten, die weder für die Brandmarkung der sozialdemokratischen Bestrebungen durch die Gesetz gebung als staats- und gemeingefährlich und als strafbar, noch für Zerstörung der sozialistischen Organisation durch Verbot aller sozialistischen Vereine und Druckschriften und durch Beschlagnahme der Partcikasscn, noch endlich für Be seitigung der geheimen Abstiimnung bei der Wahl, ge schweige denn für alle drei Forderungen zu haben sein werden. Er, der großeRealpolitiker, würde auch ganz sicher lich, wenn er noch lebte, mit solchen Forderungen nicht an den Reichstag mit der Absicht hcrantrcten, im Ablehnungs fälle zur Auslösung zu schreiten und an die Nation zu appellieren. Denn, wie die Dinge heute liegen, wäre ein solches Mittel ein höchst gewagtes, das höchstwahrscheinlich zu einer Niederlage der Regierung, d. h. zu einer Stär kung des ohnehin schon sehr mächtig gewordenen Gegners führen würde. Man darf wohl die Frage aufwerfen, ob dieser Gegner, wenn Fürst Bismarck noch länger am Ruder geblieben oder Nachfolger gefunden hätte, die ganz in seinem Sinne das Steuerruder des Reiches geführt hätten, so mächtig geworden wäre. Aber auch wenw die Antwort auf diese Frage ver neinend lauten müßte, würde man dem jetzigen Kanzler micht zumnten dürfen, den Versuch zu wagen, alte Unter lassungssünden mit einem verzweifelten, höchst wahr scheinlich gründlich fehlschlagenden Mittel gut zu machen» Gerade Fürst Bismarck würde einen solchen Rat nie ge geben haben. Freilich so, wie Herr v. Hammerstein, hätte er nicht gesprochen. So lau und lahm dem Bürger tume anheim zu geben, die Mittel und Wege zur Ab- schüttelung -er sozialdemokratischen Gesellschaft selbst zu finden, lag nicht in seiner Natur und nicht in dem hohen Pflichtbewußtscin, das ihn beseelte. Er hätte dem Bürger tume alle seine Vegehungs- und Unterlassungssünden vor gerückt, äber ihm auch mit seiner hinreißenden Beredsam keit zu erkennen gegeben, was es in einer so verfahrenen Situation zu tun habe, um, wenn der rechte Augenblick gekommen sein würde, der Regierung eine feste Stütze im Kampfe gegen den Umsturz sein zu können. Daß Herr v. Hammerstein so gar keinen, den Mut des Bürger tums stärkenden Hinweis auf das fand, was im geeigneten Momente die Regierung zu tun gedenke und von der Nation erwarte, das ist cs, was w i r ihm zum Vorwürfe machen und was uns mit der Sorge erfüllt, in den Kreisen der jetzigen Regierung wisse man weder das Bürgertum, noch sich selbst zu beraten. Das Urteil von Bayreuth. Mit 8 Jahren Zuchthaus und 10 Jahren Ehrverlust muß der Hauslehrer Dippold Verbrechen büßen, die zu dem Entsetzlichsten gehören, was sich seit Menschen gedenken zugetraaen hat. Manch einem wird die <sühne für die unerhörten Untaten milde genug erscheinen, und nur die Erwägung, daß in die Verruchtheit des Gerichteten pathologische Momente hineinspielen, wird viele mit der verhängten Strafe sich abfinden lassen. Die Lehre aber, welche die fürchterlichen Vorgänge mit erschütternder Deutlichkeit predigen, besteht in der Mahnung, daß Eltern den Weg zu ihren Kin dern sich allezeit freihalten und keinen Dritten zwischen sich und sie treten lassen sollen. Mit welchem Erfolge zur Kontrolle eines ErzieherSdrittePersonen geschickt werden, das lehrt der Verlauf der „Untersuchung"', die der Direktor des neurobiologischen In stituts Professor I)r. Bogt in Berlin an den Kochschen Kindern vorgenommen hat. Man muß gestehen, daß die ausführlichen Prozeßberichte der Presse grade in diesem Punkte mit um so größerem Befremden gelesen werden, je verhängnisvoller die Verhältnisse nach jener Untersuchung sich gestaltet haben. Man vergegenwärtige sich: in Gemeinschaft mit Ritt meister Bugge begibt sich Professor Vogt zur Unter suchung der Knaben nach Ziegenberg. Rittmeister Bugge sagt ihm, daß er den Dippold entweder für einen sehr idealen Menschen oder für einen Schurken halte; Dip pold gesiebt, daß er die Knaben gezüchtigt habe; trotzdem nimmt Professor Vogt keine Untersuchung der Knaben vor, weil von Mißhandlungen nicht die Rede gewesen war! Auch die „Schlaflosigkeit" der Knaben fällt Professor Vogt nicht auf; und von seiner dem Dippold erteilten Weisung, die Knaben alle vier Wochen von einem Nerven arzt untersuchen zu lassen, teilt Prof. Vogt den Eltern nichts mit, weil er, Prof. Vogt, wegen Zeitmangels die Unter suchungen nicht vornehmen konnte. Wenn ein Professor im besten Glauben so verfuhr, dann liegt am Tage, daß Mittels personen in derartigen Verhältnissen das persönliche Eingreifen der Eltern wohl ergänzen, aber nicht ersetzen können. Un geheuerlichkeiten, wie die von Dippold verübten, gehören zu den Ausnahmen. Erziehungsfehler im kleinen aber, die oft genug dauernde und ernste Schädigungen im Gefolge haben, kommen häufiger vor. Und auch von ihnen gilt, daß die Eltern vor allen Dingen selbst die Augen ausmachen und sich der Mittelspersonen lediglich als Helfer bedienen sollen. Chambcrlainsche Rechenfehler. In dem Programm, das Chamberlain zur Bearbeitung -er Massen und zur Propagierung und Popularisierung seiner auf eine politische Einheit des britischen Reiches ge richteten Ziele ausgestellt hat, spielt die Behauptung, daß der auswärtige Handel Englands in der Einfuhr dauernd zu nehme, in -er Ausfuhr dagegen stagniere oderab nehme, eine wichtige Rolle. An scheinend erhält diese Behauptung «ine Stütze durch die Nachweisung über den auswärtigen Handel Englands im September -. I. Danach stieg die Einfuhr, di« einen Ge samtwert von rund 46,4 Millionen Pfd. Sterl. repräsen tierte, um fast 3,7 Millionen, die Ausfuhr dagegen, im Werte von 23,3 Millionen Pfd. Sterl., zeigte eine Abnahme von nahezu 0,5 Millionen gegen den gleichen Monat des 97. Jahrgang. Vorjahres. Die tatsächlichen Verhältnisse aber gestatten nicht, daraus eine Schlußfolgerung im Sinne des Cham- berlainschen Grundsatzes von der ernsten Gefährdung des englischen Handels und Wohlstandes zu ziehen. Allerdings ist die September-Einfuhr gestiegen, und zwar um 4^ Mil lionen gegen September 1900, um nahezu 7,4 Millionen gegen September 1901 und, wie erwähnt, uan 3,7 Millionen gegen September 1902. Der Hauptanteil dieser Zunahme entfällt auf die Einfuhr von „Nahrungsmitteln, (Se- tränken und Tabak", wie die Bezeichnung dieser Gruppe in der amtlichen Statistik lautet. Während in dieser Ab teilung Tabak noch einen Rückgang der Einfuhr um 470 000 Pfd. Sterl. aufweist, beziffert sich der Gesamt zuwachs der Gruppe auf über 2,5 Millionen Pfd. Sterl., so daß auf sie allein über 70 Prozent -er gesamten Ein fuhrzunahme kommen. Nun aber rührt diese Vermehrung der Einfuhr fa st ausschließlich aus -en briti schen Kolonien her: aus Indien wurde im Septem ber des laufenden Fabres Mais und Getreide im Gewicht von fast 5,9 Millionen engl. Zentnern gegen nur 2,7 Mil lionen engl. Zentnern im Sevtember 1902 eingeführt. Das ist eine Steigerung der indischen Nahrungsmitteleinfuhr um 3,2 Millionen engl. Zentner. Die Gesamtzunahme dieser Einfuhr ans den Kolonien Und dem gesamten Aus- lande betrug aber nur 4 Millionen engl. Zentner. Man wird annehmen dürfen, daß an dem Rest von 0P Millionen engl. Zentnern auch Kanada in beträchtlichem Maße be- teilligi war. Angesichts dieser Gestaltung der Einfuhr im September ist es also nicht angängig, die Behauptung, daß durch die Besteuerung der Nahrungsmitteleinfuhr zumeist nichtenglische Produktionsländer getroffen würden, aufrecht zu erhalten. Nicht anders liegt die Sache bei der Ausfuhr. Dem Minus von 0,5 Dttllionen Pfd. Sterl. gegen den September 1902 steht ein Mehr von Uber 1,8 Millionen Pfd. Sterl. im Vergleich mit dem September 1901 gegenüber, und die diesjährige September-Ausfuhr ist überhaupt nur zweimal. 1900 und 1902, übertroffen wor den. Wenn ferner für den Chamberlainschen Grund gedanken geltend gemacht wir-, daß im September des laufenden Jahres die Ausfuhr der Schiffsbauinduftrie um 270 000 Pfd. Sterl.. die der Eisenmanufaktur um 173 000 Pfd. Sterl. und die Baumwollausfuhr um 335 200 Pfd. Sterl. gegen den gleichen Monat des Vorjahres zurück gegangen fei, so kann es sich dabei nur um vorübergehende Erscheinungen handeln. Denn der auswärtige Handel in den ersten 9 Monaten des laufende« Jahres zeigt auf der Seite der Ausfuhr für die Eisen- und Stahlwarenindusirie ein Mehr von fast 2 Millionen Pfd. Sterl. und für die Bauurwollfabrikation ein solches von 1,3 Millionen Md. Sterl. Allein die Schiffsbau industrie schließt in der Periode Januar-September 1903 mit einem Weniger von 1.4 Millionen Pfd. Sterl. ab. In Wahrheit steht also der ungünstigen Gestaltung der September- Ausfuihr in der Eisen- und in der Baum wollindustrie ein sehr beträchtliches Mehr in -em Ge sa m t a u f k o m m e n der Ausftihr gegenüber, gleichfalls also eine Erscheinung, welche die Ausführungen Chamber lains in Glasgow und Greenock nicht zu stützen geeignet erscheint. Schließlich sei noch bemerkt, daß die Gesamt zunahme der Ausfuhr um fast 7,9 Millionen Pfd. Sterl. gegen Januar-Sevtember 1902 die Einfuhrsteigcrung der gleichliegenden Periode des laufenden Jahres um nahezu 2,5 Millionen Pfd. Sterl. übertroffen hat. Feuilleton. Das neue Modell. Ss Roman von Paul Oskar Höcker. Ätaclwrua verboten. Nun kam fast ein gewißer Humor in ihm auf, der sie dann ansteckte. Er bat, sie ein Stück Wegs begleiten zu dürfen. Gern duldete sie dies. Es war ihr selbst ein Bedürfnis, wieder einmal mit einem Deutschen zu sprechen. Auch über ihr eigenes Studium, wofür sie daheim kein Ver ständnis fand. „Wissen Sie, gnädiges Fräulein", sagte er impulsiv, „Sie sollten Len Weg von Ihrem Professor nach der Avenue Viktor Hugo immer zu Wasser zurücklegen. Das ist zwar ein Unnveg — Sie müsseir am Trocadero dann noch den Omnibus für das letzte Endchen nehmen —, aber es hätte einen großen, großen Vorteil." „Nun?" fragte sie munter, da er sie mit einem plötzlich so Hellen Blick fröhlich, fast übermütig ansah. „Ja — sogar einen doppelten Vorteil. Den für Tie: daß Sie dann täglich ein bißchen an die frische Luft kämen. Und -en für mich: daß ich Sie dann öfter mal zu sehen bekäme." Sie ward ein wenig verlegen. „Denn sehen Sie, wenn ich künftighin die Werkstatt mittags verlasse, dann fahre ich immer schleunigst mit -em Tram in die Stadt, da nehme ich rasch das Frühstück irgendwo in der Nähe des Konservatoriums, dann mar schiere ich zu der Brücke, die hier vor uns liegt — und da warte ich dann, bis ich meine junge Landsmännin mit ihrem Biolinkastcn ankommcn sehe, mit -er ich, bevor wir beide wieder zu unserer Arbeit wandern, noch rasch ein Biertelstündchen verplaudern kann." Er hatte eine so frische, herzliche, naive Art, mit der er das vorbrachte, daß sic ihm nicht böse sein konnte. „Wollen Sic, Fräulein Kerkhövt?" fragte er noch ein mal, alS sie seinen Worten noch ein Weilchen in leichter Verwirrung nachhing. Sie waren inzwischen zu einer Brücke des Seine- flusseS gekommen. Auf den blauen Fluten schossen die „Mouettes", die weißen, kleinen Vcrbindungsdampfer, die den Omnibusdicnst auf dem Wasser ausübten, munter hin und her. Kür zehn Centimes beförderten sic die Paffagiere durch ganz Paris. Liselotte, die in ihrem ganzen Leben erst ein einziges Mal an Bord eines Schiffes gekommen war — das war bei einer Rheinreise mit den Eltern gewesen —, konnte der Lockung nicht widerstehen. Und sie empfand hernach eine so große Freude über diese Fahrt, daß sie es auf richtig bedauerte, daß man schon so schnell am Kai von Passy landete und aussteigen mußte. Vom Wasser aus gesehen, präsentierte sich Paris so glänzend und vorteilhaft, wie nur denkbar. Durch breite Straßen öffneten sich fortgesetzt die Ausblicke auf die wunderbarsten, ehrwürdigsten und berühmtesten Monu- mcntalgebäude der ganzen Stadt — viele wandten ihre Front auch direkt der Seine zu —, es war ein ganz einziges Panorama, in seinen majestätischen Eindrücken geradezu überwältigend für die deutsche Kleinstädterin. Das, was sie nun so überraschend schnell innerlich an Donat heranführte — und was sicher auch ihn be stimmte, einen gewissen freundschaftlichen Anschluß an sie zu suchen —, das war wohl hauptsächlich das Gefühl -es Berlorenseins inmitten dieser lärmenden, hastigen, glänzenden, nervösen Riesenstadt. Als sic landeten und er sie noch eine Strecke Weges begleitete, um ihr die nächste und beste Route zu zeigen, die sie künftighin von der Dampferstation aus innehalten mußte, dankte er ihr herzlich dafür, daß sie seinem Vor schlag gefolgt war. Sichtlich hatte sich seine Stimmung aufgeklärt. Auch sein Gesicht wies sogleich etwas frischere Farben ans. „Sic dürften sich nicht so völlig in der Fabrikarbeit vergraben", sagte sie mit leichtem Vorwurf. „Sie sind als Berufssoldat nun doch einmal mehr ans Freie gewöhnt." „O, ich muß die Zeit ausnutzen, die mir noch bleibt. Ich habe nämlich einen großen, großen Plan." „Marion sagte mir schon, Sie seien hinter einer höchst geheimnisvollen Erfindung her." „Ja, es ist eine Arbeit, mit der ich mich damals schon beim Jngenieurcomito viel abgeplagt habe. Aber dort waren ja die Mittel nicht, um die nötigen Versuche vor- zunchmen. Jetzt wird mir cs schon gelingen." Die kurze Aussprache hatte wieder seine ganze Hoff- nungssrendigkcit wachgerufen Er brachte sic noch bis an die Straßenecke, von wo sic sich mit Leichtigkeit zurückland, dann verabschiedete er sich. „Und werden Sie morgen nach der Stunde wieder zu Schiff heimkehren?" fragte er, indem er sie bittend ansah, während er den Hut »och in der Hand hielt. „Ich weiß noch nicht", sagte sie sichtlich verlegen. Hernach ärgerte sie sich über ihre scheue Art. Im Augenblick, als sie das gesagt, hatte sie doch fest und be stimmt vorgehabt, andern Tags herzukommen. Seltsam — ihrer Schwester wich sie an diesem Nach mittag aus. Sie suchte sich zwar immer einzureden, diese Begegnung sei doch nicht so wichtig, daß sie sofort darüber sprechen müßte, womöglich über jedes Wort, das sie mit Donat ge wechselt, Rechenschaft ablegen sollte. Dennoch erwartete sie die Heimkehr des Hausherrn etwas unruhiger und un geduldiger als sonst: Gewiß hatte Donat ihrem Schwager erzählt, daß er sic getroffen hatte, und es kam nun bei Tisch zur Sprache. Zufällig konnte das Diner heute erst eine halbe Stunde später seinen Anfang nehmen; George Capttant war so lange in der Fabrik festgehalten gewesen. „Es sind viel Aufträge?" fragte Marion gleichgültig, als man sich endlich zu Tisch setzte. „Nichts von Bedeutung; bloß Donat machte uns heute zu schaffen. Es stimmte ihm wohl etwas in seinen Berech nungen nicht. Glanz niedergeschlagen und verzweifelt warf er endlich die Arbeit hin und lief davon. Aber unterwegs schien ihn der „kuror tsutonieus" von neuem gepackt zn haben. Er kam als ein ganz anderer zurück, war fröhlich und unternehmungslustig — und den ganzen Nachmittag über hetzte er mir meine Monteure und Ar beiter durcheinander. Bald brauchte er solch eine Schraube, bald wieder solch einen Stift, dann wieder dieses und jenes — cs war manchmal kaum mit ihm fertig zu werden. Dabei hat er eine Art, daß er uns alle um den Finger wickelt." „Und Sie haben Vertrauen zu seiner Arbeit?" fragte Liselotte den Schwager. Capttant nickte lächelnd. „O — natürlich ahne ich, wor aus cs hinaus soll." Man ging darauf zu einem anderen Thoma über. Liselotte atmete tief auf. Donat schien in der Fabrik also nichts darüber gesagt zu l>aben, daß er ihr mittags in der Stadt begegnet war. „Gewiß erschien es ihm zu unwesentlich", sagte sie zn sich. Aker der nächsten Begegnung sah sic doch mit großer Spannung entgegen. Als sie am folgenden Tage um ein Uhr den Biolin- untcrricht verließ, traf sie Donat gleich dicht beim Hause des Professors. „Ich fürchtete schon, Sie würden nicht kommen, weil es über Nacht so rank geworden ist", sagte er, nachdem er sie begrüßt hatte. „Ja. cs soll ein starkes Unwetter heute nacht gewesen sein. Als ich zur Stunde ging, telephonierte man auS der Fabrik, der Sturm habe einen Schuppen abgedeckt." Donat nickte. „Darüber kann ich Ihnen ganz genau Bescheid geben, denn ich war dabei." „Sie waren dabei? Sie waren in der Nacht in der Fabrik?" „Ja, denken Sie, als ich mich gestern von Ihnen ge trennt hatte und nach Auteuil kant, da war mit einemmal all meine Zagheit weg nnd ich ging mit einem Feuereifer wie noch nie ans Werk. Das ist Ihr Verdienst. Ja wirk lich, Fräulein Kerkhövt. Einer von den Monteuren blieb bei mir — und über all den Versuchen war es im Nu Mitternacht geworden. Ucber die größte Schmierigkeit bin ich nun hinaus." „Aber Sie ruinieren sich sicher Augen und Nerven, wenn Sie so unvernünftig lang, bis in die tiefe Nacht hinein, auf dem Werk bleiben." „O, daS hat keine Gefahr. Ich sehe doch das Ziel schon so nahe vor mir. Da kann ich nnn nicht mehr in lang samem Schritt darauf losgehen. — Ach, Fräulein Kcrk- hövt, ich bin so glücklich, so unbändig glücklich, ich kann cs Ihnen gar nicht schildern." Man sah cs ihm an: sein ganzes Wesen strömte heute, trotz der Strapaze, die hinter ihm lag, eine gesunde, strahlende Frische aus. Als sie wieder an Bord waren, erkundigte er sich auch voll warmer Anteilnahme nach ihren Fortschritten im Mltsiknnterricht. Dabet kamen sie rasch in einen herz lichen Plauderton. Es war ein hübsches Biertelstündchen, das sie da ver lebten. Trotzdem ein hc'tigcr Blasius vom Marsfelde her wehte, der Liselottens orschblonde Löckchen flattern machte, nnd es ziemlich rauh hier auf dem Wasser war, fühlten sie sich doch beide aufs wärmste angchctmelt: cs tat ihnen so wohl, wieder einmal deutsche reden zu können. Auch heute erwähnte sie daheim nichts von der Be gegnung. Diesen naiven, traulichen Ton, der zwischen ihnen herrschte, würde Marion fa doch nicht verstanden haben. Vielleicht hätte sie sogar irgend cine Bcmerl" fallen lassen, die der Sache ihre Harmlosigkeit raubte. Denn soviel Menschenkenntnis hatte sich Liselotte in zwischen erworben: ikrc schöne Schwester, so viel ge feiert, so viel umschwärmt sie auch war, konnte doch nicht- weniger vertragen, als wenn in ihrer Nähe irgend ein Herr sich irgend einer andern Dame widmete. Es schien Marion so selbstverständlich, daß in ihrem Umkreis alle Welt ihr huldigte, daß sic eine Ausnahme hiervon geradezu als Kränkung ansgcfaßt haben würde. Diese stillverschwiegene Freundschaft mit -cm Lands mann bildete nun di« nächste Zeit über das Haupterlebnit für Liselotte.
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