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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 17.10.1903
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1903-10-17
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19031017024
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1903101702
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1903101702
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
- Monat1903-10
- Tag1903-10-17
- Monat1903-10
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Trotha vorgeworfen worden war, er müßte entweder von seinem Gedächtnisse im Stiche gelassen worden sein oder die Wahrheit verschwiegen haben. Das Urteil gegen Leid aber wird zunächst die Folge haben, daß eS Herrn Maximilian Harden für den Verurteilten in die Schranken ruft. In ferner „Zukunft" schrieb er nämlich kurz nach der Verhaftung Leids, also vor dem Dresdener Partei tage, der ihn veranlaßte, mit Bebel sowohl wie mit seinen revisionistischen „Freunden" unbarmherzig ins Gericht zu gehen: „Neulich wurde im „Vorwärts" ein Höflingsplan aus geplaudert, der darauf ziele, PichelSwerder in kaiserlichen Privat besitz zu bringen. Dann solle ein großes Schloß gebaut, die Insel streng abgesperrt und zu einem eigenen Reichstagswahlbezirk um gewandelt werden. So werde der Kaiser vor Aufruhr und Straßenputschen sicher sein, auf der Döberitzer Heerstraße schnell Truppen heranziehen können und sich den Schmerz ersparen, den Wahlbezirk seines Wohnortes von einem Sozialdemokraten vertreten zu sehen. Der Plan gehe von dem Hofmarschall Herrn von Trotha aus, und der Burgenbaumeister Bodo Ebhardt habe schon ein Projekt ausgearbeitet. Das las man ohne allzu große Verwunderung. Vielleicht ist's wahsr, vielleicht nicht. Daß der Kaiser mit der nahen Möglichkeit eines Bürgerkriege» rechnet, wissen wir leider; viele Reden denten solche Möglichkeit an. Bor zwei Jahren, als er die neue Kaserne des Garde-Grenadierregiments Kaiser Alexander einweihte, sagte Wilhelm der Zweite, er brauche in seiner Nähe eine „feste Burg" und eine persönliche Leibwache, die „Tag und Nacht bereit sein muß, für den König ihr Blut zu verspritzen", denn „wenn die Stadt Berlin noch einmal, wie im Jahre 48, sich mit Frechheit und Unbotmäßigkeit gegen den König erheben sollte, dann seid ihr, meine Grenadiere, berufen, mit der Spitze eurer Bajonette die Frechen und Unbotmäßigen zu Paaren zu treiben". Seitdem ist die Macht der Sozialdemokratie, die der Kaiser eine „hochverräterische Schar", eine „Rotte vaterlandsloser Gesellen", eine feige Mördersippe ge nannt hat, noch beträchtlich gewachsen. Warum sollte der Bericht des „Vorwärts" also nicht wahr sein? Irgend ein Höfling mochte den Plan ersonnen und der Kaiser gesagt haben: „Legen Sie mir ein Projekt vor." Tas wäre sein un bestreitbares Recht; und wir hätten, wenn, wie angenommen werden muß, die gesetzlichen Vorschriften beachtet würden, nichts drein zureden, hätten höchstens einmal wieder zu bedauern, daß dem Monarchen Wesen und Streben der an Stimmenzahl stärksten Partei so unwahrhaftig dargestellt werden... Herr Leid soll groben Unfug verübt und sich der Majestäts- beleidigung schuldig gemacht haben. Auch die Todfeinde der Sozialdemokratie haben in dem inkriminierten Artikel keine Spur eines dieser beiden Delikte zu finden vermocht. Bon einer Majestätsbeleidigung könnte selbst dann nicht die Rede sein, wenn behauptet worden wäre, der Kaiser habe den Plan gebilligt." Nun ist Leid wegen Majestätsbeleidigung zu 9 Monaten Gefängnis verurteilt, und zwar mit folgender Begründung: Nach der Beweisaufnahme könne eS keinem Zweifel unter liegen, daß der Plan zu einer Kaiserinsel, wie ihn der „Vorwärts" geschildert, niemals bestanden habe. Der Artikel stelle die Sache so dar, als ob der Kaiser diesen Plan in vollem Umfange gebilligt habe, und somit sei der Artikel auf den Kaiser gemünzt, wie auch aus der Ueberschrift hervorgehe und ferner aus der Bezugnahme auf die Döberitzer Heerstraße, sowie aus der Tendenz dcS „Vorwärts", die nicht auf den Schutz des Kaisers, sondern im Gegen teil auf die Untergrabung seiner Autorität gerichtet sei. Der ehrverletzende Charakter des Artikels liege klar zu Tage und deshalb sei der Angeklagte Leid der Majestäts beleidigung schuldig. Wenn nun Herr Harden nicht die auf ibn bezüglichen Vorgänge auf dem Dresdner Parteitage und die an diesen sich knüpfenden Auseinandersetzungen mit her vorragenden „Genossen" zum Anlasse nehmen will, den „Genossen" Leid im Stiche zu lassen, so ist er genötigt, daS Urteil einer scharfen Kritik zu unterziehen; denn nicht einmal die Ansicht des Gerichts, daß die Tendenz des „Vorwärts" nicht auf den Schutz des Kaisers, sondern im Gegenteil auf die Untergrabung seiner Autorität gerichtet sei, kann Harden gelten lassen, der noch kürzlich bedauerte, „daß dem Monarchen Wesen und Streben der an Stimmenzahl stärksten Partei so unwahrhaftig dargestellt werde". Schweigt er sich trotzdem über das Urteil aus, so wird nicht nur Bebel sein Urteil über ibn aufs neue revidieren, sondern auch die Gesamtbcit der „Genossen" wird ibn als schnöden „Gesinnungslump" anseben und mit allen Mitteln zu vernichten suchen; tritt er für Leid gegen dessen Richter ein, so wird sein Stern aufs neue bei den Genossen leuchten und die Welt um eine Sensation reicher werden. Wir befürchten das letztere und möchten schon aus diesem Grunde wünschen, daö Urteil über die Kaiserinsel-Leistung des „Vorwärts" wäre der bürgerlichen Presse überlassen worden. Die Sozialdemokratie bet den prcnßischen Landtagswahle». Der „Vorwärts" regt sich gewaltig darüber auf, daß gegen einen Gemeindevorsteher in der Provinz Posen disziplinarisch in der ersten Instanz auf Dienstentlassung erkannt ist, weil er den «aal seines Gasthauses dauernd an eine sozialdemokratische Arbeiterverbindung ver mietet hat. Zu dieser Erregung ist nicht der min deste Anlaß vorhanden. Die erwähnte Entscheidung des KreiSauSschusscö steht in voller Uebereinstimmung mit der konstanten Rechtsprechung deS preußischen Ober- vcrwaltungögerichts, nach welcher eine auch nur in direkte Begünstigung sozialdemokratischer Bestrebungen mit den Pflichten selbst mittelbarer Staatsbeamten, zu denen die Gemeindevorsteher gehören, völlig unvereinbar ist und einen solchen Beamten der Achtung, deS Ansehens und des Vertrauens unwürdig macht, die sein Amt erfordert. Bekanntlich hat daS preußische Oberverwaltungsgericht in Uebereinstimmung mit diesen Grundsätzen u. a. auch die von dem Disziplinargerichte unterer Instanz verhängte Dienstentlassung gegen einen Schulzen aufrecht erhalten, der eine Wohnung in dem ibm gehörigen Hause an einen sozialdemokratischen Agitator ver mietet hatte. Es liegt auf der Hand, daß, nachdem die Sozialdemokratie auf ihrem Parteitage in Dresden noch schärfer und unumwundener als bisher ihre grundsätzliche Gegner schaft gegen die Monarchie und gegen die Staatsverfassung kundgegeben hat, noch weniger als vorher die Rede davon sein kann, Elemente im Beamtenstande, und zwar auch im Stande der mittelbaren Beamten, zu dulden, die sich auch nur im geringsten eine direkte oder indirekte Begünstigung sozialdemokratischer Bestrebungen zu schulden kommen lassen. Dies gilt natürlich auch, unbeschadet der Wahlfreibeit, von den bevorstehenden preußischen Landtagswahlen, an denen bekanntlich die Sozialdemokratie sich allgemein zu be teiligen gedenkt. Dieser Beschluß scheint allerdings nicht überall nach der Absicht der Parteileitung durchgeführt zu werden. Wenigstens mehren sich die Fälle, in denen lokale sozialdemokratische Organisationen erklären, von derTeilnabme an den Wahlen Abstand zu nehmen, und zwar zumeist deshalb, weil geeignete Wahlmänner ihrer Parteirichtung sich nicht finden wollen. Es ist eben nur zu erklärlich, daß manche Leute, die unter dem Deckmantel der geheimen Wahl ihrer Unzufriedenheit durch Abgabe des soziajdemokratischen Stimmzettels Ausdruck gegeben haben, sich schämen, bei den öffentlichen Wahlen sich frei zur Sozialdemokratie zu bekennen. Es wird daher voraussichtlich, wenn man die sozialdemokratischen bei den Landtagswahlen abgegebenen Stimmen zusammenzählt, das Ergebnis ein ganz anderes und für die Sozialdemokratie sehr viel weniger günstiges sein, als bei den Reichstags wahlen am 16. Juni d. I. Ter unterbliebene Zarenbcsuch. ES ist begreiflich, daß die plötzliche Absage des Besuchs Kaiser Nikolaus' in Nom die öffentliche Meinung in Italien fortgesetzt auf das lebhafteste beschäftigt und daß die An gelegenheit noch weitere Kreise ziehen, vielleicht sogar der gegenwärtigen Regierung verhängnisvoll werden kann. Wie man uns aus Rom depeschiert, hat der Abgeordnete Santini in der Deputiertenkammer eine Anfrage an den Ministerpräsidenten Zanardelli eingebracht, welche um Auskunft darüber ersucht, welche Tatsachen der inneren und der äußeren Politik daS Unterbleiben der Erwiderung des dem Kaiser von Rußland abgestatteten Besuches veranlaßt hätten. Die „Tribuna" wendet sich mit Entschiedenheit gegen jene Kreise, die wegen der Verschiebung der Hierherkunft des Kaisers von Rußland den Ministerpräsidenten Zanardelli angreifen, seinen Rücktritt verlangen und Gerüchte über den bevorstehenden Rück tritt des Kabinetts verbreiten. Das Blatt bemerkt, es wisse nicht, ob Zanardelli durch seinen Gesund heitszustand genötigt sein werde, zurückzutretcn; in diesem Falle sei aber zu der Krone das Vertrauen zu hegen, daß sie ihm einen Nachfolger geben werde, der seine liberale Politik unbekümmert um reaktionäre Einflüsse fortsetzen werde. Uebrigens veröffentlicht „Italic" eine Unterredung mit einer hoben russischen Persönlichkeit, welche versichert habe, die Reise des Kaisers Nikolaus nach Rom werde stattfinden, denn die Gesinnungen des Kaisers für den König und das italienische Volk hätten sich in keiner Weise geändert. Chamberlain ist ein ehrgeiziger Politiker, er will England mit seinen Kolonien zusammenschweißen, er will ein größerbritisches Reich schaffen, er will für dieses größerbritische Reich werden, was Bismarck für Deutschland und Cavour für Italien gewesen ist, er will Größerbritannien zum herrschenden Weltreich machen. Indessen besitzt Herr Chamberlain weder das Genie noch den Charakter des großen deutschen Staatsmannes, den er sich zum Vor bilde genommen hat, und er kann mit ihm nicht entfernt in Vergleich gestellt werden. Kennzeichnend für Chamberlain ist seine skrupellose Versatilität. Nur zu häufig bedient er sich illoyaler Mittel und mischt Wahres und Falsches so durch einander, daß seinen Gegnern die Polemik außerordentlich erschwert wird. Wo es sich um ausländische Verhältnisse handelt, stellt er sich schlecht unterrichtet oder ist es in Wirklichkeit. In Greenock sprach er von den ausländischen Kaufleuten, die nach England kämen mit Prämien aller Art und vielen anderen Vorteilen gerüstet. Hat er hier die Schiffahrtsprämien im Auge, so verschweigt er, daß England solche Prämien in höheren Beträgen zahlt als Deutschland und die nordamerikanische Union. Welche anderen Vorteile die ausländischen Kaufleute noch haben sollen, sagte er nicht. Tatsächlich besitzen im Welt verkehr bei der Verfrachtung wie bei der Ab rechnung die englischen Kaufleute Vorteile, um die sie von den nichtenglischen Kaufleuten beneidet werden. Nicht minder bedenklich ist Chamberlains Hinweis auf die englischen Arbeiterschutzgesetze. Dadurch seien die Produktions kosten in England gesteigert worden. Gleichwohl dürften die fremden Länder, die solche Erhöhung der Produktionskosten in England nicht zu tragen hätten, mit den englischen Waren auf dem englischen Markt in freien Wettbewerb treten. Da Chamberlain in erster Reihe immer die deutsche Konkurrenz zu stigmatisieren sucht, so muß her vorgehoben werden, daß die deutschen Arbeiterschutzgesetze erheblich strenger und für die Arbeitgeber lästiger sind als die englischen und daß außerdem in Deutschland durch die Arbeiterversicherung die Produktionskosten noch weiter er heblich gesteigert wurden, während England eine solche Arbeiterversichcrung noch nicht geschaffen hat. Darauf ging Chamberlain nicht ein, offenbar weil ihm sonst entgegengehalten worden wäre, weshalb er den Plan einer Altersversicherung, den er noch vor kurzer Zeit voranstellte, plötzlich wieder fallen gelassen hat. Fast scheint es, als sei Chamberlain ein Gegner der Arbeiter versicherung geworden, da er jetzt für die beste soziale Gesetz gebung diejenige erklärt, die dem Arbeiter ununterbrochen« Arbeit und angemessenen Lohn sichert. Mit dieser Versatilität Chamberlains mögen sich seine englische» Freunde und Gegner abfinden. Im Auslande zieht man daraus den Schluß, daß nicht ein genialer Staatsmann, sondern nur ein gewandter Parteipolitiker auftritt, um seinem Ehrgeiz neue Bahnen zu schaffen. Es ist ein großes Ziel, das (ich dieser Mann gestellt hat, aber mit den kleinen Mitteln, die er anwendet, läßt es sich nicht erreichen. Deutsches Reich. Berlin, 16» Oktober. (Angehörigen-Unter- stütznng nach demKrankenvcrsicherungs- gesetz.) Die Motive zu § 7 -es Krankenversicherungs gesetzes besagen, es müsse, wenn die Krankenversiche rung ihren Zweck nicht teilweise verfehlen solle, Sorge dafür getragen werden, daß auch die Angehörigen eines in ein Krankenhaus ausgenommcnen Versicherten nicht ohne alle Unterstützung bleiben. Der Sinn und Zweck der fraglichen Gesetzesbestimmung ist also der, daß die gegen Krankheit Versicherten und deren Familien nicht der Armenversorgung anheimfallen sollen, sondern daß ihnen das, was die öffentliche Armenpflege als Almosen gewähren würde, als ihr aus dem Versicherungsverhält nisse entspringendes Recht zu gewähren sei. Die Leistung von Angchörigcnunterstützung erscheint hiernach gerecht- Das neue Modell. 15j Roman von Paul Oskar Höcker. /»ichdrua verboten. Donat fühlte sich sofort angeheirnelt. „Das ist wie eine freundliche Oase", sagte er zu Lise lotte. „Am liebsten bliebe ick hier!" „Aber nein", wehrte Liselotte, „es ist ja so ungemütlich." „Das finde ich gar nicht, gnädiges Fräulein. Wenn Sie freilich befehlen, so muß ich gehen!" „Ich befehle nicht", erwiderte sie, noch Immer etwas verlegen. Dann forderte sie die Kinder auf, dem fremden Herrn guten Abend zu sagen. Sie hielten ihm beide nach französischer Sitte hie Wange hin. Er errötete leicht, wäh rend er sich niederbeugte, um sie zu küssen. „Sie sollten schon längst zu Bette sein", erklärte Lise lotte, „aber es geht an solch einem Tage immer ein biß chen -runter und drüber!" „Und nun waren Sie gekommen, um die vielbeschäftigte Mama zu ersetzen, und ich störe Sie? Ich war nämlich ge folgt, weil ich ein Attentat auf Ihre Freiheit vorhatte,' ich wollte Sie zum nächsten Walzer engagieren!" Man hörte die Musik auch noch hier, jenseits des Kor ridors. Es war ein prickelnder Walzer von Metra. ,Menn Sie mir nicht böse sind, Herr Leutnant —" „Geben Sie mir einen Korb?" „Ich habe den Kleinen versprochen, ihnen im Verlaufe des Abends ein Weilchen Gesellschaft zu leisten; den ihr Fräulein ist im Anrichteraum mit beschäftigt." „Wollen Sie mich dabei dulden? — Oder muß der fremde Mann fort?" Er wandte sich mit der letzten Frage aus französisch an die Kinder selbst. Raoul sah ihn nrit seinen ernsten, großen Augen drollig prüfend an, schüttelte aber stumm den Kopf. Lein Schwesterchen verstand nicht, was der Besucher sagte. Er wiederholte es ihr auf englisch. „O no", radebrechte die Kleine in einem drollig tiefen Tone, „zwu darf da bleiben. Aber Meckzieglein zählen, sonst uill von not haben!" „Meckzieglein?" fragte Donat verdutzt. Run lachten sowohl Liselotte als auch Raoul. Und Tante Lotti setzte Donat auseinander, daß sie Edith, um sie zum Artigsein zu verpflichten, versprochen habe, ihr das Märchen von den „sieben Gaislein" zu erzählen. „O, das muß ich kennen lernen", sagte Donat mit schein bar wichtiger Miene auf englisch su der Kleinen. Liselotte hatte sich am Tische niedergelassen und Edith auf den Schob genommen. „O — incleeä — Mister Donat kennt not Meckzieglein? O, Meckzieglein i8 vsrv beautikul!" Er nahm erwartungsvoll bei der Gruppe Platz. Liselotte genierte sich noch ein paar Augenblicke vor dem Landsmann. Als aber Edith in ihrem hülflosen, halb irisch-amerikanischen, halb französischen Gestammel wieder zu betteln begann, indem sie beide Aermchen um den Hals der jungen Tante schlang und ihr Näschen an ihre Wange drückte, begann sie munter: „Also, es war einmal ein Meckzieglein, das hatte sieben kleine Meckzieglein, und die waren ihre Kinder. Und eines TagcS, da wollte das alte Meckzieglein in den Wald, um Kräuter und Nahrung zu suchen für ihre kleinen Babies. Und da sagte sie: Hört mal, ihr kleinen Meckzieglein, sagte sie, ich gehe jetzt hinaus in den Wald, um Kräuter und Nahrung zu suchen für euch, und wenn jemand herkommt, während ich fort bin, dann öffnet ja nicht die Tür —" „Damit nicht der Wolf kommt und frißt euch auf!" Ediths Blicke hingen in Verzückung an Liselottens Lippen. Raoul stand etwas verlegen abseits, hörte aber gleichfalls andächtig zu. Er hatte daö Kinn in die Hand gelegt und die Ellbogen auf eine Stuhllehne gestützt. Lise lottens Organ klang weich und rührend, ihre Mimik war bei der Erzählung ebenso ausdrucksvoll, wie ihre Stimme, die in kindlich anschaulicher Weise die feinen Stimmchen der furchtsamen kleinen Gaislein. dann die rauhe Rede des bösen Wolfs nachabmte. Es war köstlich, dabei zu beobachten, wie die Kinder jede Veränderung in der Miene der Erzählerin mit machten. Besonders bei der kleinen Edith wirkte das geradezu sprechend. * Bon drüben drang die Tanzmusik, dazwischen das Lachen und Schwatzen der Gäste herüber. Hans Donat hatte all seinen Groll auf Marion ver gessen. Es war ihm so seltsam warm und weich ums Herz geworden. Die Begegnung mit Marions Kindern, der kindlich süße Ton des naiven Märchens hatten, edlere Regungen in seiner Brust geweckt, und es zwang ihn, als Liselotte die kleine Erzählung beendet hatte, mit ihr über Chateau-Lanney zu reden — und über ihre Eltern, über die Heimat. „Ich habe mich hier niemals heimisch gefühlt", ge stand ihm Liselotte dabei. „Wären die Kinder nicht ge wesen, so hätte ichs sicher nicht lo lange ausgehalten." „Und nun ist es bestimmt, daß Sic reisen?" Sie sann trübe vor sich hin. „Mir ist so bange ge worden. Das Schweigen vqn Mama beängstigt mich." »Ihr Herr Vater hat sich das Unglück damals also sehr zu Herzen genommen?" „Ja, es hat ihn geradezu gebrochen." Und traurig setzte sic hinzu: „Er wird sich auch nicht wieder davon er holen." „Ihre Eltern haben ihre Enkelkinder noch gar nicht ge sehen?" Sie schüttelte den Kopf. „Marions Verhältnisse er laubten früher die Reise nicht, und nun . . ." Sie brach ab und fuhr gleich darauf hastig fort: „Ich möchte sie am liebsten gleich mitnehmen, Mutter schrieb noch neulich, es wäre eine so große Freude für sie und Vater, wenn man ihnen die Kinder brächte. Vielleicht muß man sich doch beeilen — damit es nicht zu spät ist." „O, Sie sollten sich nicht so schweren Gedanken hin geben." „Nein, nein, Sie haben recht: an einem Ballavend!" Sie fuhr sich leicht über die Augen, dann sagte sie: „Aber Sie dürfen sich wirklich nicht so lange der Gesellschaft entziehen, Herr Leutnant." „Mich vermißt niemand", sagte er. „Und hier — fühle ich mich so geborgen." Es trat eine kleine Pause ein; jedes hing seinen Ge danken nach. Raoul hatte sich müde in die Stuhlecke zurückgelchnt, aber Edith war noch immer munter. Mit ihrem kleinen Händchen tätschelte sie schmeichelnd Liselottens Wangen. „Nun, hast du noch einen Wunsch, du Kleine?" fragte Donat lächelnd das Kind. „O, .yc-s, Tante Lotte wird noch einmal zählen." „Was denn erzählen?" „Meckzieglein zählen." Sic lachten herzlich auf. Das Kind konnte die „schöne Geschichte" dreimal und noch öfter hintereinander hören, ohne daß sein Interesse daran erlahmte. Liselotte beschwichtigte Edith, indem sie sie auf ihren Knien reiten ließ. Dann rutschte die Kleine aber hin unter, um ihre Puppen zu holen, die an dem Vergnügen teilnehmen sollten. .Haben Sie denn schon einen neuen Entschluß gefaßt, Herr Leutnant?" fragte sie, währen- das Kind in seiner Spielecke herumkramte. Er antwortete nicht gleich. Eine gewisse Bitterkeit stieg wieder in ihm empor. Er mußte daran denken, wie auffällig Marion ihn seit gestern abend zurücksetzte. Und ihretwegen allein hatte er -och den entscheidenden Schritt gewagt. Etwas zögernd berichtete er ihr endlich. Sie schrak zusammen. „Es scheint Sie nicht zu freuen?" fragte er. „Ich weiß nicht, ob cs zu Ihrem Glück ausschlagen wird." „Setzen Sic so wenig Vertrauen in mein Können?" „O, ich weiß, daß Sie überall Ihren Weg machen werden, daß Sie in jedem Berufe Ihre Pflicht erfüllen werden, — ja noch mehr als das, — aber daß Sie sich so mit einem Schlage von der Heimat trennen können . . „Sie leiden wohl viel an Heimweh, Fräulein Lise lotte?" fragte er, seinen Ton etwas dämpfend. Sie wehrte ihm scheu ab: „Bitte, bitte, sprechen Sie nicht darüber!" Ihr seltsam wunder Ton drang ihm ins Herz. Er hätte ihr nun so gern etwas recht Liebes gesagt. Aber die kleine Edith ließ ihn nicht zu Worte kommen. Sie bestand darauf, daß die Tante ihr das Geschichtchen noch einmal erzählte. Offenbar war das Kind schon übermüdet und über reizt. Die Unruhe im Hause hatte es nervös gemacht. Er erhob sich, um zu gehen. „Ich glaube selbst nicht, daß ich hier in Frankreich ßür immer bleiben werde", sagte er nachdenklich. „Es ist uns Deutschen doch zu vieles fremd hier. In allem, in den Sitten und Gebräuchen — und den Menschen." Er schüttelte die Bewegung, die ihn übermannen wollte, von sich ab. „Vielleicht scheu wir uns nicht mehr, bevor Sic reisen, Fräulein Liselotte, ich wünsche Ihnen also schon jetzt das Beste. Auch für die Gesundheit Ihres Herrn Vaters. — Wenn Sie nach Hause kommen, dann . . .1 Er brach plötzlich ganz unvermittelt ab. Es war ihm un möglich, ihre Eltern grüßen zu lasten, wie ers ursprüng lich gewollt hatte. Er fühlte sich dazu im Gedanken an Marion nicht mehr berechtigt. Das Geplauder der kleinen Edith verhütete eine Ker,
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