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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 27.10.1903
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1903-10-27
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19031027025
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1903102702
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1903102702
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
- Monat1903-10
- Tag1903-10-27
- Monat1903-10
- Jahr1903
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Dabellarischer und Ziffernsatz entsprechend höher. — Gebühren Nir Nachweisungen und Offertenannahme 25 H (excl. Porto). Grtra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgra-AuSgabr, ohne Postbesörderung .St 60.—, mit Postbesörderung .4> 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-AuSgabe: Vormittag» 10 Uhr. Morgeu-Ausgabe: Nachmittag- 4 Uhr- Anzeigen sind stet» an die Expedition zu richten. Die Expedition ist wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bi- abends 7 Uhr. Druck und Verlag von E. P olz in Leipzig. Nr. 548. Dienstag den 27. Oktober 1903. 97. Jahrgang. politische Tagesschau. * Leipzig, 27. Oktober. Zentrum und Finanznot der Einzelftaateu. Die Erklärung der „Nordd. Allgem. Ztg.", daß die Be ratungen der Finanzminister ihres vorbereitenden Charakters wegen zu förmlichen Beschlüssen nicht ge führt hätten, hat mehrere Zeitungen zu der Klage veranlaßt, daß die Berbandlungeu ausgegangen seien wie das Horn berger Schießen. Die „Berl. Poltt. Nachr." sind deshalb zu folgender Nichtigstellung veranlaßt worden: „Sie (jene Annahme) berühr offenbar auf der irrigen Annahme, daß eine Verbesserung der finanziellen Einrichtungen des Reiches in untrennbarem Zusammenhänge mit der Steuer reform bezw. mit der Verstärkung der Tcckungsmittcl des Reichs für feine Ausgaben stehe. Von dieser irrigen Annahme aus gelangt man im Hinblick darauf, daß erst nach Abschluß der Handelsverträge sich wird ersehen lassen, ob und gegebenenfalls in welcher Weise eine weitere Vermehrung der eigenen Einnahmen des Reiches herbcizuführen sein wird, leicht zu dem Schlüsse, daß zur Zeit auf dem Gebiete der Finanzreform im Reiche nichts geschehen könne. Aber eine solche u ntrennbare Ver bindung zwischen der Verbesserung der Fiuanzgcsetz- gebung des Reichs und derFrage der Vermehrung seiner Einnahmen besteht nicht. Auch ohne daß man au Erhöhungen der Tabak- und Viersteucr oder au die Erschließung sonstiger neuer Einnahmequellen zu denken braucht, laßt sich durch Beseitigung der der Finanzgeseygebung des Reichs anhaftenden Mängel an sich schon ein erster wichtiger Schritt zur Besserung der Ainanzeinrichtungen des Reichs unternehmen. Mit solchen Schritten,die ganz unabhängig von der Frage der Erschließung neuer Einnahmen für das Reich sind, noch zu warten bis zu dem Abschlüsse der Handels verträge, liegt aber nicht der mindeste Grnnd vor. Hier kann ohne Verzug die bessernde Hand angelegt werden. Mau wird daher in der Annahme nicht feylgehen, daß die finanzpoli tischen Verhandlungen der letzten Tage unmittelbar praktische Ergebnisse nach dieser Richtung hin ge zeitigt haben." Daß auch durch diese Auslassung die Richtigkeit der von unS seit Fahren verfochtenen, aber von den Offiziösen eben solange bekämpften Ansicht bestätigt wird, auch ohne eine durch greifende, auf neue Einnahmen begründete Reichsfinanzrcform jei eine die Einzelstaaten vor ruinösen Schwankungen zwischen Matrikularbeiträgen und Ueberweisungcn sichernde Reform des finanziellen Verhältnisses zwischen ihnen und dem Reiche möglich, sei nur nebenbei bemerkt. Die Hauptsache ist jetzt, daß Mittel und Wege gefunden werden, die Majorität des neuen Reichstags und vor allem das Zentrum sür eine solche Reform zu gewinnen. Daß die „regierende" Partei genau weiß, daß sie auch in diesem Falle den Ausschlag zu geben hat, geht aus einer Äcußcrung des badischen leitenden Zen trumöblattes hervor. Die „Freis. Ztg." batte jüngst bemerkt, daß man lieber statt der Finanzminislcr Führer ter Finanz politik des Zentrums nach Berlin hätte cinladen sollen. Dazu sagt jetzt das erwähnte badische Blatt: Eugen Richter treffe mrt dieser Auslassung den Ragel auf den Kops, denn das Zentrum sei in Finanzfragcn ausschlaggebend im Reichstage. Diese Kundgebung beweist wieder einmal in drastischer Weise, wie weit man eS mit den ständigen Liebens würdigkeiten gegen daS Zentrum glücklich gebracht hat. Die Zentrumspresse verhöhnt die Negierung, wenn sie auch nur den Versuch einer selbständigen gesetzgeberischen Initiative macht. Wir besorgen sehr, daß, sobald der Reichstag zusammentritt, die absolute Herrschaft des Zentrums sich in noch drückenderer Weise fühlbar machen werde. Freilich hat Herr Eugen Richter am wenigsten Anlaß, sich über die Ohnmacht der Regierung lustig zu machen. Denn wenn er und sein Gefolge sich rechtzeitig zu einer positiven Politik entschlossen hätten, so wäre daS Zentrum nie zu seiner jetzigen Machtstellung gelangt. Trotz dieser muß nun die Negierung den von den Finanzministern entworfenen Plan durchzusetzen versuchen, wie heftig die deshalb entbrennenden Kämpfe auch sein mögen. DaS Zentrum hat ja, wie wir schon neulich betonten, ein gewaltiges Druckmittel in der Hand. ES braucht nur zu erklären: „Ohne Jesuiten keine Reform des finanziellen Verhältnisses zwischen dem Reiche und den Einzelstaaten", um diese Staaten, mit Ausnahme von Preußen und Bayern, die ja in der Jesuitenfra^e nur gar zu gern init sich handeln lassen, in die peinlichste Verlegenheit zu fetzen. Aber daS darf nicht von dem Versuche abhalten, die Reform zu erzwingen. Und wenn bei diesem Versuche auch nichts Anderes herausspränge als eine neue Enthüllung der wahren Natur des Zentrums, so wäre auch das ein Gewinn. Gar manchem katholischen Reichstagswähler, der bisher für das Zentrum gestimmt, würden die Augen aufgehen, wenn infolge der Schacher politik dieser Partei die Finanzmissre der Einzelstaaten fort dauerte. Tie badischen Landtagswahleu. In den nächsten Tagen finden die Wahlmänncrwahlen zum badischen Landtage statt. Der Wahlkampf ist ziemlich rubig verlaufen. Bei sämtlichen Parteien macht sich eine gewiße Ermüdung geltend, wohl eine Folge der hinter unS liegenden Reickstagswahlbewegung. DaS interessanteste Mo ment des Wahlkampfes ist die Konstellation der einzelnen Parteien zu einander. Hier ist vor allem die bemerkenswerte Tatsache zu registrieren, daß bei den badischen LandtagS- wablen die Parteigruppierung eine ganz andere ist als bei den preußischen Landtagswahlen. Während in Preußen ein scharfer Gegensatz zwischen dem Liberalismus einerseits und den Konservativen und Ultramontanen andererseits besteht, machen in Baden die Ultramontanen gemeinsame Sache nicht nur mit den Demo träte n,sondern auch vielfach mit den Sozial demokraten. Die badischen Nationalliberalen dagegen marschieren gemeinsam mit den Konservativen und den Freisinnigen an die Wahlurne. Also in Baden ein ganz an- deresWahlbild als inPreußen. Was den voraussichtlichen Wahl ausfall anbetrifft, so dürfte er keine wesentliche Veränderung in dem seitherigen Besitzstände der verschiedenen Parteien bringe». Die Zentrumsmandate sind bis aus wenige Ausnahmen den Ultramontanen „bombensicher", anderer seits ist aber auch die Aussicht des Zentrums, neue Mandate zu gewinnen und dadurch die relativ stärkste Partei im badischen Landtage zu werden, I eine sehr geringe. Die Demokraten werden Mühe haben, I ihren seitherigen Besitzstand zu behaupten. Das Gleiche I gilt von der Sozialdemokratie, die durch die Vor gänge auf dem Dresdener Parteitage und die sich daran an schließenden widerwärtigen inneren badischen Parteizänkereien viel an Boden in der Bevölkerung verloren hat. Ein schwerer Schlag für die badische Sozialdemokratie ist die Niederlage des seitherigen allmächtigen Führers DreeSbach, der in Mannheim in der Kandidatenfrage den Radikalen Süßkind und Lehmann unterlegen ist. Die Folgen der Vorgänge in der Mannheimer sozialdemokratischen Partei werden sich erst nach den Wahlen im vollen Umfange zeigen, da jetzt kurz vor den Wahlen volle Einigkeit und ungestörte Harmonie ge heuchelt wird. Graf Stefan TiSza ist gestern, wie gemeldet, zum ungarischen Ministerpräsidenten ernannt worden. Diese Lösung ist im Verlaufe der un endlich langen Krise mehrmals nahe gewesen, ist aber immer offenbar an dem Mißtrauen der liberalen Mehrheit gegen Tiszas Absichten gescheitert. Seit der Kaiser vor drei Tagen daS Programm des Ausschusses der liberalen Partei abgelehnt hatte, war die Krisis schärfer als vorher. DaS Merkwürdige war, daß in diesem MehrheitS-Ausschusse die eigenen ungarischen Vertrauensmänner des Monarchen saßen, in erster Linie Graf TiSza selbst. Wenn also auch er die einstimmig gefaßten Beschlüsse unterschrieb, so mußte sie doch auch der Kaiser acceptieren. DaS Gegenteil trat ein und man mußte sich nun auf einen harten Konflikt ge faßt machen. Nur konnte, daS sagte man sich, nicht gerade Graf Tisza im künftigen Kampfe die Ansprüche der Krone ver treten, da er ja eben erst im Neunerausschuß diese Ansprüche mit preisgegeben hatte. Als „starke Hand", so wurde ge folgert, ist TiSza zunächst entwertet. Da geschieht denn wieder einmal daS am wenigsten Erwartete, und derselbe TiSza wird mit der Bildung deS Kabinetts betraut! Die Berufung erklärt sich nur daraus, daß es zwischen demMehrheitS- auSschuß und den Forderungen des Königs noch in letzter Stunde zu einem Kompromiß gekommen ist. Nach seinen ersten Aeußeruugen erhofft der neu ernannte Minister noch immer eine friedliche parla mentarische Beendigung des Zwistes. Erst in zweiter Linie denkt er an Kampf: doch auck den will er nur mit verfassungsmäßigen Mitteln führen. DaS soll wohl heißen, der Reichstag werde dann aufgelöst werden, denn alle anderen verfassungsmäßigen Mittel sind schon erschöpft. Diese Maß regel kann aber den Konflikt noch viel mehr verschärfen, weil die Opposition der Regierung das Recht zur Auflösung be streitet, solange kein gesetzmäßiger Zustand herrsche. — Wie man sich erinnern wird, war Tisza in diesem Jahre schon ein mal, nämlich vor der Berufung deS BanuS von Kroatien, mit der Kabinettsbildung betraut worden. Er scheiterte aber, weil er keine Kollegen für sein Ministerium finden konnte; nie mand hatte Lust, sich mit der starken Hand zu associieren. Es ist anznnehmcn, daß Graf Tisza, um sich nicht einem zweiten Fiasko auSzusetzen, sich diesmal vorgesehen hat und sein Kabinett im wesentlichen schon vor der formellen Be rufung fertig war — ES wird unS noch berichtet: * Pest, 26. Oktober. Graf Stefan Tisza wurde heute abend im Klub der liberalen Partei mit Ovationen empfangen. Das NeunercomitS hält morgen vormittag eine Sitzung ab, die liberale Partei Mittwoch eine Konferenz, in der das Militär - Programm beraten wird. Französische Spiegelfechterei. Der Dresdner Korrespondent des „TempS" hat sich bemüht, die deutsche Durchschnittsmeinung über den Wert der WeltfriedenSibee und der internationalen Schiedsgerichte zu ermitteln. Zu dem Behuf hielt sich der Gewährsmann deS Pariser Blattes nicht bloß an die deutsche Presse, sondern er erforschte das deutsche Volk auch in den Bierhäusern „um die «tunde, wo die Zungen sich lösen". — Da konnte es denn an einem untrüglichen Forschungsergebnis nicht fehlen! Man höre, was dem „Temvs" von Dresden aus als Durchschnittsmeinung LeS deutschen Volkes berichtet wird: „Tas deutsche Volk", so vernahm der Dresdner „Temps"-Kor- respondent, „ist das stärkste der Welt. Es steht an der Spitze der Civilifation. Alle andern Völker fürchten und beneiden es. Das Kaiserreich muß ständig seine Streitkräfte zu Lande nnd zu Wasser vermehren, um dem Angriffe widerstehen zu können, der von seinen Nachbarn im Osten oder im Westen ersehnt wird. Und wenn später die europäischen Völker sich vereinigen werden, muß diese Einigung sich durch und für das deutsche Kaiser reich vollziehen, das gegenüber den Gruppen der Zukunft die Rolle zu spielen hat, welche die Häuser von Frankreich, Savoyen und Hohenzollern gegenüber den Provinzen spielten, deren Einigung sie vorbereitet und verwirklicht haben." Wer solchen chauvinistischen Ueberschwang als die Durch- schnittSmeinung in Deutschland ausgibt, macht damit jedes Wort der Kritik im einzelnen überflüssig: selbst an der Seine werden sich die leidlich aufrichtigen Leser sagen, daß der gleichen schwülstiges und maßloses Phrasentum unmöglich die deutsche Durchschnittsmeinung bedeuten kann. Gekrönt aber wird die Dresdner Korrespondenz des .,Temps" durch die Behauptung, daß jene angebliche Durchschnittsmeinung die „amtliche Doktrin" sei! Nachdem der Dresdner Gewährsmann des genannten Pariser Blattes seine Leser solchermaßen in Stimmung versetzt hat, berichtet er ihnen ungleich mehr zutreffend, daß die Deutschen von internatio nalen Schiedsgerichten nicht viel halten, und daß sie an gesichts noch frischer Kundgebungen französischer Friedens freunde gegen den Frankfurter Frieden von den internatio nalen FnedenSgesellschaften Angriffe auf den Besitzstand des Reiches befürchten. Der Gewährsmann deS „Temps" wirft infolgedessen die Frage auf, ob die Franzosen darauf ver zichten sollen, dem edeln Zuge zu folgen, der sie dahin führe, den Frieden zwischen den civilisierten Völkern zu er sehnen. Er antwortet hierauf verneinend und fährt als dann fort: „Aber wir haben die Pflicht, indem wir von dem fernen Ideal träumen, nicht die nahe Wirklichkeit aus dem Auge zu verlieren. Wir haben Zurückforderungen (rovinckioations) zu for mulieren, die wir niemals vergessen sollten. Und in der zukünftigen Zeit muß der französische Gedanke energisch reprä sentiert werden, wenn wir wollen, daß er den Platz einnimmt, der ihm gebührt. Hüten wir unS zu glauben, daß die deutsche Seele, die italienische Seele, um nur von den nächsten Völkern zu sprechen, auf derselben Stufe des Fortschrittes sich befinden, wie die fran zösische Seele. Wir sind weit voraus, und deswegen, ohne Zweifel, träumen wir von universaler Brüderlichkeit, während die andern noch die nationale Brüderlichkeit verlangen." Die vorstehende Auslassung wird die deutsche Meinung über den Wert der „universalen" französischen „Brüderlich- FariiNetsir. Das neue Modell. 2Sj Roman von Paul Oskar Hücker. irrboien Die Stunde war noch lange nicht um, da meldete er sich wieder ganz verzagt daheim. ,^Hab' ich mich jetzt genug getummelt, Tante Lotti?" fragte er ängstlich. „Ach, Raoul, >du hast ja gar nicht gespielt!" „Du hast bloß gesagt, Tante, daß ich mich tummeln soll!" Sie lachte. „Und das hast du? Hast du dich denn amüsiert, Raoul?" „O Tante, da war ein großer Drachen. Der flog so hoch — und weiht du. da war auch eine Wolke, die war wie ein großer Bär, und da flog der Drachen ihm zwischen die Tatzen — aber der Bär hat sich dann immerzu verwandelt, o immerzu Und dann war cs ein Schiff und dann wieder — wie das Bild im Buche, wo Moses mit dem Stabe das Wasser aus dein Kelsen holt. Und weißt du, Tante, da hab' ich immer an das Stück denken müssen, das du gestern gespielt hast, weißt du, das so wild anfängt, daß man sich fürchtet, unid dann wird es immer sanfter und steigt in die Höhe, immer höher, immer höher, bis es schließlich ist. als ob man auf einer dünnen, dünnen, winzigen, rosafarbenen Wolke in den Himmel zu den Engeln schwebt!" Sie konnte daraus 'nichts sagen, so ergriff es sie, wie das Kind in seiner regen Phantasie alles, was es sah und hörte, verarbeitete. An diesem Tage bekam Raonl seine erste richtige Unter richtsstunde. Als sie mit dem Freunde über dieses kleine Erlebnis sprach, sagte Mittwaid nicht ohne eine gewisse Bitterkeit: „Wäre es nun für eine Frau, die sich für klug, für be- anlagt, für geistvoll hält, nicht instruktiver, sie beschäftigte sich mit einem so aufgeweckten Kinde, als mit der Kom bination verführerischer neuer Toiletten?" Bon ihrem Vater sprachen die Kinder selten. Raoul fragte auch nach der Mutter nicht so oft. Nur Edith ver langte es nach der Mama. In ihren Briesen an die Schwester berichtete Liselotte gewiffenhaft über das körperliche Ergehen der beiden Kleinen und ihre geistige Entwicklung. Vielleicht lernte Marion ihre eigenen Kinder auf diese Weise gründlicher kennen, als bisher, wo sie ganz -er Pflege und Obhut einer fremden, bezahlten Hülfskraft überlassen war. Bloß über sich selbst schrieb sie Marion nichts. Es hatte sich etwas zwischen sie geschoben, das sie trennte. Liselotte erschrak heftig, als sie sich auf dem Dclbstgcstänüniö er tappte, daß es doch eigentlich nichts anderes als Eifersucht sei, was die tiefe Entfremdung znnschen sie getragen hatte. Nein, Eifersucht sollte und durfte es nicht sein. Ge wiß, im Gedanken an Donat war- es ihr immer schwer und bang ums Herz. Aber es war viel eher eine seltsame mütterliche Regung in ihr, ein Verlangen, ihm aus ihrer zitternden Sorge, ihrcan Mitleid heraus die Hand zu reichen, um ihm an all den Klippen und Fährlichkeiten vvrbeizuhelfen. Daß er ein guter Mensch war, das wußte sic von jener letzten Begegnung her, wo so etwas Inniges, Heimisches sie beide verbunden hatte. Es jammerte sie, daß Marions oberflächliche Kunst ihn nun dazu wieder verführt hatte, daß er sich von neuem in den Taumel von Paris stürzte. Wie sehnte sic sich danach, von ihm, von seinem Ergehen, von seinem Leben und Treiben irgend, irgend etwas zu hören. Aber Marion schrieb über Donat niemals. So oft sie sich auch über die Geschäfte ihres Mannes auSlietz: Donats Namen zu nennen vermied sie mit augenscheinlicher Absicht. Und nach ihm zn fragen, das verbot Liselotte die müdck>enhafte Scheu — und außerdem jener gewiße bange Druck in der Kehle, der sie befiel, so ost sie an Donat dachte, ein seltsames Würgen, das ihr oft selbst wie ein stummes Weinen vorkam. Während Marion den Mai und den Juni über auf ihren gelegentlichen Ansichtspostkarten begeistert über das herrliche Sommerwetter schrieb, das in Paris die hellsten, duftigsten Toiletten auf die Boulevards, ins Bois und aus die Rennbahn lockte, gehörten die sonnigen Tage in Chateau-Lannen nur zu den Seltenheiten. Mitte Juni hatte man eine anhaltende Rcgenperiode, wie sic hier -wischen dem Hohen Benn und der Eifel jeden Sommer zu überstehen war. Danach setzte schaudcrvollcs Ncbelwcttcr ein. Eine ganze Woche lang tvar die Botrange von Lise lottens Fenster aus nicht zu sehen. Fast bei jedem Witterungswechsel zeigte sich Raouls Gesundheit recht veränderlich. Auch diesmal wieder schlug sich eine leichte Erkältung auf seinen Hals, besonders die Mandeln. Obwohl der Sanitätsrat dem Kalle keine große Wich tigkeit beilegte, schrieb Liselotte doch ausführlich darüber an die Schwester. Marion hatte in der letzten Zeit ihre Korrespondenz durch die bequemen Ansichtspostkarten abgemacht. Jetzt kam endlich einmal ein Brief von ihr. Aber der nahm auf Raouls Unpäßlichkeit keinerlei Bezug. Es waren bloß ein paar in sichtlicher Hast hingeworfene Zeilen, aus denen Liselotte nicht klua ward. „Liebstes Schwesterherz", schrieb Marion, „ich kann mir ja vorstellen, daß sich die guten Philister von Chateau- Lanney wieder gehörig -en Mund zerschlagen werden, wenn sie vernehmen, daß ich am Rennen teilnehme. Aber glaube mir, daß es die triftigsten Gründe sind, die mich dazu veranlassen, — Gründe hauptsächlich geschäftlicher Natur. Es ist, so hoffe ich, die letzte Etappe. Wenn wir mit der „Marion" gut abschneidctt, so sind wir falviert. Komme mit Mama und den Kindern an die Kontrollstation lEhateau-Lanney ist einer von den neutra lisierten Durchfahrtsorten), damit ich alle umarmen kann. Wenigstens sind cs ein paar Minuten, die wir für uns haben werden." Sie las die Worte Rennen, „Marion", Kontrollstation und strengte sich den Kopf an, um hcrauszubekonrmen, was die Schwester damit meinte. Erst, als sich abends der Sanitätsrat wieder einstellte, um nach Raoul zu sehen, und er, während er die Tempe ratur des kleinen Patienten maß, wieder ins Schwatzen über Lokalangclegenheiten geriet, begriff sie den Zu sammenhang. Und da war es ihr, als bleibe ihr plötzlich das Herz stille stehen. „Haben Sie denn nicht den Anschlag vom Lanbrat an der Ecke gelesen, Fräulein Liselotte? Die Bekannt machung über die Durchfahrt der Pariser Herrschaften vom Töfs-Töff — der neumodischen Höllenmaschine?" „Ich bin Raouls wegen nicht mehr außerm Hause ge wesen." Der alte Doktor erzählte ihr darauf, was er in der Kneipe über die Wettfahrt PariS-Bcrlin erfahren hatte. Der Steuerrat stielt eine großstädtische Zeitung, in der ausführlich darüber berichtet war. „Ja, heute nacht soll der Rummel in dem Seine-Babel also losgehen. ES ist eine Verrücktheit. Werden da wie die Wahnsimttgen durchs Land tosen. Aber wieder so recht was für die ausgemergclten. verhutzelten Pariser, denen keine Sensation mehr genügt, um die schlaffen Neroon auf zupeitschen." Liselotte war es nun ganz unmöglich, dem Sanitätsrat zu sagen, daß ihre eigene Schwester allem Anschein nach gleichfalls die -lbsicht hatte, sich an diesem Rennen zu beteiligen. Der Doktor verließ sie auch gleich darauf wieder. Etwas Fieber war bei Raoul zwar vorhanden, aber nur in geringem Grade. ,^8or allen Dingen sorgen Sie mir dafür, liebe Bize- mama", sagte -er alte Herr, „daß Senfteig und so etwas Aehnliches im Hanse ist. Ich hoffe ja nicht, daß es eine richtige Bräune gibt, aber das junge Herrchen ist ein so schwächlicher, kleiner Patron, daß man bet ihm auf allerlei Extravaganzün gefaßt sein muß." Diese Worte beunruhigten Liselotte aufs neue. „Auf alle Fälle wird es dann nötig sein, daß ich die kleine Edith von ihm entfernt halte?" „Nicht unbedingt nötig, da ja kein bösartiger Belag bis jetzt zu konstatieren ist. Aber jedenfalls ist Vorsicht bester." In seiner gutmütig polternden Art gab er dem kleinen Patienten, der still und geduldig und ohne sich zu rühren dalag, noch ein paar Verhaltungsmaßregeln. Dann empfahl er sich, versprach aber, andevn Tags gleich in der Frühe wieder zu kommen. In recht niedergeschlagener Stimmung blieb Liselotte zurück. Die Nachricht von Marion hatte sie in tiefster Seele aufgewühlt. Sie quälte sich besonders mit der Krage, ob stc der Mutter das leichtfertige Unternehmen der Schwester mitteilen sollte. Daun bereitete ihr auch noch die Erkrankung Raouls Kunrmer. Sie wußte über dies nicht recht, wohin mit der nervösen, ungeduldigen kleinen Edith. Es war schwer, die Kleine vom Kranken zimmer sernzuhalten. Edith war, wie die Großmama sich ausdrückte, „das reine Quecksilber". Bald nach dem Besuch des Doktors kam Frau Daus, um sich nach dem Ergehen des kleinen Patienten zu er kundigen. Zögernd brachte im Verlaus der Unterredung Liselotte auch die Rennfahrt znr Sprache. Es drängte sie, näheres darüber zu erfahren. Frau Anna schien über die wichtigsten Punkte genau informiert. „Ernst stat mir schon vor zehn Taggn ans seiner Zeitnng vorgelesen: es scheint sür die Pariser ein großes Ereignis zu sein."
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