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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 28.10.1903
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1903-10-28
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19031028026
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1903102802
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1903102802
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
- Monat1903-10
- Tag1903-10-28
- Monat1903-10
- Jahr1903
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Wie mir von durchaus zuverlässiger Seite aus Berlin erfahren, ging die Anregung zu dem Wiesbadener Zusammentreffen vom Kaiser Nikolaus aus, der in Berlin wissen ließ, daß er Kaiser Wilhelm zu sehen wünschte. Selbstverständ lich fand dieser Wunsch in Berlin die freundlichste Aus nahme und Kaiser Wilhelm brachte mit Rücksicht auf seine bevorstehende Anwesenheit in dem Darmstadt nahe gelegenen Wiesbaden dieses als Ort der Zusammenkunft in Vorschlag. Der Zar erklärte sich hiermit gern ein verstanden. Wenn aus Petersburg weiter gemeldet wird, «S werde sich nach der Rückkehr des Grafen Lambs dorff aus Paris entscheiden, ob auch der russische Minister des Auswärtigen in Wiesbaden zugegen sein werde, so ist das nicht ganz zutreffend. Vielmehr ist die Anwesenheit des Grafen Lambsdorff in Wiesbaden be reits beschlossene Sache, und gleichzeitig mit diesem Be schlüsse wurde von russischer Seite der Wunsch zu er kennen gegeben, daß auch Graf Bülow an der Kaiser begegnung teilnehmen möge. Betreffs der politischen Bedeutung -er bevorstehenden Kaiserzusammenknnst muß man davon ausgehen, daß es an und sür sich durch aus natürlich erscheint, wenn Kaiser Nikolaus anläßlich seines längeren Verweilens auf deutschen, Boden Kaiser Wilhelm zu sehen wünscht,' es entspricht das nur dem persönlichen Verhältnis zwischen beiden Monarchen und -en guten Beziehungen, die zwischen den zwei Reichen obwalten. Weitere politische Erörterungen bei Gelegenheit dieser Zusammenkunft anzustcllcn, wird man allerdings durch mancherlei Momente versucht, welche Bedeutung aber diesen Erörterungen zukommen wird, hängt von der Beschaffenheit der russischen An regungen ab. Russische Zeitungen sprechen bereits davon, daß in Wiesbaden der d e u t s ch - r u s s i s ch e H a n d c l s- vertrag gemäß russischen Wünschen besiegelt und ein Ue berei n kommen gegen Japan geschlossen werden müsse. Solche Auffassung schießt jedenfalls über das Ziel hinaus. Wie Deutschland in der Handels- vertragSfrage keinen übereilten Abschlnß nötig hat, so entspräche eine Kooperation Deutschlands mit Rußland wie die erwähnte nicht den deutschen Interessen. In Bezug auf die Mandschurei ist die Schnelligkeit, mit der Deutschland gegenüber seinem östlichen Nachbar seine uninteressierte Position erklärte, den Russen ungemein zu statten gekommen, weil damit die Teilnalyne Deutsch lands an diplomatischen Aktionen gegen Rußlands Be strebungen in der Mandschurei fortfiel. Je wichtiger der Dienst ist, den Deutschland hierdurch Rußland ge leistet hat, um so weniger Grund besteht für unö, im Sinne der Wünsche jener russischen Blätter Stellung zu nehmen. Der Fall Dippold und die Zentrumspresse. Die ultramontane Presse konnte es natürlich nicht lasten, den Fall Dippold-Koch für sich auszu schlachten. Zu diesem Zwecke stellte sie den sauberen Päda gogen als Opfer der Universitätsfreiheit hin und behauptete, er sei Bauernbündler gewesen. Dieser Coup, aus der Affäre etwas für die „gute Sache" heraus- zuwirtschaften, ist ihr aber herzlich schlecht bekommen. Tenn die bauernbllndlerische „Neue Bayer. Landesztg.", die sich offenbar über das Vorleben des verkommenen Hauslehrers genau informiert hat, kann nachweisen, daß Dippold grundverdorben zur Universität kam und daß der Ort, an welchem die Wandlung des anfangs viel ver sprechenden jungen Menschen sich vollzog, die kleri kalen Seminare zu Bamberg und Münner stadt waren. „Was er hier gesehen und ge lernt, wir wollen es mit Nacht und Grauen bedecken", schreibt das Blatt und fährt dann, auf einen Vorfall anspiclend, der sich vor Jahren an der unseres Wissens von Ordensleuten geleiteten letzt genannten geistlichen „Bildungsstätte" ereignete, fort: „Wer waren die Lehrmeister? Wenn man einen der selben, der ein ganzes Seminar und Gymnasium sittlich verpestet hat, straflos über die Grenze entkommen läßt, kann man dem Schüler und Opfer nicht die höchste Strafe zuerkennen." „Aus Rein- lichkcitsgründen und gewissen Rücksichten wollen wir den Skandal nicht ärger machen, als er schvn ist." — Wahr haftig, ein böser Hereinfall der Kämpfer gegen die „Uni- vcrsitätsfrciheit"! Die ungarische Krise. Die „unwesentlichen Abänderungen" ihres militärischen Programms, zu welchem der neue ungarische Minister präsident Stefan TiSza die liberale Partei auffordert, betreffen den Passus über die Majestätsrechte, also gerade den Teil des Programms, der bisher das stärkste und zuletzt einzige Hindernis einer Verständigung zwischen Krone und Liberalismus gebildet hat. — Der tz 11 des ungarischen Ausgleichsgesetzes hat folgenden Wortlaut: „Infolge der verfassungsmäßigen Herrscherrechte Sr. Majestät in Betreff des Kriegswesens wird all das, waS auf die ein heitliche Leitung, Führung und innere Organisation der gesamten Armee, und somit auch des ungarischen Heeres, als eines ergänzenden Teiles der Gesamtarmee, Bezug hat, als der Verfügung Sr. Majestät zust'ehend an erkannt." Hierzu wird der „Schlesischen Zeitung" aus Wien ge schrieben: Die von dem Neunercomits der liberalen Partei diesem Paragraphen gegebene Interpretation gebt dabin, daß die vorsteheodeu Reservatrechte des Königs bezüglich der Armee durch den parlamentarischen Einfluß des ungarischen Reichstages hinsichtlich ihrer Ausübung gewisse Einschrän kungen erfahren konnten, daß also beispielsweise im Falle des Thronwechsels die ungarische Nation befugt sein sollte, diese Rechte in dem vom Thronfolger zu leistenden VcrfassungSeide zurückzunehmen, und zwar deshalb, weil sie angeblich ursprünglich dem ungarischen Reichs tage zugestanden hätten und dieser sie der Krone nur zeit weise übertragen habe. Die Billigung des gegenwärtigen Wortlautes des militärischen Programms der Liberalen seitens des Kaisers wäre daher gleichbedeutend mit dem Verzicht aus eine Reihe von Kronrechten für seinen Nachfolger, und eS ist deshalb sehr begreiflich, daß der Monarch die Anerkennung eines solchen Programms entschieden ablebnt. Graf Tisza will nun — und dies ist der „friedliche Weg" —versuchen, das Plenum der liberalen Partei zur PreiSgebung jener Interpretation des H 11 zu bewegen, und hofft, so bei den Liberalen „Deckung" zu finden, d. h. aus liberaler Grundlage regieren und unter Vermeidung auch deS „Scheins eines Konflikts" die Opposition zum Fallenlaffen der Obstruktion bewegen zu können. — Der Führer der oppo sitionellen Gruppe in der liberalen Partei ist bekanntlich Graf Apponyi, der sich möglicherweise von dem Gros der Partei trennen wird. Darauf kann dieselbe es ankommen lassen, denn seit ihrem von Koloman Szell veranlaßten Eintritt in die Regierungspartei hat sie innerhalb der selben nur zersetzend gewirkt. — Graf Stefan Tisza, als ältester Sohn Koloman TiSzaS im Jahre 1861 ge boren, ist bereits im Jahre 1886 in das Abgeordneten haus eingctreten. Den Grafentitel erbte er von seinem Onkel Ludwig. Sein Name trug mehr als seine Befähigung dazu bei, ihm im parlamentarischen Leben Ungarns eine hervor ragende Stellung zu sichern, zumal er nach dem Tode seines Vaters die Führerschaft der alten Anhänger TiSzas über nahm. Dagegen rübmt man ihm eine „tlarke Hand", be ziehungsweise ein großes Maß von Rücksichtslosigkeit und Härte im politischen Kampfe nach. Beliebt ist er bei keiner Fraktion. Die Unabhängigkeitspartei haßt ihn als den Sohn seines Vaters, die Volkspartei als Calviner, von Julius Andrassy und dessen Fraktion trennen ihn persönliche Antipatbien, und die Gegnerschaft zwischen Apponyi und der Familie TiSza ist sehr alten Datums. Zweifellos wird es dem Grafen TiSza gelingen, ein Kabinett zu bilden, und ebenso dürfte er auch den gesetzlosen Zustand beseitigen, da die Opposition heute hierzu bereit sein wird. Sie sieht näm lich ein, daß sie die Steuerverweigerungs-Kampagne nicht mehr weiter führen kann, und sähe es deshalb gerne, wenn der „Rechtsgrund" dieser Kampagne: der budgetlose Zustand, sobald als möglich beseitigt würde. Darüber hinaus läßt sich allerdings der Bestand des neuen Kabinetts nicht verbürgen. Das Wachstum -er Bevölkerung Frankreichs bewegte sich auch im Jahre 1002 in den seit Jahrzehnten gewohnten, teils durch natürliche Verhältnisse, teils durch künstliche Beschränkung gezogenen engen Grenzen. Wenn der Geburtenüberschuß über die Sterbefälle mit 83 944 Geburten um 11 546 Geburtsfälle höher war als im Jahre 1901, so ist dieses scheinbar günstige Ergebnis auf Rech nung der erheblich verminderten Sterbefälle zu setzen. In Wirklichkeit ist die G e b u r t s z i f f e r um 11896, die Tod cs rate um 23 442 gegen die entsprechenden Zahlen des Vorjahres zurückgeblieben. Immerhin waren die beiden letzten Jahre, da sie einen Bevölkerungs zuwachs von 19 bczw. 22 auf 10 000 Bewohner zeigten, wesentlich günstiger als der Durchschnitt des voran gegangenen Jahrzehntes, in dem für je 10 000 Einwohner die Zunahme nur 6 Personen betrug. Im Vergleich mit -en meisten europäischen Kultur staaten steht jedoch Frankreich trotz dieser in den letzten Jahren eingetretenen Besserung weit zurück. Für die Jahre 1896—1900 ergibt sich für Frankreich eine Ver mehrung von je 10 000 Einwohnern um 13 Personen. Demgegenüber stieg die Einheit von 10 000 Einwohnern in Deutschland, das die relativ größte Bevölkerungs zunahme besitzt, um 147, in Großbritannien und Oester- reich-Nngarn um je 116, in Italien um 110, in Belgien um 109 Personen. Das Verhältnis der Ge ll urts- und Todesfälle war in den französischen Departements sehr verschieden. In 30 Departements, gegen 33 im Jahre 1901 und 55 im Jahre 1900, über stieg die Zahl der Todesfälle die Geburtsziffer. Nur 16 Departements, darunter Alpes-Maritimes, Buches- du-Rhönc, Pas-de-Calais usw., haben eine höhere Anzahl von Geburten als im Vorjahre geliefert,' in 15 Departe ments, darunter Nord allein mit einem Mehr von 1523, war die Zahl der Sterbefälle größer als im Jahre 1901. An der Bevölkerungsznnahme waren beteiligt Pas-de- Calais mit 1,2 Proz., Kinistere mit 1,17 Proz., Vcndee, Haute-Bienne und Morbihan mit je 0,8 Proz., Nord mit 0,75 Proz., Belfort, Landes, Lozöre und Corrsze mit 0,7 bis 0,6 Proz. An der Bevölkerungsabnahme waren im wesentlichen beteiligt Orne mit 0,66 Proz., Lot- et-Garonne mit 0,55 Proz., Gers, Tarn-et-Garonne und Lot mit durchschnittlich 0,44 Proz., Haute-Garonne mit 0,37 Proz. usw. Die Zahl der Eheschließungen war im letzten Jahre um 8683 geringer als im Jahre 1901, das seit 1873 die höchste Zahl der ehelichen Ver- bindungcn aufweist,' der Rückgang betraf, abgesehen von den Departements Pyrenses-Orientales, Charente-Jn- förieure, Haute-Loire und Kinistöre, alle Departements ziemlich gleichmäßig. Anderseits ist die Zahl der Scheidungsfälle gegen das Vorjahr um 690 ge stiegen. Bon den 845 378 neben 40 218 Totgeburten lebend geborenen Kindern waren 431246 Knaben und 414 132 Mädchen, also ein Ueberschuß der männlichen Geburten von 17 114, d. h. es kamen auf 1000 Neugeborene weib lichen 1041 Neugeborene männlichen Geschlechts. Von diesen Neugeborenen waren 74 071, also etwa jedes elfte Kind, unehehlicher Abkunft. Im Gegensätze zn diesem Gcburtsverhältnisse zeigte das weib liche Geschlecht eine höhere Lebenskraft, indem im Jahre 1902 von den 761 434 gestorbeneil Personen 395 534 männ- lichen und 365 900 weiblichen Geschlechts waren. Deutsches Reich. m Berlin, 27. Oktober. (Die Verbrüderung zwischen Zentrum und Demokratie in Baden.) Die badischen Demokraten haben seinerzeit ein Bündnis mit den beiden andern liberalen Parteien abgelehnt. Desto inniger schließen sie sich dem Zentrum an. Ein klassisches Zeugnis für diese Intimität war eine Versammlung, die vor einigen Tagen in Bruchsal zu Gunsten des demokratischen Landtags kandidaten Hoffmann stattfand. Zunächst bestand der größte Teil der Besucher aus Zentrumswählern. Dann trat als einer der Hauptredner der Stadtpfarrer Kunz auf, der der Kandidatur Hoffmann den Segen des Zentrums erteilte; Herr Kun; erntete für seine Aus führung den lebhaftesten Beifall der Versammlung, was ja nur natürlich war, denn die anwesenden Zentrumswähler jubelten ihrem Parteigenossen zu, die demokratischen Wähler aber drückten ihren Dank für die versprochene Wahlhülfe aus. Hätten die Demokraten das Bündnis mit den anderen liberalen Parteien abgelehnt, weil ihnen diese nicht radikal genug wären, und hätten sie infolgedessen beschlossen, selbst ständig vorzugehen, so hätte das hingehen mögen. Das Fettilletsn. Das neue Modell. 24j Roman von Paul Oskar Höcker. Nachdruck verboten. Es ward neun, es ward zehn Uhr. Die Ungeduld der Wartenden stieg von Minute zu Minute. In diesen Morgenstunden war der ungeduldigste und in seinen bangen Erwartungen gcquälteste Einwohner von ganz Chateau-Lanney aber unstreitig Liselotte. Und sie war vielleicht die einzige, die an das große GportSeretgnis überhaupt nicht dachte. In der Angst um den kleinen Kranken, an dessen Bett sie auf den versprochenen Besuch des Sanitätsrates wartete, hatte sie diese Sache zeitweise ganz vergessen. Erst als sie, um nach dem Doktor auszuschauen, das Fenster des Nachbarzimmcrs öffnete, das nach der Straße zu lag, und als sie von hier aus die große Menschen menge gewahrte, fiel ihr eS wieder schwer aufs Herz. Sie hörte Leute» die am Gartenzaun vorüberkamen, sich über die Durchfahrt unterhalten. Um 11 Uhr, so meinten die einen, könnten die ersten Wagen schon in Thateau-Lanncy sein. Die andern bestritten cs; vor Mittag sei nicht daran zu denken, behaupteten sie. Wie sollte Liselotte es nun ermöglichen, unter diesen Umständen Marion zu begrüßen? Das Krankenzimmer wagte sie nicht zu verlassen, so lange der Sanitätsrat nicht dagewesen war und sie über den Zustand des Kleinen beruhigt hatte. Raouls Fiebertcmperatur hatte zwar in den Morgenstunden nachgelassen, nahm aber seit kurzem bedenklich zu. Dabei begann er auch wieder zu phan tasieren. Ihrer Mutter wollte Liselotte von Marions Durch fahrt überhaupt nichts sagen. Sie wußte sie im Hof zimmer neben der Küche mit der kleinen Edith beschäftigt. Mehrmals hatte sie nach den beiden gesehen. Edith hatte sich mit ihrem Puppenkram beim Lehnsessel der Groß mama aufgebaut. Sie waren beide derart in ein Märchen vertieft, daß sie kaum nach ihr hinblickten, als sie sich in der Tür zeigte. Für die Durchfahrt der Automobilwagen hatte die alte Frau Kerkhövt, als das Thema am Abend zuvor flüchtig auf» Tapet gekommen war, keinerlei Interesse gezeigt. Schon der zweimal alljährlich stattfindende Jahrmarkt mit seinem bunten Gewühl der Schaubuden, der BerkaufSzelte und der sich rücksichtslos aneinander vorübcrdrängenden Leute war ihr von jeher ein Greuel gewesen. „Laßt mich aus mit -em neumodischen Zeug!" hatte sie entsetzt ausgernfen, als Liselotte ihr die im Abend blättchen abgedruckte Bekanntmachung des Landrats vor gelesen. „Mich bringen keine zehn Pferde aus meinem behaglichen Stübchen." Es kostete Liselotte eine große Ueberwindung, der Mutter eine Komödie vorzuspielen. Von jeher war Marion deren Lieblingskind gewesen. Nun war es Lise lotte nicht klar, ob die Betrübnis der Mutter, Marion so kurz nach Vaters Tod bei einem solchen Unternehmen zu wissen, größer sein würde, als der Schmerz, wenn sie nachher erführe, daß Marion durchs Städtchen gekommen war, ohne daß sie davon eine Ahnung gehabt hatte. In steigender Nervosität begab sich Liselotte, nachdem sie Edith noch einmal äußerste Ruhe zur Pflicht gemacht hatte, in die Krankenstube zurück. Raoul atmete schwer. Sein Puls ging stockend; in seinen großen Augen lag die Fieberglut. Seine Lippen waren dunkelrot und brüchig von der überstandenen Hitze. Sie legte dem zuweilen leise und in heiserem Ton weinenden Kleinen Kompressen auf die Stirn. Für den Senfteigumschlag nm den Hals hatte sic alles zurecht gelegt. Da ihr das schmerzliche Röcheln -eS kleinen Patienten in die Seele schnitt, mar sic mehrmals ver sucht, ihn eigenhändig anzulegen. Der Doktor mußte ja aber doch jeden Augenblick hier eintreffen, er hatte fein Kommen bestimmt für zehn Uhr angesagt. Von der Kirche schlug cs halb elf, dreiviertcl. Da endlich fuhr das Landwägelchen deS SanitätSrateS vor. Im Hausflur sprang ihm Edith fröhlich entgegen. Frau Kerkhövt folgte. „Nun, alles gut hier?" fragte er. Auf dem oberen Treppenabsatz bemerkte er Liselotte, sah deren bleiche, verstörte Miene. Sie machte eine hastig abwehrende Geste, deren Bedeutung er sofort ver- stand: Liselottens Mutter sollte nicht durch einen offenen Bericht über den Zustand des Kleinen in Aufregung ge bracht werden. Einmal erforderte ihre eigene Gesund heit diese Schonung; dann wäre aber auch ihre Nervosität, ihr unpraktisches, unbehülflicheS Wesen bei der Behand lung des kleinen Patienten nur lästig gefallen. „Ah, da ist Fräulein Liselotte und winkt mir schon ganz vergnügt zu", sagte er, sich kurz von -em Paare ab wendend. Edith wollte auf die Tante losstürmen. Der Doktor brachte die Ausreißerin aber rasch und ziemlich energisch der Großmama zurück. „Liebste Frau Kerkhövt, tun Sie mir den einzigen Ge fallen, und bleiben Tie mit dem Mädel hier unten. Wie es scheint, geht oben ja alles nach Wunsch; aber Ruhe im Haus ist dringend erforderlich, sonst verliert man am Ende den Kopf. Es ist heute so schon alles außer Rand und Band in Chateau-Lanney. Diese gräßliche Rennerei rund um die Stadt herum! — Es war mit meinem alten Gaul Methusalem kein Borwärtskommen, sonst wäre ich schon längst wieder hier gewesen." Nach einem kurzen, ausgelassenen Sichhaschenlassen, womit Edith die gutmütig polternd hinter ihr her humpelnde Großmama neckte, verschwand das Paar wieder in -er kleinen Eckstube, die im Erdgeschoß lag. Wenige Sekunden später stand -er Doktor drüben am Krankenbett. „Ist ja nicht so schlimm, liebes Fräulein Liselotte, ist ja nicht so schlimm!" suchte er sie zu beschwichtigen. Aber seine ernste Miene strafte das, was er sagte, Lügen. „Herr Sanitätsrat", stieß Liselotte stammelnd aus, in dem sie den Doktor entsetzt anstarrte, „cs ist doch nicht etwa Diphtheritis?" „Ei, warum nicht gar. Aber 'ne nichtswürdige Bräune. Ich habe mich verspätet. Dieses verflixte Ge dränge auf -er Chaussee." Er lief selbst nach der Küche, um Wasser zu bestellen. „Setzen Sie sich doch ruhig hin, Kind", zankte er Liselotte aus, die ihm fast wankend folgte. „Das Mäd chen kann mir ja alles bringen, was ich brauche, Sie sollen sich nicht so ausrcgcn, zum Geier." Aber die Magd war nicht zu finden. Zweifellos hatte der allgemeine Trubel des Sportfiebers auch sie erfaßt und sie war auf die Straße gelaufen. Der kleine Patient erkannte den Doktor sür ein paar Sekunden. Er lächelte ibn schmerzlich an, dann erlosch sein Blick wieder. Den Mund vermochte er kaum einen Finger breit zu öffnen. Die Mandelgeschwulst hatte sich bedeutend verschlimmert. Wenn der Kleine schluckte, so verzog sich sein Gesicht so schmerzhaft, daß sich Liselotte das Herz zusammenkrampfte. „Bitte, sagen Sie mir ehrlich", begann sie wieder, „wie es um ihn steht. Sie dürfen mich nicht schonen wollen." „Sie sollen still sein, Fräulein Liselotte, und sich nicht den Kopf heiß machen." „Herr Sanitätsrat, ich habe eine große Verantwortung, Sie wissen nicht, was sich in dieser Stunde abspielt." „Abspielt, wo, was?" „Da draußen auf der Straße." „Ei, das weiß ich ganz genau; es ist der größte Un fug, -en ich seit langer Zeit erlebt habe. Aber was geht der uns an?" Liselotte hatte die Hände krampfhaft ineinander ge preßt. „An dem Rennen, Herr Doktor, ist jemand be teiligt, -essen Anwesenheit hier unter Umständen dringend erforderlich wäre — für den Fall wenigstens, daß Raouls Zustand gefährlich ist." „Gefährlich, ja, mein Gott, gefährlich ist so ein Anfall selbstverständlich. Aber wenn der Arzt eingreift, dann hat cs keine Gefahr mehr." „Es hört sich manchmal an, als wäre der Kranke am Ersticken." „Ei Donner, ersticken wird er schon nicht. Darum öffnet man eben die Geschwulst. Sie brauchen sich also nicht aufzuregen, Fräulein Liselotte." Liselotte atmete tief auf. ,Herr Sanitätsrat, ich halte es unter Umständen für meine Pflicht —" „Dchwerebrett, heraus endlich mit der Sprache. Sie sind mir ja ganz verwandelt, Kind, gar nicht mehr wieder- zuerkennen. Was gibt es denn bloß?" ' »Liaouls Mutter ist nicht mehr weit von Chateau- Lanney." „Sie — haben sie benachrichtigt?" „Ich schrieb ihr, als Raouls Zustand noch nicht weiter besorgniserregend war. Gestern benachrichtigte ich sie von der Verschlimmerung. Der Brief ist aber wohl erst in dieser Stunde in Paris, und sie hat ihn kaum mehr er halten. Tenn sie hat Paris bereits heute nacht verlassen. »Heute nacht? Zu derselben Zeit, zu der die — die Automobilisten die Fahrt angetrctcn haben?" „Ja, sie — sie macht selbst — das Rennen mit." „Potzblitz!" Der Sanitätsrat sah sie mit großen Augen an. „Und sic muß also in der nächsten Stunde hier durch kommen." Unwillkürlich war der Doktor zum Fenster getreten.
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