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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 14.11.1903
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1903-11-14
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19031114013
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1903111401
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1903111401
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
- Monat1903-11
- Tag1903-11-14
- Monat1903-11
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Wohl stehen auch heute noch drei oder vier Gruppen abseits von der neue» Koalition» da aber der Einstich der gemäßigten „riicalistcn" Proicssvr Masaryk« nur sehr platonisch ist, die tschechischen Radikalen (Vaxa) und selbstverständlich auch die „internationalen" Sozial demokraten im Kampfe gegen die Deutschen unter allen Umständen ihren Mann stellen, bars das neue Aktions programm, mit welchem die tschechischen Liberalen, Klert- ' kalen und Agrarier am Ende dieses Monats in den wieder- eröffneten NeichSrat einziehcn werden, als ein tschechisches Nativnalprogramm angesehen werden. Es tut diesem j Nationalgcpräge dabei keinenEintrag. stimmt vielmehr ganz § zur Mechanik des „Böhmischen ZirkelS", dast der größte Teil de« Programms, besonders in den Sprachensorbe- rungen Satz fiir Satz aus dem siegreich gebliebenen Pro- gramm des magyarischen Chauvinismus — abgeschricben ist. Nur in einem, leider im wichtigsten Punkte, sind die Herren Plagiatoren von ihrem vieibencidcten Bnbilde abgewichen: sie haben sich ängstlich gehütet, den Geist feneS starren Zentralismus irgendwie anznrufen, mit dem da- ungarische Magyarisierungsprogramm steht und fällt. Denn gerade dieser Zentralismus ist diesseits der Leitha der Todfeind, welcher in der Gestalt des Deutschtums der Verwirklichung des tschechischen Gtaatsrcchts im Wege steht. Und darum liegt der Kern des neuesten Demoffe- rungSprogrammS nicht in dem langen sprachlichen Wunsch zettel. der einfach aus dem Magyarischen inS Tschechi che übersetzt und bei dieser Gelegenheit — der Appetit kommt im Esten — ans Niederöstcrreich und Wien ausgedehnt wurde, sondern in dem ersten, grnndstürzenden Pro- grammpunkte: Föderative Einrichtung des habsbur- gischen Staates. Mit dieser Erhebung des FvdcrativgcdankcnS zur ge meinsamen Basis eines nationaltschechischen Parteien- bundeS tritt das T^chechentum aus dem Gesichtskreise seiner lokalen StaatSrechtStbeorien aitt daS Gebiet einer gesamt- staatl chen Agitation für die Auslösung der östcrrelch'sch-un- garischen Monarchie in einen Bund von Nationalstaaten, eine Art„BereinigterStaaten von Mittele u- ropa". So toll der Gedanke im ersten Augenblicke scheint, erist weder neu, noch aussichtslos. Seitlich die staats, rechtlichen Reibungen zwischen den beiden Reichshä'lften einerseits und anbrers itS die nationalen K ämpfe der S'cimme Oesterreichs untereinander bis zu allerlei verzweVelten Parolen: LoS von Oesterreich! Los von Ungarn! Los von Galizien! LoS von Prag! usw. verdichtet haben, welche die Abneigung gegen ein ferneres Zusammenleben deutlich genug bekunden, ist der Boden für die Airfnahme 'vbera- listischer Ideen saatreif geworden. Und es entspricht ganz und gar dem tschechischen Ehrgeize, die Deuttchen in der Führung der Monarchie abzulvsen, wenn sie zum ersten Male ihre gesamte Nationalkrast in den Dienst einer Idee stellen, die zwar auch nicht ihr aeistiges Eigentum ist, aber ihren Traum vom tschechischen Nationalstaate mit der Königskrönnng auf dem Prager Hradschin seiner Er füllung lnn ein gewaltiges Stück näherbringen würde. Der natürliche Bater und vornehmste Pfleger aller Sutonomiebestrebungen der Länder und ihrer Völker stämme ist seit teher der KlerikaltSmuS. Welche Rolle er in Oesterreich als Bundesgenosse de- Slawentums spielt, ist bekannt, aber erst jetzt wird allmählich offenbar, dast all di« nationalen Fehden, welche die Monarchie seit Jahrzehnten zerrütten, nur dem einen Gedanken dienen, den deutschen Zentralismus, besten Seele im Wiener Zentralparlament liegt, »cl nlmuräum zu führen und die Regierungsgewalt anj' di« mit weitgehender Autonomie auszustiattenden Landtage der 17 Kronländer zu dezentralisieren. Der Herrschsucht des Klerikalismus ist die offizielle Regierung trotz ihrer starken Abhängigkeit von der Nebenregierung der klerikalen Hofkamarilla im Innern noch immer viel zu liberal, in der äußeren Politik noch viel zu sehr von historischen deutschen Ideen durchsetzt. Da aber eine Rückkehr zum Absolutismus angesichts des Anwachsen» demokratischer Strömungen auch der römischen Kirchenpolitik völlig aussichtslos er- scheint, diese vielmehr vortrefflich gelernt hat, mit dem Strome zu schwimmen, gibt eS nur ein Mittel, der römischen Kirche ihre völlige Herrschaft im Habsburger Staaten aut Umwegen zu erobern; die Ver- länderung der Verfassung, die Abschaffung des Zentral parlament». Mit der Auslösung Oesterreich» in ein« Fö deration autonomer, nach nationalen Gesichtspunkten ab- gegrenzter Verwaltungsbezirke mußte es den klerikalen Parteien ein Leichte» sein, in den rein deutschen Kronlän- Vern die Majorität zu erringen und in den gemischt sprachigen Gebieten das liberale Deutschtum gegen flamifch-klerikale Mehrheiten in ohnmächtige Minorität zu drängen. Man muß di, derzeitige Gesamtlage der österreichischen Staatükris« überblicken, um di, Wirksamkeit dieser einzigen zielbewußten Politik die in Oesterreich gemacht wird, auf allen Gebieten zu erkennen, für die Unbegreiflichkeit vieler anscheinender Widersprüche den Schliistek zu finden. Ein greller Widerspruch ist eß doch, wenn im selben Augenblick«, da bas Magvarentum sein Nationalparlament mit den ab gepreßten HoheitSrcchten der Dynastie ausstattet, da- öster- retchischeParlament den Tiefstand seinerOhnmacht erreicht; wenn im Nationalköniareich Ungarn unter dem Schatt-n eine» Königtum» parlamentarisch, gleichzeitig aber in der anderen namenlosen R,ich»h«sft« unter dem Schleier bi» ß 14 absol«tistisch regiert wirb. Daß da» Band Wetschen zwei derart in entgegengesetzter Richtung an«. it»<u»»Etterttri Staat»hälft«« reihe« «uh» Ist nur «ine Frage der Zeit, jener Zeit, die das ungarische Separations bestreben braucht, um durch die heute noch uuentbehrlichcu Zuschüsse Oesterreichs aus dem erneuerten Aue-g eiche für die völlige Unabhängigkeit stark genug zu werden. Die selbe Zeit, etwa 15 bis 20 Jahre, muß aber auch die kleri kale Partei dem Dualismus noch fristen, um von ihrer starken Position in Wien aus die nichtmaguarischen Natio nalitäten, insbesondere die Slawen Ungarns zum Kampfe gegen den Liberalismus zu organisieren, dem die katho lische Volkspartei Ungarns durch den Grafen Appvnyi wohl zum letzten Male in den Steigbügel geholfen hat. Die römische Politik braucht in Ungarn nur dem Pan slawismus und der rumänischen Orthvdoric die Hand zu reichen, den Deutschen gewiße nationale Bürgschaften zu geben, und auch der liberale Zentralismus in Ungarn ist — gewesen. Heute findet eS die vatikanische P littk noch für klug, die Erstarkung des „magyarischen Königreichs der Krone des hl. Stephan" gegenüber Oesterreich zu fördern; aber schon jetzt zeigen die ObstruktiouSdrvhnngen der kle rikalen Ugron-Fraktion und ihr Liebäugeln mit einem Barabas, daß die Kirche das Instrument des magyarischen Chauvinismus ebensogut zu spielen versteht, wie der Libe ralismus, besten gebrechliche Konstitution fortan mit einer starken klerikalen Opposition zu rechnen haben wird. Ungleich günstiger, geradezu ideal stehen die AuAsichten auf eine klerikal-slawische Föderalisierung der anderen Neichshülfte. Man n«nnt sie der Kürze halber auch heute noch „Oesterreich", aber man wird sich den Namen in dem selben Grade abgewöhnen wüsten, je mehr die Parteien der Autonomie und Föderation daraus bestehen, daß der ver fassungsmäßig festgelegte Name von „Königreichen und Ländern" auch wirklich zur Geltung komme. Freilich wird diese prinzipielle Anerkennung autonomer historischer Ge bilde in der westlichen Neichshülfte etwas unangenehm ge stört durch den zentralistischen Beigeschmack des Wortes „die im N e i ch s r a t e vertretenen Königreiche und Län der". «Aber wo ist dieser ReichSrat? Die Polen, deren Schlachta so klug war, sich in Galizien schon jetzt ein« Landesautonomie zu sichern, in die Wien fast gar nichts brcilrzurcden hat, nennen ihre Vertretung lm Abgeord netenhaus« schon längst ganz offiziell: „die polnische Dele gation". Sie hat nur dafür zu sorgen, daß die Unter stützungen des bankerotten Landes aus der Staatskasse pünktlich einlaufen. Ein anderes Interesse, als den klingenden Lohn für ihre Dienste als Mehrhcitspartei haben die edlen Galizier am NcichSrate nicht. Ihrem Bei spiele sind die Tschechen längst gefolgt. Auch sie betrachten sich nur mehr als die „tschechische Delegation" des „böhmi schen Volkes", besten eigentliches Nationalparlament sie im Prager Landtage erblicken. In dem unermüdlichen Streben, die Tätigkeit des Parlaments zu hemmen, sein Ansehen zu untergraben und ihm dann den Fußtritt zu geben, wenn es für die nationalen Sonderwünschc hin reichend ausgebcutet ist, haben sich nun die klerikalen Alt tschechen mit den jungtschechischen Neuhnfsiten unter dem Legen des streng katholischen böhmischen FcudaladelS brüderlich geeinigt. Es fehlt nur noch die Konstituierung der Slowenen und Kroaten au« Steiermark, Krain, Kitstenland und Dalmatien als „südslawische Delegation", um schon jetzt die Landkarte der künftigen bereinigten Staaten von Oesterreich" in den Farben und Umrissen ihrer slawischen Gebiete beiläufig anzudeuten: Im Norden — in seiner Vorbereitung am weitesten vorgeschritten — das großtschcchtsche Reich der WenzelSkrone, umfassend: Böhmen, Mähren und Schlesien; im Süden «in auf Dal matien basiertes grotzkroattschev Reich des hl. Awonimir, über besten Abgrenzung und Abfindung gegenüber Ungarn, -Serben und Slowenen di« slawischen Staats- rechtSgelehrten allerdings noch nicht einig sind; im Nord osten endlich ein autonomes Königreich Galizien, besten hohe Bestimmung als Stammlanb der künftigen groß polnischen Dynastie den „Brüdern" in Rußland und Preußen ja hinlänglich bekannt ist. Mit größerem Rechte als j« kann heute di« klerikale Politik hinsichtlich der Slawen ein berühmtes Wort variieren: Seyen wir den slawischen Chauvinismus nur «rst in den Sattel; reiten wird er schon können! Das größte Hindernis auf diesem Ritte ins romantische Land des slawisch-klerikalen Länderbundes bilden natür- lich die im Zentrum der Föderation liegenden deutschen Kronländer, die Erz- und Erblanbe des Hauses Habsburg. Aber auch hier sind bi« Hindernisse nicht mehr unbesiegbar. Das liberale verfassungstreue BUrgertlnn, welches die heutige Konstitution geschaffen und dabet leider auf sine vollständige deutsch« Zentralisierung, auf di« Sicherstellung der Staatssprache und Auflösung der Land- tage vergessen hat, ist im Aussterben begriffen und b«. schränkt sich in ein«r Gcmeinbürgschaft mit Deutschnatto- nalen und — Christlichsozialen auf eine durch die be kannte „deutsch« Einigkeit" gekennzeichnete Defensive. Mit der Verwirklichung des tschechischen Staat-rechtes allein, durch welches das deutsche Innerösterreich den starken Rückhalt de« nationalen deutschbvhmischen Bürgertums verlöre, müßt« auch dieser passive Widerstand zusammen- brechen. Denn di« Alpenländer, insofern sie noch rein deutsch sind, gehören mit einziger »Ausnahme des national, liberal vertretenen Kärnten und der Landeshauptstädte und Industriebezirke mit deutschvölktschen oder liberalen Majoritäten dem Klerikalismus. Wa« im Ltammlande Nirberösterreich bi« vor zwei Jahren noch national und freisinnig war. ist von der christltchsoztal beherrschten Reich-Hauptstadt au« durch deren Bürgermeister vr. Lueger für den Klerikalismus erobert worden, der so- eben durch die schmachvolle Hetz« d«H niederöster- r«ickischen Landtag» gegen dir ärztliche Wissenschaft unter Zustimmung des Kaiser!. Statt- Halter» ganz erstaunliche Proben feiner Kraft abgelegt hat Und gerade dies« Vorhut de» Klrrkkaltsmu-, die auch im liberalen Schwabenlänbl« Vorarlberg und selbst unter den radikalnationalrn Deutschdöhmen ihre Netze auswirft, ist unter den Deutschen di« Hauptträgerin de« autonomen Föderalismus. Such Ihnen ist da« Zeniralparlam«nt, dem Oesterreich unter anderen sreiheiUtchen Errungen. schäften des Liberalismus das verhaßte Neichsvolksschul- gescy verdankt, ei» Greuel, und deshalb werfen sie sich mit aller demagvgiicheu Kunst aus die Eroberung der Land tage, um das von »Reichswegen nur im Wege einer Ver- iassungsänderung angreifbare Schulwesen im Wege der LandeSgesctzgebung zu klerikalifiereu. In »Niederösterreich sind sie aus dem besten Wege dazu, und erst in den letzten Tagen ist es ihren tiroler Gesinnungsgenossen gelungen, durch ein Bündnis mit den Italienern auch dort die Landeslehrerschaft unter die Aufsicht der Kirchenpatrone, der Bischöfe und Klöster zu bringen. Der Landesparti- kularismus der Lberösterreichrr, Salzburger, Tiroler usw. hat nie sonderlich nach Wien gravitiert, wo ohnehin „nur Steuern wachsen", die dann weit hinten in Galizien und Tschechien verschwinden. Bei dem heutigen trostlosen Zu- stände des slawisch zersetzten Parlamentes ist eS der kleri kalen Agitationskunst vollends ein Leichtes, ihre Schüflein nicht nur von der Nutzlosigkeit des,Parlaments, sondern der heutigen zentralistischen Verfassung überhaupt zu überzeugen. Mtt diesen, auch in gebildeten Kreisen schon ringe- rissenen Zweifeln an der Lebensfähigkeit Oesterreichs in seiner heutigen Fvrm ist der Boden sür den Föderalismus unter den Deutschen ichon sorgfältiger vorbereitet, als man jetzt noch glaubt. Mit dem stumpfen Fatalismus, der deu DcutsMöstcrreicher in kritischen Lagen zu ergreifen pflegt, voll Erbitterung über die immer ärger werdende wirtschaftliche Stagnation, voll Entmutigung über das von oben gegebene Beispiel der Hülflosigkeit, voll Ekel über die skandalösen Ausartungen des Parlamentarismus, lauscht er den klerikalen Lockungen: „Man muß die Streitende» trennen — der Föderalismus ist der Friede!" Dieser er scheint ihm gegenüber dem drohenden Absolutismus doch noch als das kleinere Nebel, und die heutige Negierung scheint nicht gesonnen zn sein, dieser wachsenden Neigung zu der lebensgefährlichen Operation am siechen Staats, körper durch ein entschiedenes Wort entgegen zu treten. Am 4. November waren just drei Iabrzehnte verflossen, seit das erste, mit Umgehung der Landtage direkt ans der Gesamtmonarchie gewählte Parlament in Wien znsommen- getretcn ist. Die 17 Kleinparlamentc hat man fortbestehen ,lasten, aber diese al? rein wirtschaftliche Gesetzgebungs körper gedachten Landtage haben sich an den Flammen des Zcntralherdcs in Wien zn ebenso vielen lokalen Brand herden deS Vöskerzwistcs entwickelt. Auch wenn das „Theater am FranzcnSring" zn Wien, wie der Volks"»ttz das Parlament genannt hat. heute eines mehr oder minder sanften Todes stürbe, so wäre mit der Föderation auto nomer Landtage nur eine weitere Zersetzung der Staats einheit erreicht, obne die Völkcr^wictracht, dieses Ahnfrau- gespenst aus den Mauern Habsburgs zu bannen. Im Gegenteile: das böse Beispiel des Reichsratcs hat die guten Ssiten der Landtage verdorben. Der Lärm von Obstruk- tionßkämpsen und zeitweiligen Sezessionen dringt ans den Landstnben von Prag, wi« von Innsbruck, von L"ibach wie von Lemberg, von Zara und Görz, wie von Graz nnd Czernowitz. Sie erbringen — sollte man meinen — tagtäg lich die Beweise, daß auch der Föderalismus dem Reich? nicht den Frieden bringen würde; aber Tatsache ist, daß sie neben dem mehr und mehr erbleichenden Schatten deS Parlaments immer stärker in den Vordergrund treten, lind so mag eS denn wirklich kommen, daß die österreichische Siaatskiinst, nachdem sie sich selbst den deutschen Ast durch gesägt. aus dem sie so lange gesessen, in Ihrer Hiifflvkiykeit auch nach den slawischen Krücken imb klerikalen Gipsvcr« bänden grclff, die ihr das geeinigte Grvßt'"ch«chentum von Prag aus im föderalistischen Programm entgegenhült. Deutsches Neich. Leipzig, 13. November. (Sozialdemokratie und Pietät.) Die Veröffentlichung der Kriegsbriefe des Ge nerals von Kretschmann durch seine Tochter, die jetzige „Genossin" Lily Braun, hat die „Sächsische Arbeiter zeitung" veranlaßt, eine überaus charakteristische Auslassung m Bezug auf kindliche Pietät zu macken. Nachdem nämlich Oberleutnant v. Kretsckmann in der „Frankfurter Oder-Ztg." erklärt batte, daß die Herausgabe jener Briefe den Wünschen des verstorbenen General- widerspreche, frohlockte daS Dres dener Sozialistenblatt über jene Veröffentlichung, gerade weil sie entgegen dem Wunsche deS Verstorbenen erfolgte. Die „Sächsi Arbeitrrztg." begründete diese eigenartige Genug tuung u. a. folgendermaßen: „Der die Vernichtung fordernde Vermerk des Generals v. Kretschmann entstammte den politischen Anschauungen dieses Generals und ist von seinem streng monarchischen und von der Notwendigkeit der Sicherung der AuloritätSgewakt durchdrungenen Standpunkte au- sehr wohl »u verstehen. Man darf vielleicht davon reden, eS sei überhaupt eine Eigentümlichkeit der letzten, au-sterbenden Generation, die so ängstlich um ihre korrekte Würde unv um «ine« fleckenfreien Eindruck der Persönlichkeit nach außen besorgt war, gewesen, den brieflichen Nachlaß bei Lebzeiten zu zerstören, oder seine Zer störung letztwillig zu fordern . . . Aber gerade diese Tatsache muß bei Beurteilung von L ly BraunS Verfahren in Ansatz ge bracht werden. Wir möchten bloß wünschen, ihr Beispiel bewirkte, daß in recht weite Kreise die Anschauung Eingang fände, daß eS neben der Pietät für verstorvene Angehörige auch noch eine Achtung vor der Wissenschaft gibt, die »ft genug deshalb den Vorrang verdient, weil da« persönliche, zeitlich eng heareinte Interesse ent schieden Vinter da- geschichtlich, DayrbeitSstreben, von dem gemeinnützige Wirkungen auSgehen, zuriickzutreten hat." — Als die „Sachs. Arbeiterztg.* da- Borstcbcude schrieb, war ibr di« entrüstete Antwort der „Genossin" Lily Braun auf die Erklärung de- Oberleutnant« von Kretsckmann in der „Frankfurter Over-Ztg." noch unbekannt. In dieser Ant wort bestreitet bekanntlich die „Genossin" Braun sehr lebhaft, daß ibr ein entsprechender Wunsch ihre« Vater« bekannt geworden sei und sich auf die veröffentlichten Briefe brrogen haben könne. Die „Genossin" Lily Braun »st »ts< offtuba» ittz Puuttt de» schuldig«» km»licht« Pietät gegen Verstorbene in rückständigen bürgerlichen Anschauungen belangen; sonst hätte sie ohne Zweifel die „Achtung vor der Wissenschaft" auSgeipielt, al« deren Anwalt jetzt die „Sachs. Arbeiterztg." auftrilt. Wenn daS genannte Sozialistenblatt an dem vorliegenden Falle gelernt hat, wie gründlich veraltet der sogenannte Familiensinn sei, so widerspricht die Ver öffentlichung der „Genossin" Lily Braun auch dieser Auf fassung. Allerdings hat die „Genossin", als sie die Briefe ihres Vaters publizierte, „Familiensinn" nicht im Hinblick auf die Familie v. Kretschmann, sondern im Hinblick auf die Familie Braun bekundet. * Leipzig, 13. November. (ArbeitSlosen-Bersiche- rnng in der Schweiz.) In Nr. 576 des „Leipz. Taget,!.* cAbendanSgabe vom l2. November) war gesagt, daß in der Schweiz der sozialdemokratische Antrag aus Einführung deS „RechlS aus Arbeit" Erfolg gehabt habe, indem jetzt iedem Schweizerbiirgcr das Recht auf ausreichend lohnende Acbeil gewährleistet sei. Bon einer Seite, die mit den be treffenden Berbältnisscn genau vertraut ist, wird uns dies als un- richlig bezeichnet und hinzugesügt: „Bekanntlich muß in der Schweiz jedes Gesetz die Volksabstimmung (das sog. Referendum) passieren. Nun ist aber dieser Antrag auf Einführung des Rechts auf Arbeit 1804 bei der VoltS- absliininuna mit 200 000 gegen 71 000 Stimmen abgelebut worden, «eitdem ist er aber meines Wissens nicht mebr zur Absliminung gekommen. Es kann also von gesetzlicher Ein führung dieses Rechts nicht die Rede sein. D:e kantonale Einsnhrung der Arbeitslosenversicherung ruht also auch nicht auf diesem vernieiutlichen Gesetzt." 6. 11. Berlin, 13. November. (Die Garnisonen in den Grenrprovinzen.) Bier sehr unangenehme Borgänge in unseren Grenzgarnisonen haben in den letzten Jahren dre Aufmerksamkeit auf sich gezogen und gezeigt, daß wir wirklich keine Beraulassung haben, auf unseren Lorbeeren auszuruhn. Es ist manches in unfern Grenzgarnisonen nicht so, wie eS sein sollte. Zwei der sehr unangenehmen Vorgänge haben sich im Westen, zwei im Osten zugetragen. Im Osten war eS zunächst die Erschießung deS Rittmeisters v. Krosigk bei dem damals in Gumbinnen und Stallupönen liegenden 11. Dragoner - Regimente, die allgemeine« und berechtigte« Aufsehen machte; der zweite Fall betraf den be kannten Sportsmann Major Freiherrn von Fuchs- Nord ho ff im kombinierten Jäger-Regiment z. Pf in Posen. Major Fuchs von Nordboff ist mit schlichtem Abichied entlassen worden; er war fahnenflüchtig geworden; im „Reichs- Anzeiger" war daS Weitere zu lesen. WaS der aktive Major begangen, entricht sich der öffentlichen Erörterung. Die beiden Fälle im Westen sind eigentlich noch schlimmer. Die unselige Tat deS Oberstleutnants R ue g er im 17.Infanterie- Regiment in Mörchingen warf einen grellen Schein auf die Garnisongeheimnisse im Westen; die Forbacher Verhältnisse, wie sie durch den Prozeß gegen den Leutnant Bilse sestgestellt sind, werden durch Tatsachen charakteri siert, die man früher für ganz unmöglich gehalten Haven würde. Wenn der Rittmeister Bandel aussagte: ,,e« gab jede Woche einen neuen Skandal, e- lag ja auch genug Material vor", so ist da« «ine Anklage, wie sie schärfer nicht gedacht werden kann. Wenn man nun weiter aus der Rangliste ermittelt, daß beim 60. Infanterie- Regiment in Weißenburg ein Oberleutnant, im 112. In fanterie-Regiment in Mülhausen i. E. ein Leutnant, im 135. Infanterie-Regiment in Dirden Hofen ein Leutnant und im 173. Infanterie-Regiment in St. Avold ein Leutnant mit schlichtem Abschied entlassen sind, so muß diese Häufung von schweren Vergehen jedenfalls stutzig und sehr bedenklich machem um so bedenllicher, je voll kommener kompetente Beurteiler der französischen Militärverhältnisse darin übereinstimmen, daß der Eifer und der Geist der französischen Offizirrkorp» in den Grenzgarnisonen Nancy und Belfort usw. alle« Lob ver dienen. Es ist eine Elitrtruppe dort zusamntrngezogen, was man von Forbach jedenfalls nicht sagen kann. Wir glauben daher bestimmt, daß das lothringische 16. Train-Bataillon bald eine große Reibe Verabschiedeter aufwrisrn wird. Aus alle Fälle ist die Sache mit dem Prozeß Bilse noch lange nickt zu Ende. Die Verhandlungen gegen Bilse werden im Militärkabinett sehr genau studiert und ein Ein greifen deS Kaisers wird nicht lange auf sich warten lassen. Die Frage, ob bezüglich der Grenzgaruisonen nicht überhaupt Aenderungen einzusuhren seien, ist schon seit einiger Zeit ein gehend geprüft worden; der Prozeß Bilse wird den Anstoß geben, mit Versetzungen nicht langer zu zögern. Ein stram merer Dienst wird gan» zweifellos schleunigst eingeführt werden, denn daß ein Leutnant nachmittags keinen Dienst tut, weil er ausschlafen muß, wird gerade in solchen mili tärischen Kreisen, die strammen Dienst ebenso gewöbnt sind, wie sie ihn sür nötig Halten, als eine Ungeheuerlichkeit be trachtet werden, di« nicht rasch genug beseitigt werden kann. Ueberbaupt darf man Überzeugt sein, daß eö gerade militä rische Kreist sein werden, die am energischsten und erfolg reichsten auf eine gründliche Besserung von Verhältnissen dringen, die unseren äußeren wie unseren inneren Feinden Freude bereiten und Hoffnungen erwecken. (-) Berlin, 18. November. (Telegramm.) Der kutser arbeitete gestern nachmittag längere Zeit allein. Die zNat.-Ztg? schreibt: „Als Melvuna der „Neuen Freien Presse* wird eine von dem Wiener Blatt tatsächlich nicht abgedruckte Nachricht in hiesigen Blättern wiedergegebea, wonach Kaiser Wilbelm den Winter im Süden zubrinaen soll. Diese Meldung kann, wie obne weiteres hervorgebooen werden darf, als geschmacklose Erfindung bezeichnet werden. Es handelt sich bei dieser Meldung wobl nur um einen Reklame-Wettkampf »wischen San Remo und Bordighera.* — lieber den Verlauf der Operation er fährt die „Franks. Ztg.* au« authentischer Quelle «och folgende interessante Einzelheiten: Der Polyp war nicht, wie «S di» Regel ist, gestielt, sondern saß breitbasig am Rand« be« linken StimmbandeS. «u« diesem «runde war di« Operation etwa« komplizierter alS bei gewöhnliche» SÜmmbandpolype«, da die «rschwiist eest tz»ech tt»e» rlitschültt « Ihres »ost« 1» »tu« grflttUtt ,M»cht MM» Mußt». »W-tUM
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