Suche löschen...
02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 23.01.1905
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1905-01-23
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19050123020
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1905012302
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1905012302
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1905
- Monat1905-01
- Tag1905-01-23
- Monat1905-01
- Jahr1905
- Links
-
Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
Abend-Ausgabe Nr. 41 Montag dm 23. Januar 1905. Aepatti«« mW Hk»e»ttt-iu 1ÜS Fernsprecher 2LL JohanniSgass« 8. Haupt-Fili«le rre-tze«: Marienstraße 34 (Fernsprecher «mt I Nr. 171N. H«upt-Atttale verli«: CarlDnuckrr, Herzg UBoqr^osbnchbandlg, Lützowslraße 10 (Fernsprecher Amt VI Rr. 4603' " VezugS-VreiS t» d« Hanptexpedttio» »der der« AatzaL»- pellen abg,h,lt: vierteljährlich S.—, bet zwtimaliger täglicher Znstrllnng in« Han» 3.7b. Dnrch die Post bezogen für Deutsch ¬ land «. Oesterreich vierteljährlich ^4 4.S0, für di« übrigen Länder lcnU Zeitung-Preisliste. 'clpWtr.TaMatl Anzeiger. Ämtsökatt des KSnigNche« Land- «nd des Königliche« Amtsgerichtes Leipzig, -es Nates und -es Nalizeiamtes der Ltadt Leipzig. Diese «»»»er kostet aus allen Bahnhöfen und 1I bei den Zettnngr-BertSusern t k Anzeigen-Preis die «gespaltene Perirzeile 2ü ^s. Familien» und Stellen »Anzeigen SO ytnanztell« «»zeigen, GeschüftSauzetge» Meter Text oder an besonderer Stelle nach Laris. Die 4 gespaltene Reklamezeile 7b Ameah«efchl«sr für Anzeige». Abend-An-gabe: vormittag» 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: nachmittag» 4 Uhr. Anzeigen find stets an die Lxprdttion zu richte». Ertr«-Veilage» (nar mit der Morgen- Ausgabe) »ach besonderer Vereinbarung. Die Expedition ist wochentags ununterbrochen geöffnet von stich 8 bis abends 7 Uhr. Druck und Verlag von E. Pol- in Leipzig (Inh. vr. «„ R. L W. «liukhardtt SS. Jahrgang. Var MGtigrte »om rage. * Die Bergarbeiter im Zwickauer Kohlenrevier haben beschlossen, nicht zu streiken. (S. dtsch. Reich.) * Nach Telegrammen aus Petersburg von 1»/« Uhr morgen- wurde im Stadtteil Wassili Ostrow bi» nach Mitternacht geschossen. Der amtliche „Regierungsbote" gibt nur 76 Tote an, eine Zahl, die zweifellos unwahr und viel zu niedrig ist. (S. den Leitartikel.) * Da» Kabinett Rouvier ist, mit DelcassL und Berteaux, nahezu fertig; am DienStag sollen die Kammern zusammentreten. (S. Ausland.) * Die Herrschaft der Bereinigten Staate» über San Domingo wird durch em Abkomme» ge regelt. (S. Ausland.) * Durch das Erdbeben in Thessalien wurden mehrere Dörfer zerstört; viele Personen kamen ums Leben. (S. A. a. W.) Vie 5ttarrenr«la»t i« peterrburg. Die Ereignisse jagen schneller, als selbst unterrichtete europäische Zeitungskorrespondenten, welche die Absichten deS Petersburger Streikkomitees, seine Pläne und die elementare Stärke seines Aufgebots kannten, vermutet hatten. Auf einen tragischen Verlauf deS gestrigen Sonntags, aus eine gewalt same Abweisung der „Sturmpetition" und auf einzelne Ver zweiflungstaten der blind sich vorwärt» schiebenden Menge war die öffentliche Meinung vorbereitet. Ein solche» furcht bares Massacre hatte niemand anzusagen gewagt; diese- jähe Verderben von hundert besseren Möglichkeiten anzuerkennen, entschließt sich das Urteil erst dann, wenn die unwiderruf lichen Tatsachen geschehen sind. Jetzt sind sie geschehen. Die von einem Popen geführte Streik revolte der Petersburger Arbeiterschaft ließ sich noch gestern durch einen Vergleich beenden, Unterhandlungen über die wirtschaftlichen Programmforderungen und deren Sonderung von den politischen Teilen der Petition waren denkbar. Dar, Heer der Ausständigen ist nicht diszipliniert, ihm fehlt die Einheitlichkeit, und morgen konnte das Ministerium, konnte der Petersburger Stadthauptmann den von dumpfem, frommem Wahn getragenen, von alter Unterwürfigkeit noch nicht freien, gutartigen Volkshausen durch erfolgreichen Zwang gegen die Werkstättenbesitzer beruhigen. Jetzt ist des Fürsten Trubetzkoi vielberufenes Zitat von der Emeute, die schon Revolution ist, verwirklicht. Erwürgt scheint jegliche, von gemäßigten, ihr Vaterland liebenden Rusten, von kennt nisreichen europäischen Kritikern gehegte Hoffnung, die un- geheure, in der russischen Staatswirtschaft, in der militärischen und ökonomischen Struktur des Reiche- vorhandene Macht lasse sich auf organischem Wege reformieren. Im Jahre 1905 soll Pobjedonoszew, den der Zar Alexander H. zum Prokureur des heiligen Synods ernannte, sein Amtsjubiläum begehen; nun wird vor dem Ablauf dieser Frist das national- moskowitische System zerschlagen, ehe die Bunge, Wyschne- gradski und Witte cs zu festigen vermochten oder die Be ratungen über den Reformukas auch nur gegen die das Russentum am schwersten bedrückende Not, die Not deS Bauernstandes, positive Agrargesetze hinauSzulassen ver mochten. WaS kommen wird, ist nicht abzuleben. ES fragt sich, wie viele Revolutionstage Petersburg erleben wird, zu welchen Schritten die Zarenmonarchie sich aufrafft, und wie viel tätige Intelligenzen aus dem russischen Zentrali». muS sich losmachen werden. Sehr wesentlich ist, daß die Anarchie nicht im alten Moskau begonnen hat, sondern in Petersburg, der halbeuropäischen Metropole, die den Herz schlag des russischen Volkes nicht fühlt, deren Gesellschaft die Ermordung de» Minister» von Plehwe auf Festgelagen be- jubelte und ebenso wenig auS ihrem Vergnügungstaumel er wachte, wie nach dem Fall von Port Arthur — in Peters burg, da» nach der „N. Fr. Pr." die Fenster der Häuser «nd die Schaukästen in den Läden auf dem NewLki-Prospekt ver sicherte. Zwischen dieser entnationalisierten halben Kultur, die fast anmutet, als sei sie im Sinne jene» Ausspruchs „vor der Geburt verfault", und zwischen verzweifelten Scharen wogt der Kamps, den ein Pope, der Sohn eines Muschiks, einer von «da draußen" kommandiert. Sie laufen mit naza- renischem Flehen in den Tod, wie die schmutzigen, dunklen Märtyrer, die Dostojewsky, der Seelenkünder des Rusfen- tums, gestaltet hat. Sie haben bis zum letzten Moment nicht geglaubt, daß man auf sie schießen würde; al» sie den uni- formierten russischen Brüdern zuriefen, sie sollte» die Ge wehre sinken lassen, hat ein Teil der Soldaten ihnen gehorcht, erst der Angriff der Ulanen und Kosake», die mit blanker Waffe in die aufschreienden Rotten hineinlprevgteu, hat die Katastrophe besiegelt. * ^et«r»b»rg«r Bericht« über bi« Schrecken»« Szene«. ES werden noch folgende Einzelheiten bekannt: Bei Morgengrauen wurden sämlüch« Straßen durch einen einfachen Militärkordon abgesperrt. Gegen M2 ttyr zvg eure gewaltige Arveitermenge unter Führung des Priesters Gapon, der in der einen Hand daS Kreuz, rn der andern eine Rolle, die Bittschrift für den Zaren, trug, durch die Straßen zum Winterpalais. Die Arbeiter wurden kurz ausgefordert, den Platz zu oerlassen; als niemand gehorchte, er folgie die erste blinde Salve, dann ertönten zwei scharfe. Ungefähr 50 Menschen waren sofort tot, weit über 100 verwundet. Als einer der ersten wurde der Priester Gapon verwundet niedergestreckt. Aus den Reihen der Arbeiter, die darauf in wilder Panik flohen, fielen vereinzelte Revolverschüsse. Sobald der Platz vor dem WinterpalaiS gesäubert war, zoa die nach vielen tausenden zählende Menge den Newskiprospekt entlang, wo sich die Schreckensszenen wiederholten. An der Polizei brücke wurde abermals geschossen, wobei 1000 Personen ge- tötet, 300 verwundet worden sein sollen. — Auf dem Platze vor dem WinterpalaiS war es nach dem Zurück st römen der Massen bis 6 Uhr abend, von einigen kleinen An sammlungen abgesehen, ziemlich ruhig. Die Zahl der Toten anzugeben, ist schwer, doch dürste sie gegen 2000 (?) betragen. Dir Zavl dec Verwundeten wird aus etwa 4000 geschätzt. Verhaftungen wurden nicht vorgenommen. Bei der Admiralität gab das Militär im Laufe de» Tages zehn scharfe Salven ab. Stellenweise antworteten die Arbeiter durch Wersen von Handgranaten und Bomben, die sie durch Abfangen vereinzelter Militärpersonen, welche halb tot geprügelt wurden, erlangten. Ein alter General wurde durch einen Arbeiter verwundet. Gegen Abend hatte daS Volk die Hauptstraßen ziemlich verlassen. In mehreren Stadtteilen wurden regelrechte Barrikaden aus Wagen und Schlitten errichtet. Auf den Plätzen und Straßen brennen Wachtfeuer und lagern Truppen. Man glaubt vielfach, daß die Arbeiter den Versuch, in die Stadt vorzudringen, wiederholen werden. Den Stimmungsbildern des „L.-A." entnehmen wir: „Als niemand gehorchte, erfolgte die erste blinde Salve, alsdann zweischarfeSalven, wonach die Menschen wie Fliegen sielen und ringsum den hohen Schnee mit ihrem Blute rot särbten. Ungefähr fünfzig Menschen waren auf der Stelle tot, weit über hundert verwundet. Sanitätswagen, Lastwagen, Fiaker, alle», was in der Näh« sich befand, wurde iofort mit Toten und Verwundeten beladen, die Wagen eilten nach den Hospitälern, die Leichtverwundeten suchten selbst in den nächsten Apotheken Hülfe. Viele Stu denten der Medizin beteiligten sich an den Hülssarbeiten. Vor dem Dintervalai» bietet sich ein wahres Kriegsbild dar. Feuer brennen, Soldaten sitzen um sie herum; dort ertönen Signale, hier fahren wieder Krankenwagen. ES ist furchtbar; das Blut erstarrt einem in den Adern bei diesem Anblick in Friedenszeiten. Die Arbeiter selbst sind voll- ständig unbewaffnet. Sie hatten die friedlichsten Ab- sichten und wollten nur ihre Petition einreichen. Freilich ist der Zar gar nicht hier. Er ist in ZarSkoje Sselo. ES hätte genügt, wenn eine besonnene Persönlichkeit den Arbeitern da klar gemacht hätte. Sobald der Platz vor dem WinterpalaiS gesäubert war, zog die nach vielen Tausenden zählende Menge den NewSki-Prospekt entlang. Hier wiederholten sich die SchreckenSszenen. An der Polizeibrücke wurde abermals scharf geschossen. Neue Opfer fielen, auch Frauen. Die Wut deS Volkes kannte keine Grenze mehr, da eS unbe waffnet war. Es beschimpfte das Militär und riß emige Offr- ziere vom Pferde. Wie verlautet, sind zwei Offizier« durch Messerstiche getötet. In Droschken zufällig fahrende Militärs mußten schleunigst ihre Wagen verlassen; das Volk wollte sie lynchen. Es war ein echtes Revolutionsbild, daS sich jenseits der Newa in den Stadtteilen Wassili-Ostrow an der Peters burger Seite fortsetzte. Hier wurde ebenfalls scharf geschossen, und der Schnee färbte sich rot von dem Blut zahlreicher Opfer, desgleichen am Narva-Tor wie am Newski-Tor, wo große Fabriken liegen. Hier wurde sogar ein Priester schwer verwundet, der mit einem Heiligenbild und dem BildniS deS Zaren in den Händen dem Zuge voranging. Die ganze Stadt ist auf den Beinen. Die Erbitterung gegen die Gewaltmaßregeln, denen Hunderte von Unbewaff neten zum Opfer gefallen sind, ist unbeschreiblich. — Am spaten Nachmittag fanden, nach dem ^B. T-", in einzelnen Hauptstraßen, wie den NewSki, der MorSkaia und der Gorochowaja regelrechte Straßenkämpfe statt. Aus Umwegen gelangten Arbeiterströme in das Zentrum der Stadt und versuchten sich vergeblich zu einem festen Körper -usammenzu sch ließen und gegen da» Mi litär geschlossen vorzugehen. Bei der Admiralität gab das Mi litär rm Laufe deS Tage» 10 s ch a r f e S a l v e n ab, die viele Opfer forderten. Stellenweise antworteten die Arbeiter durch Werfen von Handgranaten und Bomben und durch da- Ab fangen vereinzelt fahrender Militärpersonen, die halb tot ge prügelt wurden. So sah man auf dem Newski einen stark blutenden halbtoten General, den Arbeiter über fallen hatten, von zwei Offizieren sorgsam im Schlitten nach Haus« transportiert. Mehrere allemfahrend« Einjährige wurden von Arbeitern in ihrer Wut totgeschlagen. Di« Kahl -er Gpfer lieber die Zahl der Opfer gehen die Schätzungen ziemlich weit auseinander. Nach einer Version sollen sogar 20 000 bi» 24 000 Persone» tot oder verwundet (?) sein. Die Truppen fahren so r t, auf die Ausständigen zu schießen. Ein amtlicher Bericht über die Zahl der Opfer de» gestrigen TaaeS wird erst im Laufe deS heutigen TageS veröffentlicht werden. Den Oberbefehl über die Truppen führte Großfürst Wladimir. Die erteilte Parole, niemand zu schonen und jede Zusammen, rottung zusammenzuschießen, wurde streng befolgt. Da» Volk raste förmlich beim Anblick de» Militärs. Der „Regierung-bote "meldet: Die Zahl der Ge töteten betrug bis gestern abend 8 Uhr 76 (??), die . der Bern unteten .233. Unter den ersteren ist ein Reviers aufseher, unter den letzteren der Gehülfe deS Stadtaufsehers, ein Schutzmann und ein Gendarm. Für heute sind die gleichen Schutzmaßregeln wie gestern getroffen. St«iger«ng -«» Entsetz««». Um Uhr morgens ist au» Petersburg ge- meldet worden, daß in dem Stadtteil Wissili-Ostrow Ki nach Mitternacht geschossen wurde. Nach Witter- nacht verlautete, die Ausständigen hätten sich auf Wassili- Ostrow einer Dynamitfabrik bemächtigt. ES herrscht große Besorgnis ob der Bahnverkehr aufrecht zu er halten sein wird, da alle Werkstätten streiken. Heute wollen die Arbeiter bewaffnet marschieren. Anmarsch vor Arbeiter von Aolpi«o. Um 1 Uhr früh wird depeschiert: 30 000—40 000 Arbeiter von Kolpiuo, einer 35 Kilometer von Petersburg entfernten Stadt, marschieren augenblicklich auf die Hauptstadt zu. Verfanrnilnng der jpeter»b«rg«r Redakteur«. Eine in der Nctcht abgehaltene Versammlung von Redak teuren der Petersburger Zettungen beschloß nach der Peters burger TelegraphenAgentur, an die Zensur-Hauptverwaltung folgende Anzeige zu richten: Die Redakteure der Peters burger Zeitungen bringen zur Kenntnis, daß die Existenz der periodische» Presse nur unter der gesellschaftlichen Lebens- oeoinaung möglich ist, wenn sie all« Ereignisse mitteilen kann. Infolgedessen chatten eS die Organe für unmöglich, sich nach den Zensurverboten auf diesem Gebiet zu richten. Die Kon- ferenz beschloß ferner, den Setzern vorzuschlagen, Deputationen zu den Verhandlungen mit den Arbeitern zu wählen, um die Wiederaufnahme der typographischen Arbeiten in die Weg« zu leiten. A«cht««g Gap»«» n«b feiner Gesellschaft. Amtlich wird gemeldet: Anfang des Jahre- 1904 wurden aus Ersuchen einiger Fabrikarbeiter Petersburg» die Sta tuten der Petersburger Gesellschaft der Fa brikarbeiter bestätigt. Die Gesellschaft bezweckte, zur Befriedigung der geistigen und religiösen Interessen beizu tragen und die Arbeiter von verbrecherischer Propaganda fern zu halten. Zum Vorsitzenden wählten die Arbeiter den Geistlichen des Deportationsgefängnisses Georgi Gapon. Nach und nach begann di« Gesellschaft die Beziehungen der Arbeiter zu den Arbeitgebern zu beraten und im Dezember 1904 veranlaßte sie die Arbeiter zur Einmischung in die Frage der Entlassung von vier Arbeitern der Pulitow-Werke, von denen einige, wie erwiesen ist, nicht einmal entlassen sind, sondern freiwillig die Arbeit aufgegeben haben. Trotzdem haben die Arbeiter am 15. Januar die Arbeit eingestellt, auf gereizt durch Gapon und Mitglieder der Gesellschaft. Da- bei haben sie die Abänderung der Arbeitsordnung und die Entlassung von Arbeitern gefordert. DaS Schreiben, da» Gapon an den Kaiser ge richtet hat, lautet: Herrscher, glaube nicht, daß Dir die Minister die volle Wahrheit über die Lage gesagt haben. DaS ganze Volk vertraut Dir und beschloß, morgen nach mittag 2 Ubr vor dem WinterpalaiS zu erscheinen, um Dir seine Not barzulegen. Wenn Du, wankelmütig, nicht vor dem Volke erscheinst, dann zerreißt Du das moralische Band zwischen Dir und dem Volk. Das Vertrauen jm Dir wird schwinden, da unschuldige- Blut zwischen Dir und dem Volke fließen wird. Erscheine morgen vor Deinem Volke, em- pfange unsere EraebenheitSadresfe mutigen Geistes! Ich, der Vertreter der Arbeiter, und meine tapferen ArbeitSgenoffen, garantieren die Unverletzlichkeit Deiner Perlon. Paris«» Verichte. Nach einer Pariser Meldung auS Petersburg blieben allein von der Putilow-Fabrik 60 Arbeiter tot und verwundet auf dem Platze. Auf den Barrikaden hatten Frauen mit Petroleumbehältern, Männer mit alten Säbeln und Hämmern Aufstellung genommen. Bei der Narwapforte wurde einIapaner, der das Bild deS Zaren trug, verwundet. Der Priester Sergius wurde getötet. Bei der Putilow-Fabrik wurde vom Dach aus auf die Manifestanten, die sich zu Boden warfen, geschossen. Eine Abteilung Ausständiger soll versucht haben, Zarskohe Sselo zu erreichen, wurde jedoch von den Truppen hieran gehindert. Es erfolgte ein blutiger Zusammenstoß, bei welchem zahlreiche Ar- beiter getötet und verwundet wurden. Der „Eclair mel det, zahlreiche Arbeiter in Petersburg seien vondenTruP- pen beschossen worden, als sie versuchten, die Newa zu erreichen. Die Streikenden benutzten vor überfahrende Schlitten und Wagen, um Bar rikaden auf Wassilij Ostrow zu errichten. Wie verlautet, sind 21 Kinder, tue im Alexispark spielten, durch Schüsse getötet worden. Die Erregung gegen die Offiziere, und namentlich den Krieg, macht sich auf dem Newskij Prospekt immer mehr bemerkbar. Zahl reiche Rufe gegen d,e Offiziere und den Krieg wer- den laut. Vielfach werden Polizeiagenten auf offener Straße angegriffen und verwundet. Ein junger Gardeoffizier wurde durch eine elegante Dame an gegriffen und verwundet, ein anderer au» einem Wagen herauSgezogen und schwer mißhandelt. Die Korrespondenten sämtlicher Pariser Blätter mel den übereinstimmend, daß die jetzige Bewegung da» An zeichen einer revolutionären Erhebung ist. Die Truppen und die Polizei hätten ein Blutbad angerich tet, indem sie ohne jeve Herausforderung auf friedliche Arbeiter schoflen. Einige Korrespondenten wurden von Offizieren mit dem Tode bedroht. Die Depeschen über den blutigen Verlauf des gestrigen Tages machten in Pari- tiefen Eindruck. Welche Stun- mung herrscht, geht daraus hervor, daß sogar da» natio nalistische Abendblatt „La Presse" schreibt, der Zar werde seine Krone nur retten, wenn er sich von dem Einfluß gewisser Prinzen befreie, deren Ver- anügungen durch «inen politischen Umschwung gestört werden könnten. Blutige Metzeleien sind der Triumph der unheilvollen Ratgeber des Zaren. Londoner Verichte. Die „Time-" verzeichnen da» Gerücht, der Zar werde mit seiner Familie wahrscheinlich nach Livadia ab reisen, um dort die Ereignisse abzuwarten. An amtlicher Stelle in London glaubt man nicht, die von den Blättern geäußerte Ansicht teilen zu können, daß es in Rußland zu einer allgemeinen Revolution kommen werde. Angesichts der Tatsache, daß das Volk nicht bewaffnet se,, könnten die Truppen die Revolution im Keime ersticken. Feuilleton. Am jeden Preis. 2Sj Roman von Sergei D . . . . Nachdruck vrrboken. Den Mittel- und Glanzpunkt des französischen Bot schaftspalastes in Petersburg bildete ein glasüberdeckter Wintergarten — die sogenannte Orangerie. Der Garten ist sehr geräumig, mit netten Promenaden und einer Anzahl lauschiger, abgesonderter Lauben. Kein grelle elektrisches Licht blendet die Augen, sondern über dem Ganzen liegt ein mattes, schummeriges Rosa, geheimnis voll und wohltuend. Einige Paare wandelten, sich Kühlung zufächelnd, in den Gängen; andere hatten sich in die Lauben zu- rückgezogen. „Ivan Jliowitsch — was ist denn heute mit Ihnen?" sagte eben eine reizende junge Dame, die in ihrer Promenade plötzlich innegehalten hatte, und versetzte ihrem Begleiter, einem jungen, hochaufgeschossenen Offi zier, mit ihrem Fächer einen leichten Schlag auf den Arm. „Wissen Sic auch, mein Lieber, daß Sie direkt ungalant sind? Jetzt habe ich dreimal hintereinander dieselbe Frage an Sie gestellt und — wissen Sie, wa» ich glaube —? Ich glaube, Sie haben mich gar nicht einmal gehört!" „Aber — gnädige» Fräulein —" protestierte der Offizier. „So?! Na, dann sagen Sie mir doch, bitte — wa» habe ich Sie gefragt!?" Der Offizier wurde sichtlich verlegen. „Aber — wirklich —" stotterte er. „Da haben wir'»!" Sie entzog ihm ihren Arm. „Sie — sind — ein — ein — Bär!" lachte sie ärgerlich. „Daß Sie mir in den nächsten vierundzwanzig Stunden nicht zu nahe kommen!" Sprach'S, lieh ihren Begleiter ohne weiteres stehen und wandte sich dem Saal zu. Der Offizier blickte ihr einen Moment nach. «Danke, mein Kind! Einen größeren Gefallen hättest du mir gar nicht erweisen können." Im nächsten Moment hatte er sie vergessen. „Ich sah sie hier hineingehen!" murmelte er. „Wo steckt sie nur?" Er schritt langsam weiter und musterte unauffällig die Lauben. Im ganzen gab eS deren zwölf, sechs zu jeder Seite der Mittelpromenade. Allein, wie in tiefes Sinnen versunken, spazierte der Offizier auf und nieder. Paare kamen und gingen, einige sahen ihn erstaunt an, andere grüßten ihn, er schien nichts zu bemerken. Doch nach Verlauf einer halben Stunde lieh er sich plötzlich auf einem Sessel vi« tz vis der letzten Lauben nieder. „Dort muh sie drinnen sein!" flüsterte er halblaut. „Alle anderen haben jetzt ihre Gäste gewechselt!" Auf einem Sessel, nicht allzuweit von dem entfernt, den Ivan Jliowitsch soeben eingenommen, saß ein anderer Mann, der daS Gebühren seines Nachbars längst bemerkt hatte und nun Mann und Laube unauffällig, aber fest im Auge behielt. Dieser andere war — Jack Napier. In der Laube aber saß — Ivan Jliowitsch hatte richtig kalkuliert — Camille Gräfin Della Torre, und ihr vi«-L-vi« Boris Suwarow. Sie sprach auf ihn ein, und er erwiderte auch, aber wie im Traum. Die Blicke seiner Tugen hingen an ihrer Gestalt und konnten sich nicht losreißen. In dem roten Dämmerlicht glänzte ihr Busen noch weißer, blickten ihre Augen noch verheißungsvoller. ES ging ein Aroma von ihr au», das ihn zu betäuben schien, und die Berührung ihrer Hand ging wie ein elektrischer Schlag durch seinen Körper. Und so kam e», daß er mitten in einem Satz abbrach, um begeistert auSzurufen: „Vor vierhundert Jahren hätten sie dich verbrannt, Tamille! Du bist eine Hexe!! So wie heute habe ich dich noch nicht gesehen!" Dann senkte er traurig den Kopf. „Und wir hatten so glücklich sein können!" „Hätten — Boris!!?" Sie sah ihn mit einem Blick an, daß ihm da» Blut in den Adern in Wallung geriet. Ein Blick, der alle» versprach, wo» er so lange erfleht, erwünscht, erhofft hatte. Doch er blieb fest. Seine Züge ver-enten sich fast, so strengte er sich an, die Worte hervorzubringen, aber — er brachte sie hervor. „Ja, Camille — hätten! — Ich werde meine Pflicht nicht vergessen!" Die Gräfin lachte leicht auf und drehte nervö» an ihrem herrlichen Rubinring. „Pfui!!" rief sie dann plötzlich — ohne aber den Flüsterton zu übersteigen, „warum sitze ich hier noch mit dir! Du liebst mich!? — Du?? — Und glaubst Anderen?! Ich bin frob, dich erkannt zu haben! Tu, was du nicht lassen kannst!" Sie erhob sich und wandte sich dem Ausgang zu. Boris packte krampfhaft den Tisch mit beiden Händen und hielt sich gewaltsam daran fest, um nicht auch auf zustehen. Die Gräfin drehte sich noch einnial zu ihm herum. „Und das ist also da» Ende — Boris I Und ich habe dich doch so geliebt!I" sagte sie, und eine unendliche, herzbrechende Traurigkeit klang au» ihrer Stimme. Der Mann wurde bleich wie der Schnee, der auf der Straße lag. Sie sah cs, beugte sich herab zu ihm und drückte einen Kuß auf seine Stirn. „Adieu denn —", sie unterbrach sich, „noch ein Gla» Dein zum Abschied, Bori»!" Suwarow nickte stumm. Dicke Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn. Er füllte die Kelche. Doch al» er den Stil feine» Glase» erfaßt hatte, um e» empor zu heben, da legte Tamille plötzlich ihr« recht» Hand darüber, und
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)
- Doppelseitenansicht
- Vorschaubilder
Erste Seite
10 Seiten zurück
Vorherige Seite