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Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 01.04.1904
- Erscheinungsdatum
- 1904-04-01
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-190404019
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-19040401
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-19040401
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Bemerkung
- Images teilweise schlecht lesbar
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1904
- Monat1904-04
- Tag1904-04-01
- Monat1904-04
- Jahr1904
- Titel
- Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 01.04.1904
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Reklame» nntm dem RedaMonüslrich («gespalten) 7b -H, nach den FamUtennach- richten («gespalten) bo Tabellarischer und Zisfrrnsatz entsprechen) höher. — Gebühre« für Nachweisungen uni Osserteuannahm« 2Ü -T. »strtt-vetta-e« (gesalzt), »nr mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbefürdernng SO.—, mit Postbeförderung 70.—. A»n«tz»eschlutz fiir A«ztt«e«: Abend-Ausgab«: vormittag« 10 Uhr. Morgen-Au«gabe: nachmittag« 4 Uhr. Anzeigen sind stet« an die Expedition zu richten. Die Expedition ist Wochentag« ununterbrochen geöffnet von früh 8 bi« abend« 7 Uhr. Druck und Berlag von G. Pal- tu Leipzig (Inh. vr. B„R. L w. Klinkhardt). Nr. 187. Freitag den 1. April 1904. 98. Jahrgang. Var lllichtlgrte vom tage. * Au« Messina wird gemeldet: Der Kaiser verblieb am Donnerstag, weil ein schwere« Gewitter niederging, an Bord der „Hohenzollern". * Auf dem Bismarck-Archipel sind Unruhen auS- gebrochen, wobei auch Mordtaten verübt worden sind. ES werden mehrere Strafexpeditionen vorbereitet. * Die Hamburg-Amerika-Linie vercharterte, wie die „Hamburger Nachrichten" melden, die Dampfer „Nicodemia", „Aratia", „Aragonia" und „Numantia" an die kortianä »nd L»j«chic 8ts«wsliip Ooinpnn^. DieDampfer werden in den Dienst zwischen Cbina,Japan,Portland (Hongkong-Portland) eingestellt werden. Da die Dampfer unter der Reedereiflagge der Hamburg-Amerika-Linie fahren werden, ist somit der Kreij des Dienstes der Hamburg-Amerika-Linie um den Erdball geschlossen. * In dem Kirchdorfe Possessern im Regierungsbezirk Gumbinnen machte eine Feuersbrunst über 100 Personen obdachlos. * Der Papst setzte eine Kardinalskommission zur Kodi fizierung deS kanonischen Rechts ein. * Die Vertreter der 8»nquv ä« karis «t cis« kapstm» trafen in Tanger ein, um mit der marokkanischen Regierung eine Anleihe abzuschließen. * Die „Frankfurter Zeitung" meldet aus Konstanti nopel, drei türkische Bataillone seien an der Küste dc- Roten Meeres gelandet worden, weil Beduinen die vier Hauptpilgerstraßen sperrten und gegen viertausend Pilger niedermachten, die den Durchgangstribut nicht zu entrichten vermochten. Lu vknmckrr grbmtttag. DaS deutsche Volk feiert diesmal das Gedächtnis des nationalen Helden am Karfreitag; und Karfreitags- stimmung lagert über dem evangelischen und auch dem nationalgesinnten katholischen'Volke Deutschlands. Graf Bülow hat mit einer gefälligen Mehrheit des Bundesrats trotz dem Einspruch gewichtiger Stimmen Bresche in die Maner gelegt, die Fürst Bismarck einst unter kraftvoller Unterstützung der katholischen Regierung Bayerns zum Schutze des konfessionellen Friedens aufgerichtet hatte, jahrelang hatte der BundeSrat jedem Anträge des Reichstages auf Beseitigung des Jesuitengesetzes oder doch des 8 2 ein kategorisches Nein entgegengesetzt, und mit Dankbarkeit hatte ihm das evangelische Deutschland dafür gelohnt. Man hatte sich mit der Hoffnung ge tröstet, daß es immer so bleiben werde, zumal da man wußte, daß selbst der katholische König von Sachsen in der Wiederkehr der Jesuiten eine Gefahr für das friedliche Nebeneinanderbestehen der beiden konfessionellen Haupt- richtnngen erkannte. Nun ist es doch anders gekommen, in Jahresfrist ist es dem gewandten Geschäftsmann, der als Kanzler im Deutschen Reiche waltet, gelungen, den Widerspruch einiger dissentierenden Staaten zum Schwei gen zu bringen und sich dadurch eine Majorität zu schaffen, wie er sie brauchte, um dem Zentrum gefällig zu sein. Wir wollen hier die vielerörterte und verschieden beantwortete Frage nach der Legalität und Rechtsbestän digkeit des vom Kaiser bestätigten Beschlusses nicht von neuem aufwerfen; aber die Frage bleibt bestehen: warum war es nötig, die widerstrebenden Regierungen in einer so wichtigen, ein Lebendprinzip des deutschen Volkes berührenden Frage zu majorisieren und sie da durch in die Notwendigkeit zu versetzen, öffentlich vor allem Volke zu erklären, daß sie sich wider ihre bessere Ucberzeugung dem Zwange hätten fügen müssen? Warum mußte das evangelische Volk, nachdem es durch die be rufensten Männer mündlich und schriftlich sich gegen jede Verstümmelung des Jesuitengesetzes erklärt hatte, in seinem heiligsten Gefühle beleidigt werden? Graf Bülow leugnet, daß er dem Zentrum habe gefällig sein wollen, und das Zentrum stellt sich, soweit es in seinen poli tisch geleiteten Organen zu Worte kommt, als sei ihm an der Beseitigung des 8 2 nur darum gelegen gewesen, weil er die „lieben friedlichen Brüder von der Gesellschaft Jesu" unter ein Ausnahmegesetz voll grausamer Härte gestellt habe. Auf beiden Seiten wagt man nicht, mit der vollen Wahrheit herauszukommen. Die Flucht hinter den Mantel der Konstitutionalität, die Graf Bülow in seiner Rechtfertigungsrede angetrctcn hat, steht einem Nachfolger Bismarcks nicht wohl an; der Bundesrat des Deutschen Reiches soll etwas vom Areopag des alten Solonischen Staates an sich haben: in der Erscheinungen Flucht, denen stich dar Reichstag nstt seinen wechselnden Mehrheiten vergleichen läßt, soll er der ruhende Pol sein; man könnte ihn auch das Gewissen der Nation nennen. Wir kämen auf eine schiefe Bahn, wenn die Grundsätze deS englischen Konstitutionalismus bei uns amtlich anerkannt würdest; eine weitere große Errungen schaft der Bismarckschen Zeit wäre damit preisgegeben: die besonnene staatsmännische Oberleitung, die nicht nach Len zufälligen Mehrheiten deS Reichstages ihre Ent schließungen faßt, sondern auf Grund fürsorglicher Er wägung dessen, was dem wahren Nutzen des deutschen Volkes dient. Wir können nur annehmeu, daß Graf Bulow aus der Not eine Tugend machte, als er sich so beredt zum Konstitutionalismus bekannte; Wirklagen ihn an, daß er in der Frage der Aufhebung des 8 2 des Jesuitengesetzes den wahren Nutzen des deutschen Volkes nicht vor Augen hatte, sondern uni kleiner Vorteile willen, die er vom Zentrum in den Fragen der Finanz reform unl> der Flottenvermehrung erhofft, wichtige Interessen des deutschen Volkes verletzt hat. Es wird ihm nicht gelingen, den 8 2 als eine absolut harmlose Be stimmung dem deutschen Volke davzustellen; es müßte ihm zuvor gelingen, es davon zu überzeugen, daß Fürst Bismarck etwas Ueberflllssiges in das Gesetz gebracht habe, und daran glaubt kein Mensch, glauben auch Bis marcks Feinde nicht. Gewiß: 8 1 bleibt erhalten: Nieder- lassungen in Deutschland zu errichten, ist dem Orden der Gesellschaft Jesu und den ihm verwandten Orden und ordenSühnlichen Kongregationen untersagt. Graf Bülow hat's gesagt — aber er gestatte, daß wir ihm antworten: „Die Botschaft hör' ick wohl, allein nur fehlt der Glaube." Denn tatsächlich ist 8 1 schon durchbrochen durch die Wiederzulassung der Redemptoristen in Bayern und jetzt der Marianischen Kongregationen, die nichts anderes als Pflegschaften des Jesuitenordens an den Preußischen Gymnasien sind und sein wollen. Denn wenn auch der preußische .Kultusminister behauptet hat, daß die Maria- nischeu Kongregationen nichts mit dem Jesuitenorden zu iuu hätten, so sind doch die Jesuiten selbst anderer Meinung: in den Stimmen aus Maria - Laach hat ein Jestiit schon vor Iah» en offen dargelegt, welchen wichtigen Einschlag im Gewebe deS Jesuitenordens die Maria- nischcu Gebctsvereine bilden. Für Bismarck — das steht fest — hat 8 2 als notwendige Ergänzung des 8 1 ge golten: er gab dem Staate die Möglichkeit, das Gesetz auch wirksam durchzuführen. Die Art der Jesuiten war es immer, auf heimlichen Wegen zu gehen; sie lieben nickt den offenen, ehrlichen Kampf, bei dem es ihnen selbst an den Kragen gehen könnte, aber in der Kst "i, tke große Masse zu sanatisieren, gegen sie Anders- gll., ngen zu verhetzen und mit den unlautersten Mitteln die Erreichung ihrer Zwecke vorznbereiten, sind sic von jeher Meister gewesen. Graf Bülow hat aus der Ge schichte nichts gelernt, er hat auch aus Bismarcks Reden nichts gelernt — und doch sollte jedem deutschen Staats- manne, der zur Nachfolgerschaft Bismarcks berufen wird, das Studium der Bismarckschen Staatsrcdcn eine Ehren pflicht sein. Sie bieten der politischen Weisheit so viel, daß von ihrem Reichtum die deutschen Staatsmänner noch lange Jahre zehren können. Wir sind es Bismarcks Gedächtnis an seinem Geburtstage schuldig, daß wir uns vergegenwärtigen, wie er über die Jesuiten dachte, und warum er für ihre Ausschließung vom Boden des Reiches cintrat. Zu der Zeit, da nicht ohne Zutun der Jesuiten zwischen Frankreich und Deutschland sich der Krieg entspann, von dessen Ausgang die römischen Drahtzieher die Demütigung Preußens und des Protestantismus er warteten, brachte der JesuitiSmus ein Werk fertig, an dem er seit dem Tridentiner Konzil gearbeitet hatte: die Verkündigung der Unfehlbarkeit des Papstes als eines unumstößlichen Glaubenssatzes der römischen Kirche. Da mit begann die Ueberleitung des Katholizismus in den VatikaniSmus, und heutzutage gestatten schon die Röm linge nach Art des Frhrn. v. Berlichingen gar nicht mehr die Unterscheidung zwischen Katholiken und Ultramou tauen, weil ein Katholik, der nicht ultramontan sein wolle, nicht mehr katholisch sei. Der VatikanismuS aber stellt fick in schroffen Gegensatz zum modernen Staat. Lurch das sog. Vatikanum von 1870 ist der Papst der oberste Herr in der Kirche geworden, dem jeder — er sei Bischof, Priester oder Laie — zu blindem unverbrüchlichen Ge horsam verbunden ist. Dieser Gehorsam bindet Willen und Intellekt. Es ist dem Katholiken untersagt, auch nur anders zu denken als der Papst, und sich mit ihm in Widerspruch zu setzen, wenn er kraft seines unfehlbaren Lehramts gesprochen hat, ist einer Todsünde gleich zu achten. Die Katholiken, die innerhalb eines protestan tischen Staates wohnen, haben in dem Papste einen geist lichen Oberherrn, dessen Rechte in der Theorie unbe schränkt sind und den Rechten des weltlichen Staates vor- angchen, wo Geistliches und Weltliches miteinander in Konflikt geraten. Der unfehlbare Papst nimmt für sich daS Recht in Anspruch, die katholischen Untertanen pro testantischer Fürsten von ihrer Gehorsamspflicht zu lösen und staatliche Gesetze und Anordnungen für null und nichtig zu erklären, und als letztes Ziel muß er nach dem durch Syllabus und andere päpstliche Dekrete festgesetzten Programm die,-Rückführung der- Andersgläubigen tri die römische Kirche oder ihre Ausrottung durch Feuer und Schwert erstreben. Da« mittelalterliche Papstideas ist durch das Vatikanum Wahrheit geworden, das Papsttum aber zum Todfeind ded modernen Staates, namentlich des protestantischen Staates mit seinen konstitutionellen Einrichtungen. Rom findet eS jetzt nicht an der Zeit, die rauhe Seite herauszukehren; mit den fußen Flötentönen der Schmeichelei und der Bewunderung weiß es die Her zen derer zu betören, die an der Spitze der Nation stehen, und mit lockender Stimme verheißt eS die Mitwirkung des von ihin beherrschten katholischen Volkes bei der Lösung der großen Aufgaben, die der Zukunft Deutsch- lands gestellt sind. Glaubt man wirklich in Berlin an die Loyalität eines jesuitisch erzogenen Priesters, an den Feuilleton. Die bei-en Mütter. Sine KarfreitagSerzahlung. Bon Henry de Ferge. Aatoristerte Übersetzung von Anna Wille. I. Nachdruck verboten. Nachdem Christus am Kreuze, an das ihn die Un gerechtigkeit der Menschen geschlagen, seinen letzten Atem zug auSgehaucht hatte, nachdem der letzte Donner über Golgatha verhallt war und der Heiland sein Erlösungs- werk vollbracht hatte, begab sich Maria, die schmerzens reiche Mutter, langsam und tiefgebeugt, den Kalvarien berg hinunter. Die Natur strahlte in der ganzen Pracht des jungen Frühlings und hin und wieder guckte auch schon die Sonne tmrch die Wolken, um jedoch bald wieder jenseits der Berge in rosigem Leuchten zu ersterben. Gebeugten Hauptes, ohne einen Blick für^iese wun derbare Schönheit der Natur, schritt Maria vorwärts, von Johannes, dem Lieblingsapostel Jesu, geführt. ' Sie begaben sich nach Jerusalem, der Stadt der Prophezeiungen, über die Christus mit tränenden Augen sein Wehe hatte sprechen müssen. Vckst dort wollten sie reines Linnen für den Leichnam ihres vielgeliebten Toten holen. Der Weg war lang und beschwerlich. Dazu kam noch bei jedem Schritt die Erinnerung an den Leidensgang des teuren Verstorbenen. Vor ihrem geistigen Auge schwebte noch immer seine hohe Gestalt, gebeugt unter der Last des schweren Kreuzes. Und durch d,e vielen Tränest, die Maria um seinetwillen vergossen, ganz erschöpft, schleppte sie sich jetzt den Berg hinab. Schweigend, in tiefer Ehrfurcht vor diesen« unermeß lichen Leid, welches ihm als daS größte d»r ganzen Welt erschien, leitete der Apostel ihren Gang. Auch ihm blutete das Herz aus tausend Wunden über den Tod seines geliebten Meisters. Aber er suchte und fand Trpst, indem er sich dessen heilige Lehren in sein G<- däiÄniL zurückrief. Er glaubte auch an die Worte der Propheten, er ahttte^ daß das Märtyrertum notnvndig gewesen war, um die Welt von ihren Sünden zu erlösen, und geheimnisvolle Worte des MeisterD tönten in seiner Seele und erfüllten sie mit atmungsvollen Schauern,' w«nn er der nächsten Tage gedachte. Dach sie, die ihn der Welt gegeben, hatte nur d«n einer« Gedanken: daß ihr Sohn gestorben »vac! Ihr Sohn, ihr lieLevtstleS, gutes Kind, das sie groß gezogen und das da» gem-e Glück ihrs» Leben» autzgemacht hatte. Was waren ihr in diesem Auacnblick die Prophe zeiungen, die sich an seine Person knüpften? Was die lebenoige Sprache der Natur, die seinen Tod begl-ttet? Sie war jetzt nur die unglückliche Mutter, welcher der Sohn durch Henkershand entrissen worden und di« seinen Tod mit bitteren Schmerzen, aus tiefster Seslenqual be weinte, ohne sich durch den Gedanken an dessen heilige Mission aufrichten zu lassen. Zahlreiche Passanten begegneten den beiden Trauern den. Aber ihr Spott war verstummt, und mancher mit fühlende Blick traf die Schmerzbeladene. Maria achtete ihrer nicht. Wie im Traum, fast be wußtlos, schritt sic einher. Ihr Leid war zu groß; es ging über ihre Kräfte, und in ihren seelenvollen Augen spiegelte sich zum ersten Male in ihrem Dasein tiefster Kleinmut. Der Apostel, ihre vollständige Erschöpfung bemerkend, leitete sie sorgsam abseits von dem Gedränge, indem er sie zu einer kurzen Rost ermahnte. Sie neigte ihr Haupt gegen die Schulter dessen, der nun durch teures Bermächt- nis ihr den Sohn ersetzen sollte, und seine braunen Locken berührten sanft daS todesmüde Antlitz der Dulderin. Und nun führte ihr Weg sie hinein in die volle Früh lingspracht, vorbei an Hecken von weißem Hagedorn und über einen blnmenbksäten Rasenteppich, die jetzt, bei der hereinbrechenden Abenddämmerung, die Luft' mit wunder- barem Duft erfüllten. Aber diese beidkn in Schmerz ver- sunkenen Wesen wandelten in der lachenden Poesie des Frühlings, ohne eine Empfindung davon zu haben Unbewußt lenkten sie ihre Schritte nach dem Oelberg, jener Stätte, die er geliebt, wo er so gern geweilt, wo jein Ltztden begonnen, wo er im Gebete gerungen hatte. Kein Wunder, daß alle» dort für sie erfüllt war von Erinnerungen an ibn: die Bäume, Vie Sträucher, die Blumen, ja das kleinste Hälmchen, hatten etwas von seiner heiligen Person in sich ausgenommen. Von dem Berge konnte man ganz Jerusalem über blicken mit den wsißen Häusern, den Zinnen de« Tempel», die Stadt, welche nun, nach den schrecklichen Ereignissen des Tages, in tiefem Schlaf zu ruhen schien. Schweigend, ist Grübeleien versunken, betrachtete Maria die stumme Stadt, Menschenleer war der Kalvarienberg, ein Ort des Friedend und der Ruhe, der nicht verfehlte, auch di, hoch gehenden Wogen in dem Herzen der Schwergeprüften zu besänftigen. Zwar blutete ihr Herz nqch aus der Wunde, die fick auch wohl niemals schloß, aber es bäumte sich nicht mehr wild auf gegen Gottes Willen: eine inner» Aimme i sprach zu ihr, zweifetto» die Stimme des göttlichen Hin- ! gerichtnen. Der Apostel betete. Er betete für diese schwergeprüfte Mutter, welche er liebte, als hätte sie ihm selber das Leben gegeben. „Weib", sagte er, „du bist reich gesegnet unter allen Frauen, weil dein Leid das größte der Erde ist." * Der Geist des Friedens, der diesen Ort umweht, hatte auch in Marias Herzen Eingang gefunden, und an Seele und Leib gestärkt wanderten sie weiter nach Jerusalem. Doch alsbald hemmten sie lauschend ihre Schritte. War es doch, als ob ein unterdrücktes Schluchzen die Stille ded Abends unterbräche. Befremdet blickten sie einander an. War denn außer ihnen noch ein anderes lcidvolles Menschenherz auf dem Oelberge? Nachdem sie einige Schritte weiter gegangen, ver nahmen sie das Geräusch lauter, vernehmlicher: es war eine Frauenstimme, welche laut weinte und jammerte. Maria blieb stehen. Eine andere als sie, eine andere litt ebenfalls! DaS genügte, um ihr Mitleid zu erregen. Suchend blickte sie um sich und entdeckte, in einem Graben ausgestreckk, eine Frau mit grauem Haar und tränenüberströmtem Äntlih, die in ihrem konvulsivischen Schluchzen dis Annäherung der Fremden nicht zu be merken schien. „Was fehlt Euch, armes Weib?" erkundigte sich Maria teilnehmend. „Mein Sohn ist soeben gestorben", entrang es sich qualvoll den zitternden Lippen, und hohle, verstörte Augen hoben fick verzweifelt zur Gottesmutter empor. Ein Schauer durchschüttelte Maria. Der Schmerz des in dem Landgraben liegenden Weibes zerrte von neuem auch an ihrer frisch blutenden Wunde. * Mit innigster Teilnahme, init Augen voll tiefsten Er barmens betrachtete sie die Unglückliche. Und als das Weib, erstaunt über diesen so überirdisch milden Blick, fragend zu ihr emporschaute, entgegnete eine sanfte und dom schmerzbebende Stimme: „Ich bin auch Mutter, und mein Sohn bat eben am Kreuz seinen letzten Seufzer ausgehaucht." Bei dem Worte Kreuz" fuhr die Unbekannte zu sammen und richtete sich boch aus. Ihr Antlitz war toten blaß und ein entsetzter Blick lag in ihren Augen. Dann stammelte sie: „Mein Sohn ist auch als Ehrloser gestorben. Ich Hobe ihn an einem Baume erhängt gesunden." Maria stand wie versteinert. War es nur klick möglich? DaS Leid des armen Weibes glich ja dem ihre»« in allen Punkten I Also hatte Johannes doch Unrecht gehabt, alS er vorhin bemerkte, daß ihr Leid ohnegleichen aus dem ganzen Erbenrund wäre! Es war eine seltsame Begegnung zweier Unglücklichen, die sich als Schwestern des Elends und der Tränen zu ein- ander htngezogen fühlten! Jede voi« ihnen hatte in dem, der nur« nicht mehr aus Erden weilte, das einzige Kind verloren, das der Mutter, obwohl es zum Manne gereift, doch ihres Herzens Lieb ling geblieben war. Und beiden Müttern war der heiß geliebte Sohn durch einen unnatürlichen Tod geraubt. Die eine hatte das entsetzliche Schreckbild des Ge- kreiizigten, die andere das des Selbstmörders vor Augen! Trotz ihres eigenen unermeßlichen Wehs empfand Maria doch noch innigstes Mitgefühl für ihre Leidens genossin, welcher niemand beistand, welcher weder den Trost des Glaubsnd noch Mut besaß, und die in diesem verödeten Garten allein und einsam ihren Schmerz aus tobte. „Wie heißt denn Euer «ohn?" fragte sic sanft. „Saget mir seinen Namen, damit ich ihn in meine Gebete einschließen und Gott anflehen kann, ihm zu vergeben." Das Weib richtete sich hoch auf, bis über den Rand des Grabens, und mit stieren Augen und verzerrtem Munde, wie in der Erinnerung an eine entsetzenerregende Vision, stammelte sie: „Judas." III. In jähem Entsetzen fuhr die Mutter des Heilandes zusammen. Auf ihrer Stirn grub sich eine tiefe Falte und für einen Moment stand sie wie eine Richterin da. Aber schon im nächsten Augenblick streckte sie der Ver zweifelten beide Hande hin. „Stützet Euch auf mich, arme« Weib. Kehrt, wie ich, an den vereinsamten Herd zurück. Dort werde Ihr besser Euer Leid beweinen können." Die Nacht war gekommen, eine Nacht, so balsanmck und weich, durchweht von köstlichen Frühlingsdiirften. Sette an Seite lenkten die beiden Frauen ihre Schritte nach dein in tiefem Scklafe ruhenden Jerusalem. Ueher- all feierliche Stille! Kein Leid als in der Ferne da? Heulen von umherirrenden .Hunden, sowie daS Gekrächze der Raben über Golgatha. In tiefer Ehrfurcht vor Viesen beiden vom Leid so schwer »reprüsten Frauen, die ein schauerliches Geschick hier zusammonqeführt, blieb der Apostel zurück, uni zu beten. Aber noch lange schaute er den sich langsam Entfernen den, von« bleichen Mondedlicht Umfluteten nack und beob achtete mit tiefer Rührung, wie die Mutter ded .Heilands ditz Mutter von Juda» hittfreick fübrte.
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