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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 11.05.1904
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1904-05-11
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19040511029
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1904051102
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1904051102
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1904
- Monat1904-05
- Tag1904-05-11
- Monat1904-05
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Anzeigen-Preis die 6gespaltene Petitzeile 25 Reklamen unter dem Rrdaktionsstrtch («gespalten) 7b nach den Familirnnach- richten (6 gespalten) KO Tabellarischer und Ziffernsatz entsprechend höher. — Gebühren für Nachweisungen und Offertenaunahme 2ü Ertra-Vetlagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Allsgabr, ohne Poftbrfördrruag 60.—, mit Postbesörderung 70.—. Am,«tzmefchlutz ,»r Anzet«en: Abend-Ausgabe: vormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: nachmittags 4 Uhr. Anzeigen sind stet» au die Expedition zu richte». Dir Expedition ist wochentags ununterbrochea geöffnet von früh 8 bis abend» 7 Uhr. Druck und Verlag von E. Potz tu Leipzig (Inh. vr. «., R. L W. Kltukhardt). Mittwoch den 11. Mai 1904. 98. Jahrgang. Var lssicdtigtte vom Lage. * An der Frau Prinzessin Johann Georg von Sachsen ist heute in Dresden eine schwere Operation glücklich vollzogen worden. * InGera sind die M a u r e r in den S t r e i k ge- treten und haben zum Teil die Stadt verlassen. * Das sozialistische Parteischieds- g ericht hat die auf Bebels Betreiben des Verrats von Parteigrundsätzen angeklagten Abgeordneten Heine und Bernhard einstimmig freigesprochen. Die Anklage gegen Göhre wurde zurückgezogen. * Der flüchtige Exmini st erNasi soll nach einer Meldung an der Schweizer Grenze verhaftet sein, nach einer anderen sich inBrüssel versteckt halten. ver Rurgang <ler Leipziger Rerrtekampker In ideeller «nd materieller Hinsicht. Es werden jetzt Versuche gemacht, den Ausgang des Leipziger AerztekampfeS so hinzustellen, als seien den Aerzten sämtliche Forderungen bewilligt und vor Allem, als bringe ihr Sieg ihnen gewaltige materielle Vorteile. Diese Seite ist aber wohl die dunkelste von der ganzen Angelegenheit. Gewiß — die Aerzte haben gesiegt, wenn man so will. Sie haben da« gräßliche Distriktsarztsystem auS der Leipziger Welt geschafft und damit die Freiheit ihre- Standes gerettet und seiner sonst unvermeidlichen Degradierung vorge- beugt. Sie haben die freie Arztwahl für Leipzig durchgesetzt, zwar nicht im Prinzip, aber doch für die nächste absehbare Zeit tatsächlich, denn die Höchstzahl von 37L Aerzten, deren Zulassung der Kaffe aufgegeben worden ist, wird vorläufig nicht einmal erreicht werden, bedeutet also die freie Arztwahl. Gewiß — die Aerzte haben gesiegt. Sie haben ihren Stand gerettet, sie haben für die Kollegen im ganzen Reiche gefochten und diesen allerdings den schwersten Teil der Arbeit abgenommen und sie zu größerem Danke ver pflichtet, al« vielleicht geahnt und anerkannt wird. Aber was haben sie materielles für sich erreicht? Zunächst ist zu bemerken, daß sich bis auf weiteres die materielle Lage der Aerzte überhaupt nicht gebessert hat. Es ist nämlich, wie bekannt, die ärztliche Familieubehandlung durch Beschluß der Generalversammlung der Ortskrankenkasse auf gehoben worden. Wenn nun auch daS Pauschale auf 5 für jedes Mitglied festgesetzt worden ist, so ergibt sich vorläufig bei 140 000 Mitgliedern immerhin nur eine Pauschalsumme von 700 000 in die sich — abgesehen von den Vergütungen für besondere Leistungen — sämtliche Aerzte zu teilen haben. Dieser Betrag übersteigt nicht viel diejenige Summe, die den Aerzten jetzt schon zur Verfügung stand. Unter diesen Umständen muß es al- ein weitgehendes Entgegenkommen bezeichnet werden^ wenn die Aerzte ihre Einwilligung zur Einrechnung der den DistriktSärzten vorbehaltenen An sprüche in daS Pauschale gaben. Dieses Entgegenkommen war ein um so größeres Opfer, als die Aerzte damit rechnen müssen, daß die Familienbehandlung vielleicht noch längere Zeit wegfällt, denn zur Wiedereinführung kann die Kasse nicht gezwungen werden. Aber auch für den Fall der Wiedereinführung der Familienbehandlung haben die Aerzte von ihren früheren Forderungen nachgelassen. Sie verlangten ursprünglich ein Pauschale von 4 für jedes ledige und 12 für jedes verheiratete Mitglied. Da sich die Zahl der Ledigen und Verheirateten ungefähr die Wage hält (je 70 000), so hätte das einen Durchschnitt von 8 ergeben. Die Aerzte haben sich nun mit 7,50 zufrieden erklärt. Weiter aber halten die Aerzte in dem von der Kaffe ursprünglich geforderten Vertrage verlangt, daß sich das Pauschale vom Jahre 1907 ab jährlich um je 30 für das Mitglied erhöhen soll, bi- 90 Proz. der 89er Taxe erreicht sind. Das hätte für 1907 eine Mehrbelastung der Kasse von 42 000 für 1908 eine solche von 84 000 und für 1909 (und zwar von da ab dauernd) eine jährliche Mehrbelastung von rund 100 000 ergeben. Hierauf haben die Aerzte verzichtet und sich damit begnügt, eine etwa als Bedürfnis sich ergebende Erhöhung des Pauschale dem eventuellen Spruche des Schieds gerichts anheimzustellen. Was bleibt also schließlich den Aerzten für ein peku niärer Vorteil? Wir fürchten sogar, daß es noch eine ganze Zeit dauern wird, bis sie auch nur die Einnahmen wieder haben werden, die sie unter den a lten Bedingungen bezogen. Und nur die Hoffnung, daß es gelingen wird, die Verträge der bisherigen Distriktsärzte auf glimpfliche Weise zu lösen und überhaupt diesen schädlichen Ueberschuß an ärztlichen Arbeitskräften ganz oder teilweise wieder zu be seitigen, läßt die Lage als erträglich erscheinen. Wenn deshalb jetzt die Kassenmitglieder bearbeitet werden, um sie gegen die Aerzte aufzubringen, indem man ihnen von „Vergewaltigung" und anderen Dingen zu Gunsten deS „GeldsackeS" der Aerzte etwas vorredet, so heißt da einfach die Tatsachen auf den Kopf stellen. Und von dem gesund« Verstände der Kassenmitglieder «nd dec richtig.« Erkenntnis ihre« eigenen Vorteils ist zu erwarten, daß sich in kurzer Zeit di« Mitglieder der Kaffe nicht nur mit dem jetzigen Stande der Dinge au-söhnen, sondern ihn al« einen eminentenFortschritt gegenüber dem früheren und besonder« gegenüber dem Distriktsarztsystem ansehen werden. Schließlich ist eS denn doch eine Kulturerrungenschaft ersten Range«, wenn gerade die am wenigsten bemittelten Schichten deS Volkes die Möglichkeit einer fast unbe schränkten Auswahl unter der Aerzteschaft einer Stadt wie Leipzig haben, eine Möglichkeit, die manchem Nichtmitgliede als etwas Beneidenswerte« erscheinen muß. Von dem Segen dieser tatsächlichen Verhältnisse ist zu hoffen, daß er die rhetorischen und sonstigen Aufwiegelungs versuche sehr bald zunichte machen werde. ver Humana cker Herero. Lstorff« Vormarsch. Die neueste Meldung LeutweinS, daß Major v. Eitorfs am 7. bei Otjikuara Fühlung mit dem Feinde genommen habe, wird von der „Nordd. Allgem. Ztg." mit folgendem Kommentar begleitet: Major v. Estorfs ist somit, wie angekiindigt war, am 4. d. M. von Otjoscsu abgerückt, und seinen Feststellungen wird es zuzu schreiben sein, daß die Meldung vom 4. d., daß die Herero an scheinend nach Otjiamangombe, also nordwestlich von ihrer bis herigen Stellung bei Katjapia, zurückgingen, am 7. d. dahin ab geändert wurde, daß der Feind bei Onjatu, also nördlich von Katjapia stehe. Major v. Estorfs, der, wie man aus der Meldung vom letztgenannten Tage annehmen mußte, anfäng lich beabsichtigt hatte, bei Otjikuoko den Herero abwartend gegenüber stehen zu bleiben, ist also weiter nordwärts bis Otjikuara vorgegangen, wo er bereits Fühlung mit dem Feinde genommen hat. Major v. Estorfs befindet sich also jetzt in der Gegend, in die Major v. Glasenapp nach dem schweren, aber siegreichen Gefecht bei Okaharui am 2. April die zurückweichenden Herero gedrängt hatte und wo er sie wieder anzugreifen be absichtigte. Die Herero ließen sich aber nicht mehr in einen Kampf rin, sondern zogen sich, ersichtlich weiter nordwärts, so weit zurück, daß Major v. Glasenapp bei der nur einige Kilo- meter nordöstlich von Otjikuara gelegenen Wasserstelle Onjatu ein Biwak beziehen konnte, das er am 21. April wegen der Tvphus- erkrankungen bei seinen Abteilungen verließ, um nach Otjihaenena zu marschieren. Da in den Meldungen der letzten Wochen nicht mehr die Rede davon war, daß sich in der Gegend östlich von der Linie Oljosasu-Oviumbo Herero aushalten, und Major v. Estorfs auf seinem Vormarsch bis Otjikuara keinen Zusammenstoß mit den Herero hatte, so haben sich wohl die gesamten Scharen der Auf- ständischen, deren Angriffe Oberst Leutwein bei seinem Vormarsch am 13. April bei Oviumbo zurückgewiesen hat, die der Häuptlinge Samuel Maharero, Assa Riarura, Kajaeta, Tetjo und Mambo, über Otjikuara hinaus nordwärts zurückgezogen. Wie dem „L.-A." aus Windhuk gemeldet wird, stieß die erste Feldkompagnie am 6. d. M. hei Otjikuoko auf eine ver einzelte Hererowerft, deren Bewohner in so wilder Flucht davonliefen, daß sie trotz schärfster Verfolgung nicht mehr eingehvlt werden konnten. Die Verwendung von Berittenen war nr dem mit dickem Dornbusch besetzten Gelände unmöglich. — Von dem bekannten Simon Eopper, einem Häuptling im Süden des Schutzgebietes, wurden dreißig Mann für Kriegszwecke nach Windhuk gestellt. Otjikuoko wurde mit der 6. Kom pagnie und einer Abteilung Bastards belegt. Wenn bei diesem kleinen Zwischenfall die Berittenen auch nicht ein greifen konnten, so darf man doch erwarten, daß sie bei ernsteren Engagements Gelegenheit zu wirksamer Betätigung finden werden. Ewig wird sich der Feind in dem unweg samen Gelände, in das er sich jetzt wieder zurückgezogen hat, nicht halten können. Ihn aus diesen Schlupfwinkeln zu ver treiben, dürfte Major von Estorfs sich zur Aufgabe gemacht haben. ver rnrrirch-iapanircde Krieg. Japan» künftig« Politik. * London, 11. Mai. Ein Vertreter des „Reuterschen Bureaus" hatte eine Unterredung mit dem hier weilen den japanischen Staatsmann Baron Suyematsu, in deren Verlauf letzterer bezüglich verschiedentlich ausgesprochener Befürchtungen über Japans künftige Politik äußerte: Japans hauptsächlichstes Ziel ist, Rußland so weit wie möglich zurückzudrängen. Es soll Ruß land unter keinen Umständen gestattet werden, künftig den geringsten politischen und territorialen Halt in Korea zu fassen. Der Status Koreas wird der eines japanischen Aegypten fein. Was die Mantschurei angeht, so wünscht Japan dort keine anderen Rechte, als die, welche alle Mächte gemeinsam genießen. Die Mantfchurei soll Chinazurückgegeben werden, doch werden Maß regeln zu treffen sein, die für die Zukunft jede Rückkehr zu den vor dem Kriege vorhandenen Verhältnissen unmög lich machen. Vielleicht wird eine Art Pufferstaat unter chinesischer Souveränität in der Mantschurei zu schaffen sein. Was China betrifft, so kann kein Zweifel über Japans angelegentliche Sorge bestehen, daß die Neu- tralität Chinas bewahrt bleiben soll. Die Hauptgefahr liegt bei Rußland selbst. Denn die Russen unternehmen Dinge, welche die Chinesen erregen und auf diese Weise zu einem Bruch der Neutralität Chinas hin leiten können. Auf keinen Fall lege ich den auf dem Fest lande geäußerten Befürchtungen den Wert bei, daß irgend ein Wechsel in der Haltung Chinas eine kontinentale Großmacht in die Streitfrage des Krieges hineinziehen würde. Welches immer die Erfolge Japans sein mögen, seine Politik ist, die absolute Bewegungsfreiheit für alle Mächte in Ostasien zu sichern. Keine westländische Macht braucht die geringste Besorgnis zu hegen, daß Japan möglicherweise infolge des gegenwärtigen Kampfes an Größenwahn leiden werde. Aann sich Port Arthur lang« halt««? Von vorzüglich unterrichteter Seite wird uns ge schrieben: L. Beim Ausbruch des Krieges war die Festung unglaublich schlecht vorbereitet. Da die Japaner aber Zeit und Ruhe ließen, ist das Versäumte wenigstens etwas nachgeholt worden. Wochenlang wurde Tag und Nacht an neuen Befestigungen, Batterien, Schanzen, Gräben, Pallisaden, Verhauen, Drahtzäunen usw. ge arbeitet. Ingenieur- wie Hafenverwaltung zahlte den Kulis doppelten und dreifachen Arbeitslohn. In der Stadt wurden fämtliche Telephone abgenommen, die Taubenbucht und alle neuen Werke telephonisch mit der Kommandantur verbunden und zahlreiche neue Beob achtungsposten eingerichtet. Jetzt umgibt ein Kranz von neun Befestigungslinien Port Arthur von der Landseite; die Werke finden ihren Abschluß bei Kintschau, der schmälsten Stelle der Halbinsel. Die Werke bei Kintschau sind in den Händen der Japaner und auch die nächsten Befestigungen und Höhen werden sie, von ihren Kriegs schiffen auf beiden Seiten der engen Halbinsel unterstützt, unschwer nehmen können. Dann verbreitet sich die Halb- insel bedeutend, und die mit Forts und Batterien ge krönten Berge müssen successive genommen werden, wo bei aber bei einzelnen den Japanern wiederum die Flotte wertvolle Dienste leisten wird. Die Garnison von Port Arthur ist zahlreich, aber schwerlich reicht sie aus, um den ungeheuren Rayon zu besetzen, und man wird sich von vornherein entschließen müssen, einzelne Werke, höchst wahrscheinlich auch Dalny, aufzugeben. Da« Schicksal Nintschmang«. * Niutschwang, 10. Mai. Der militärische Berater des Vizekönigs Juanschikai, Oberst Munthe, ist heute nach mittag hier eingetroffen. Man nimmt an, daß er sich mit den russischen Behörden besprechen will, welche damit einverstanden seien, Niutschwang China zu Feuilleton. Anfang nächster N)oche beginnen wir an dieser Liesse mit dem neuesten Roman von Attdrl» Zenrrn, „cs««r «»ne»", worauf wir unsere Leser wie alle Interessenten jetzt schon aufmerksam machen. Vie Geschichte einer Glücklichen. 1j Eine Novelle. Don Gabriele von Lieres und Wilkau. Nachdruck verboten. Zwei Freunde, ein Student in den letzten Semestern und ein Architekt, zogen sie ferienfreudig in die Pfingsten, mit dem Schnellzuge dem zwischen Wald und Hügeln lieblich gelegenen Bergorte Bechtau nahend, um im Tale des hier ziehenden Flusses dann ein weiteres Stück der schlesischen Heimat zu Fuß zu durchstreifen. Schon waren sie dem Ziele ganz nahe. Ludwig Mar- tius, der Mediziner, spähte eifrig zum Coupofenster hinaus. „Immer deutlicher erkenn' ich die Gegend wieder", rief er. „Dort, jener Wald, war das Ziel unserer Schul- spaziergänge. Hier im Flüßchen badeten wir im Sommer." In Erinnerung verloren, lachte er; vor seinem Geiste stieg die Knabenzeit auf, in der er, ehe er da« Gymnasium bezog, einige Jahre hindurch Zögling des Provinzial- Weisenhauses gewesen war, das sich noch heute in Bechtau befand. An zweihundert Knaben schloß es ein und die Lehrer, davon die meisten in zwei rechts und links vom AnstaltSgebäude den Schulhof grenzenden Häusern wohnten. Der alte, heimlich oft räuberisch angegriffene Nuß baum auf dem Hofe, die hallenden Flure, die frischen Ge sichter der Gefährten, die grauen Mauern des Waisen Hauses, Ludwig sah das alles wieder greifbar deutlich vor sich. — In Bechtau angelangt, pilgerten die Freunde dem Gasthofe am Markte zu, ein jeder sein Ränzel an der Seite, den Wanderstecken in der Hand. In den Anlagen neben dem Stationsgebäude blühten Goldregen und Jas min. Breit lag der Sonnenschein über den jungen Lin den, die in zwei Reihen längs der Bahnhofstraße standen. Dem Zuge der soeben angekommenen Reisenden und mit diesem den Wandergenossen entgegen kam raschen Schrittes ein junges Mädchen. Sein einfaches Kleid um schloß eine schlank-kräftige Gestalt, unter dem abgetrage nen Hut hervor leuchteten warm und herzlich zwei Braun- äugen. Manfred lächelte bereits unternehmend. Das Mädchen gewahrte nichts davon. Seine Auf- merksamkeit war teils auf ein umfangreiches Paket gerich tet, das es mit der Linken an sich drückte, teils auf zwei rote Rosen, die es in der Rechten hielt. So ganz war es in ihr Beschauen vertieft, daß es die Studenten gar nicht bemerkte. Manfred seinerseits wich grundsätzlich niemals einem hübschen Mädchen aus. Warum also dieser frischen Kleinen? Im Gegenteil, er tat durchaus nichts dawider, daß die Nichtsahnende jählings fast in seine Arme rannte. Sie fuhr zusammen, blickte auf, und wie sie nun dicht vor dem ihren das kecke Männergesicht gewahrte, erschrak sie so heftig, daß sie mit einem Schrei ihre Bürde fallen ließ. Ihre Züge erglühten unter dem abscheulichen Strohhut zu Purpur und doppelter Lieblichkeit. Der Packen war im Niederfallen aufgesprungen und hatte seinen Inhalt, ungenähte Wäsche, auf das Pflaster des Bürgersteiges verstreut. Sie bückte sich, das Verlorene aufzusammeln. Nun ganz Bereitwilligkeit und Entgegenkommen, half Man- fted ihr. Dabei redete er eifrig auf sie ein. „Verzeihen Sie den Zusammenstoß! Aber wer denkt an die Gesetze der irdischen Körperlichkeit, wenn er ein himmliscbes Bild vor sich sieht! Erlauben Sie, daß ich wieder gut mache, so weit ich es kann!" Und mit einem geschickten Griff die jetzt unbeachtet im Staube liegenden Rosen an sich bringend, plötzlich in schmeichelnder Verwegenheit: „Die bleiben doch mein?" Sie richtete sich rasch auf. Ihr befangenes Lächeln wich jäh dem Ernst. „Es wär' mir wenig lieb!" sprach sie beinahe herb, er griff die Rosen, die ihr nicht mehr vorenthalten wurden, und enteilte. „Manfred, gefährlichster aller Herzensdiebe, sie hat dich wahrhaftig abfallen lassen!" rief mit unverhehlter Schadenfreude Ludwig, der voll Tugendlichkeit lediglich Zufchauer des kleinen Abenteuers gewesen war. Manfred stand, sah mit aufglänzenden Augen dem Mädchen nach und schwieg. — Nachdem die Freunde im Wirtshause eine Mahlzeit und einen guten Tropfen zu sich genommen hatten, kamen sie überein, daß die Sonne schon tief am Himmel stehe und daß sie wohl daran tun würden, ihren Wanderstab heute nicht mehr weiterzusetzen. Hier im Gasthofe wollten sie übernachten und niorgen mit dem Frühesten auf- brechen. Der Rest des heutigen Tages aber sollte einer Streife in die nächste Umgebung geweiht sein. Während die Kameraden dem Tore zustrebten, sah sich Manfred an jeder Ecke ungeduldig um. Ludwig, der seinen Freund kannte, hatte schon vorher aus dessen Zer streutheit beim Biere schweigende Schlüsse gezogen. Nun bemerkte er mit stiller Genugtuung, daß der Gegenstand, welchen jener offenbar zu erblicken erwartete, nirgends zu sehen war, so viel der blond- oder braungezöpften Bürgerstöchterlein auch über die Gasse huschten, in denen Manfred Richter seine stattliche Gestalt und seinen neuen hechtgrauen Sommeranzug nun spazieren trug. Denn Ludwig war ein Jüngling von Grundsätzen und billigte durchaus nicht all den leichtfertigen Zeitvertreib, dem der andere mit Vorliebe nachhing. Herrlich war der den Ort umschließende Wald. Doll Naturschwärmerei und dazwischen wieder tiefsinnige Ge- spräche führend, schritten die Gefährten in ihm dahin. Als sie beide soeben mit aller Schroffheit und allem Pessimismus der Jugend und in sonderlichem Gegen satz zu der kreuzfidelen Stimmung, die sie selbst heute den Tag über kundgeaeben hatten, über die Jämmerlichkeit der Erde und die Nichtigkeit deS Angenehmen und Erfreu- lichen auf dieser verhandelten, schlug Manfred mit fernem Stock unbarmherzig in einen Busch gelblicher Jmmor- testen, die aus dem Moose am Wegrand hervorleuchteten „Widerliche Blumen!" rief er wild. „Sie duften nicht sie glühen nicht, und doch vermag sie der Winter nicht zu zerstören; bleich, aber lebend kommen sie aus dem Schnee hervor, der Besseres vernichtete. Sie gemahnen mich an gewisse Gedanken, blaffe Träume, die niemand erfreuen, und die, dennoch von keinem Sturm der Seele verweht, zudringlich dort verbleiben, wo sie einmal Wurzel ge schlagen haben " In seinem Blicke leuchtete ein düsteres Feuer. Der Mediziner lächelte. Seit die Freundschaft, welche Manfred auf den Bällen des vergangenen Winters mit der schönen Bankierstochter Ilse Römer angeknüpft, plötz lich und ohne ersichtlichen Grund abgebrochen erschien, hatte Richter öfter dergleichen Anfälle von Lebensverach- tung, von denen Ludwig ganz genau wußte, daß sie dem Freunde ans Leben nicht gehen würden. Auch er sah auf die blassen Blumen zu seinen Füßen. Auch ihm erschienen sie nun wie Träume, die kein Wetter zerstört Aber er fühlte darum keinen Drang, sie zu mißhandeln. Den Rückweg in das Gasthaus suchte man durch eine Dorstadtstraße, die sich auf der Höhe der Berge hinzog, und aus deren ärmlichen Häusern die grauen Gebäude der Waisenanstalt stattlich hervorragten. Gedankenverloren blickte Martius über die Mauern und die im Abendschimmer glühenoen Dächer. Allzu gedankenverloren vielleicht! Im Gasthause angelangt, machte der Mediziner den Vorschlag, in Anbetracht des für morgen beabsichtigten frühen Aufbruches bald zur Ruhe zu gehen. „Tu' wie du willst, Philister! Ich fühle den un abweisbaren Drang, noch länger die erquickende Abend luft zu genießen", rief lachend Manfred und war mit zwei Sätzen zur Haustür hinaus. Ludwig saß allein im Zimmer. Die eine der Kerzen auf dem Tische hatte er angesteckt; unsicher beleuchtete sie das Haupt des Mannes, über den nun erst, da er sich allein fand, die Empfindungen seiner Jugend, aus tiefem Herzen quellende Gefühle mit voller Wucht herein brachen. Und dann dachte er an sein Liebstes auf Erden, an seine Mutter! Geschwister besaß er nicht; sein Vater war gestorben. Der alten Frau höchster Wunsch bestand darin, Ludwig, wenn er sein Doktorexamen gemacht und eine Praxis erworben haben würde, verheiratet zu sehen. Aber ihm war » gar nicht, als mücht' er diesen
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