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Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 10.05.1903
- Erscheinungsdatum
- 1903-05-10
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-190305100
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-19030510
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-19030510
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
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- fehlerhafte Bindung
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
- Monat1903-05
- Tag1903-05-10
- Monat1903-05
- Jahr1903
- Titel
- Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 10.05.1903
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BezugS-PreiS in der HaLptexpedttton oder deren Ausgabe stelle« abgeholt: viertelzährüch ^tl 3.—, bei zweimaliger täglicher Zustellung tu» Hau- 8.78. Durch di« Post bezogen für Deutsch, land a. Oesterreich vierteljährlich 4.80, sür di« übrige» Länder laut ZeituugSpreiSliste. Lr-aktisu uu- Expedition; Iohanntsgaffe 8. Fernsprecher 188 und 022 Ftlial-vpadttt»»«»: Alfred Hahn, Buchhandlg, Universitätsstr.3, L. Lösche, Kacharinenstr. 14» n. KönigSpl. 7. Haupt-Filiale Vresdeu: Marienstraße 84. Fernsprecher Amt l Nr. 1713. Haupt-Filiale Serlin: Earl Duncker, Herzgl. Bayr. Hosbuchhandlg^ Lühowstraße 10. Fernsprecher Amt VI Nr. 4608, WpMer TaMM Anzeiger. Ämtsölatl des Hönigtichen Land- und des Nönigkichen Amtsgerichtes Leipzig, des Nates und des Votizeiarntes der Ltadt Leipzig. Nr. 235. Sonntag den 10. Mai 1903. Anzeiger»-Prei- die 6gespaltene Petitzeile 25 H. Reklamen unter dem Redaktionsstrich (4 gespalten) 78 H, vor den Familiennach- richten (6 gespalten) 80 H. Tabellarischer und ZiffernsaK entsprechend höher. — Gebühren sür ^Nachweisungen und Offertenannahme 25 H (excl. Porto). Srtra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne PostbesSrderung 60.—, mit PostbesSrderung 70.—. Ännahmeschluß für Anzeigen: Abend-AuSgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Die Expedition ist wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis abends 7 Uhr. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. 97. Jahrgang. Aus der Woche. Es verlohnt sich wohl, die Wahlaufrufe, mit denen sich fast alle Parteien um dir Gunst der ReichStagSwäbier bewerben, einmal unter dem Gesichtspunkte zu betrachten, wie in ihnen die Hauptfragen der Gegenwart beurteilt werden, welcher Unterschied und welche Uebcreinstimmung sich dabei ergibt. Was an dem Aufrufe der Nationalliberalen in verschiedenen Blättern beanstandet worden ist, daß er nämlich nach Form und Inhalt zu breit geraten sei, gilt auch von den Proklamationen der meisten anderen Parteien. Daß eS ein Fehler sei, soll damit gar nicht zugegeben werden. Bielleichk ist aber die Bezeichnung dieser Kundgebungen als „Aufrufe" überhaupt nicht ganz richtig. Der knappe, gedrungene Appell, mit dem der Wähler aufgerüttelt werden soll, kann nicht gut Wochen und Monate vor der Entscheidung veröffentlicht werden. Denn seine Wirkung würde längst verflogen sein, wenn eS an die Urne geht. Auch muß er der Stimmung des besonderen Wahlkreises angepaßt, eS sollen in ihm die Ergebnisse und Erlebnisse der letzten KampfeS- wochen noch einmal zusammenzesaßl werden. So hat die freisinnige BolkSpartei von vornherein auf eine Wahl proklamation der Gesamlpartei verzichtet. Diese Aufrufe find weit eher Parteiprogramme. Sie geben den Kandi daten, den Agitatoren und den Publizisten die Richtschnur für die Wühlarbeit, dem gebildeten Leser die erste Grundlage sür die Erwägungen, unter denen er in den Parteiversamm- lungen die Redner beurteilt. In diesem Sinne können wir die Ausführlichkeit deS nationalliberalen Wahlaufrufes nicht tadel«. Wir loben au ihm eine gewisse Großzügig keit der Ausdrucksweise, die dem uanonalen Empfin de» durchaus gerecht wird. Sie trat auch hervor in der Stimmung, von der die Beratungen des DelegierteutageS beseelt waren. Daß unter den erfahrenen Männern der obersten Parteileitung jetzt auch die Ver treter der jungliberalen Bereine sich wohl zu fühlen be ginnen und daß man ausrichtiges Gefallen an ihnen finde», — auch daS ist eia gutes Zeichen für den Schwung des in unserer Partei gepflegten Nationalgefühles. Wie geben sich nun in den Proklamationen die Unterschiede der Parteien zu erkennen? Nationalliberale, Zentrum und Freikonservative sehen in dem neuen Zolltarif die Grundlage, auf welcher für eine gesunde Entwickelung von Landwirtschaft und Industrie Handelsverträge, deren Lang fristigkeit die Nationalliberalen besonders betonen, zu Stande gebracht werden können und müssen. Während tneFreisinn ige Vereinigung schon aus dem Tarif eine Verschlechterung der bandelSpolitischen Lage ableitet, ist die deut sch konser vative Partei „an sich nicht unbedingt gegen langfristige Han delsverträge", will ihnen aber nur dann zustimmen, wenn sie der Landwirtschaft wesentlich bessere Existenzbedingungen bieten, wobei die Frage offen gelassen wird, ob der neue Zolltarif deren Erfüllung verheißt oder nicht. Er höhung und Selbständigkeit der Finanzkraft des Reiches unter Schonung der einzelnen Staaten, größte Sparsamkeit in den Ausgaben werden besonders von Konservativen und Freikonservativen betont. Erfreulich ist, daß mit Aus nahme der Sozialdemokraten alle Parteien in ihren Aufrufen die Aufwendungen für Heer und Flotte zur Sicherheit und Wohljahrt des Vaterlandes vertreten. Aber wir finden hier den charakteristischen Unterschied, daß dieFreisinnigen ihre Bereitwilligkeit verquicken mit einem Protest gegen den Militarismus, also einer Konzession an die Sozial demokratie, auf deren Seite wir sie ja auch beim Kampfe um den Zolltarif gefunden haben. Ihnen nähern sie sich auch in dem Tone ihres Ausrufe-, so mit der Unterstellung, daß das Wahlrecht gefährdet werde, mit dem Eintreten sür Gleichstellung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, dem Protest gegen jegliche weitere indirekte Steuer, mit dem allgemeinen Wettern gegen die Großgrundbesitzer, gegen die in Bausch und Bogen als reaktionär bezeichneten Parteien der Konservativen und der National liberalen. Schon mit den Hinweisen auf die wirtschaftlichen Berührungspunkte haben wir denBodcn abgegrenzt, auf welchem diese Parteien sich gelegentlich zusammenfinden. Die Trennung aber ergibt sich sofort, wenn wir an das kirchenpolitische und daS Kultur-Problem gehen. Staatsgewalt, Schule, Kunst und Wissenschaft, daS gesamteVolkSleben gegen die ultra montanen Machtgrlüste zu wahren, mahnen die Nationalliberalen. Die Konservativen gleiten über fast alle diese Grundfragen hin weg, ohne sie auch nur mit einem Worte zu berühren. DaS Verlangen nach einem „VolkSschulgesetz auf christlich-konfessio neller Grundlage" bezeichnet dagegen einen der Punkte, durch welche die Verständigung auch deS gemäßigten Liberalismus mit den Konservativen für absehbare Zeit ausgeschlossen bleibt. ES ist nicht zu bezweifeln, daß auch in der künftigen Legis laturperiode mehr als einmal Fragen zur Verhandlung stehe« werden, in denen gerade unter diesem Gesichtspunkte die Geister sich scheide» werden. Indem sie nicht, wie der Sozial demokrat, di« Kirche aus dem Staatsleben schlechthin ausschaltet, aber bei jeder Frontstellung verselben gegen den Staat dem KlerikalismuS schroff entgegentritt, wird die nationalliberale Partei so recht »um Giundpseiler, der den Fortbestand unserer ans Freiheit deS Geistes nicht minder, als auf natio naler Eigenart beruhenden Kultur sichert. DaS Zentrum proklamiert „friedliches Zusammenleben der Konfessionen aus dem Boden einer hochsinnig gedachten religiö en Freiheit und vollkoiniiiener staatlichtrGleichbertchiigung!"Wle verlockend klingt der Rus! Welcher Liberale möchte ihm nicht folgen! Aber wie anders wirkt er, wenn wir erfahren, daß mit dem „Toleranzantrag" des Zentrums diese Forderung erfüllt werben toll, wenn zu Gunsten der Gleichberechtigung aller Konfes sionen die Beseitigung des in dem „gehässigen Ausnahmegesetze" gegen die Jesuiten und andere katboliiche Orden liegenden „schreienden Unrechts" gefordert wird. Ober blicken wir auf die andere Seile: Bvlköwohlsahrt, Fieibeit, Gerechtig keit sind Ziele, zu deren immer vollkommenerer Er reichung das liberale Bürgertum sein Bestes einsetzen wird. Angeblich unter der gleichen Devise ruft die Sozial bern okr ar ie ihre Scharen aus zur Beseitigung der nationalen Weh>kraft, der Grundlagen von Staate- und Wirtschafts ordnung mit einer Schilderung der deutschen Zustände, als lebten wir unter dem Willkürregiment des Sultans. An daS soziale Problem treten die Sozialdemokraten mit der Forderung des Kommunismus, Zentrum unv Konservative mit der Devise deS Ebristenlums heran. Die National liberale Partei appelliert an die Menschenfreundlichkeit und den Ausgleich der wirtschaftlichen Gegensätze zum Schutze der nationalen Arbeit. In den „Gedanken und Erinnerungen" des großen Bis marck, an dessen Worte wir in dieser Zeit des Wahlkampfes mit Vorbedacht so häufig ankuüpsen, finden wir solgende Sätze über daS heutige Parteiwesen: „Dir Parteien scheiden sich weniger durch Programme und Prinzipien, al« durch die Personen, welche als Condottieri an derSpitze einer jeden stehen undfür sich eine tuöglichst große Gefolgschaft von Abgeordneten und publizistischen Strebern anzuwerben suchen, die hoffen, mit dem Führer ober den Führern zur Macht zu gelangen. Prinzipielle programmatische Unterschiede, durch welche die Fraktionen zu Kanipf und Feindschaft gegen einander ge nötigt würden, liegen nicht in einer Stärke vor, die hinreichte, um die leidenschaftlichen Kämpfe zu motivieren, welche die Fraktionen gegen einander glauben ausfechten zu müssen, und Konservative und Freikonseroative in getrennte Lager verweisen." Hal bei solchen Gegensätzen, wie sie in den Wahlaufrufen hervortreten, Bismarck mit seiner Kritik Unrecht? Verdient die in ihr liegende Mahnung nicht, beherzigt zu werden? Die Stellung der Parteien er scheint unS so, daß zwar Konservative und Freikonservaiive nur Nuancen einer und derselben Farbe sind. Auch freisinnige Bei einigung, freisinnige und süddeutsche Volkspartei unterscheiden sich nicht durchPrinzipieu. Der Konservaliveund der Nationalliberale werden getrennt durch daS Verhältnis zum Kutturproblem, daS zugleich die unübersteigbare Schranke gegen das Zentrum barstellt. Die Sozialdemokratie aber siebt außerhalb des Bodens, auf welchem die anderen großen Parteien ihre Gegensätze auSsechlen. Bündnisse zwischen Zentrum und Nationalliberalen werden in einer Zeil, da die Schwäche der Negierungen dem klerikalen Anstürme Vorschub leistet, ausgeschlossen sein. Wohl aber können, wenn eS gegen die Sozialdemokratie geht, Konserva tive, Nationalliberale und Freisinnige sich mit den kleinen Parteien solidarisch erklären. Wenn die Sozialdemokratie daS „Mischmasch der Reaktion" nennt, so bleibt ihr das un benommen. Die Notwendigkeit solcher Abmachungen hat erst sie selbst geschaffen, im allgemeinen durch ihr staatsfeindliche- Programm, im besonderen durch die Zügellosigkeit und den Terrorismus ihrer parlamentarischen Opposition. Die sozialdemokralilchen Hüter der Gejchäfsordnung. Ein hervorragendes Mitglied des Reichstages schreibt uns: Während der Zolltarifverhandlungen haben die Sozial demokraten und die mit ihnen verbündeten Waden- strümpfler sich den Anschein gegeben, als ob die Mehrheits parteien eine Art Berfassungsbruch begingen, als sie die Geschäftsordnung des Reichstages änderten. Insbeson dere wurde auch der Antrag Kardorff selbst als geschäfts ordnungswidrig bezeichnet, obwohl die Mehrheit, wenn sie mit ihrer Auslegung der Bestimmungen der Geschäfts ordnung nur irgendwo in Zweifel gewesen wäre, doch die Macht und das Recht gehabt hätte, auch in diesem Punkte die Geschäftsordnung abzuändern. Man sollte nun meinen, daß die um Singer ihrerseits eine besondere Heilighaltung der Geschäftsordnung beob achten würden; sie machen cs indes hier, wie auch sonst, Verfassung, Freiheit und Recht sind immer nur da, so lange sie der Sozialdemokratie nützlich sind; ist das nickst der Fall, dann pfeift man darauf. So auch gebt'- mit der Ge- schäftSordnung. Zu gnnstcn der Sozialdemokraten unan tastbar, existiert sic nicht mehr, wenn sie den Interessen der Sozialdemokratie hinderlich ist. Ein charakteristisches Bei spiel hierfür bot die letzte Reichstagssitzung. Nachdem die Sozialdemokraten durch Beantragung einer namentlichen Abstimmung bei 8 12 des Krankcn- kassengcsctzcs den Reichstag bcschlusiunfähig gemacht und das Zustandekommen des Gesetzes damit in Frage gestellt hatten, begann der Staatssekretär des Innern, ohne die große politische Tragweite zu bedenken, die bei den Wahlen diese Borgünge gewinnen mnsitcn, jene Kompromißver- handlungen, welche durch eine bemerkenswerte Willfährig keit des Zentrums erfolgreich wurden. Allein Herr Singer wollte seinen Sieg über die ressortmäßige Kurz sichtigkeit völlig ausnüycn. Ihm genügte nicht die ein fache Kapitulation, er verlangte eine feierliche Uebergabe. Ob die angeblichen Arbcitcrvertreter auch hieran ein für die Arbeiter so wichtiges Gesetz hätten scheitern lassen, wissen wir nicht. Jedenfalls wurde cs dem Zentrum und dem Präsidenten Grafen Ballestrem sehr schwer, auch hier den Sozialdemokraten nachzugebcn; denn deren For derung war völlig geschäftsordnuttgswidrig. Aber Singer bestand auf seinem Schein nnd behielt Recht, da er offen bar den anderen an Mut überlegen war, und so wurde der Reichstag dadurch überrascht, daß mitten in einer Ab stimmung der Abgeordnete Trimbvrn zur Abgabe einer Erklärung das Wort erhielt und daß Singer ihm antwortete — übrigens auch in dieser kurzen Antwort offen mit Obstruktion drohend, wenn die Mehrheit nicht über seinen Stock springen würde. *) EugenRichtcr war auch hier wieder korrekt, indem er Verwahrung da gegen etnlegte, „daß inmitten der Abstimmung, und da rum handelt es sich hier, solche Erklärungen abgegeben werden". Präsident Graf Ballcstrem antwortete hierauf: „Ich stelle fest, in welchem Stadium sich die Verhandlung zu letzt befand. Die Diskussion über 8 12 rcsp. Nr. XIV der Kominissionsbcschlüsse war geschlossen. Die Abstim mung über die einzelnen Absätze desselben hatte stattge- fnnden; der Herr Abg. Singer hatte beantragt, über den ganzen 8 12 namentlich abzustimmcn .... Während der namentlichen Abstimmung stellte sich die Beschlußunfähig- keit des Hauses heraus. Wir befinden uns daher wieder in dem Stadium vor Beginn der nament lichen Abstimmun g." Diese Erklärung des Grafen Ballcstrem ist völlig zu treffend, beweist aber nichts gegen den Abg. Richter. Der Präsident war vielleicht selbst von dem Ungewöhnlichen des Vorganges überrascht und hatte diesen nicht völlig überdacht; denn sonst hätte er das Geschäftsordnungs widrige dieser Erklärungen erkennen müssen. Er hatte auch hier wohl Singer zu leicht sein Ohr geliehen, wie an jenem Tage, da Singer ihn dahin brachte, Uber einen Schlußantrag einen Antrag auf einfache Tagesordnung zuzulassen. Wie ernst cs den Sozialdemokraten damit ist, wenn sie sich als Hüter der Geschäftsordnung aufspielen, hatten sic damals bewiesen; die Geschäftsordnungskom- mission hat später diesen Unsinn selbstverständlich abgetan. Als aber die Mehrheit damals, um den Präsidenten zu schonen, die Widersinnigkcit aus sich nahm und nur die Be sprechung der Sache in der Geschäftsordnungskommission durchsetzte, da gcberdeten sich die Sozialdemokraten, als ob alle Volksrechte auf einmal angetastet würden. Die namentliche Abstimmung konnte von Herrn Singer zurückgezogen werden, das ist zweifellos, und ebenso ist cs richtig, daß damit der Reichstag wieder in dem Stadium vor der namentlichen Abstimmung mar. Aber dann war er nicht vor der Abstimmung überhaupt, wo Ge schäftsordnungs-Bemerkungen zulässig sind, sondern, wie der Abg. Richter richtig hervorhob, inmitten der Ab stimmung. Die Fragestellung über die einzelnen Absätze und über den Gesamtsatz 42 ist eine einlzeitliche, die Ab stimmung hatte begonnen, indem über die einzelnen Ab sätze abgestimmt wurde; die namentliche Abstimmung war nicht eine Abstimmung an sich, sondern geschah auf Grund der Fragestellung über die Einzelabstimmungen, die voll zogen waren, gehört also mit diesen zusammen und folg, lich wurden die Erklärungen mitten zwischen den Au- stimmungen abgegeben, was geschäftsordnungswidrig ist. Die vom Abg. Richter und später vom Abg. vr. Arendt hierüber gemachten Bemerkungen wurden auch von keiner Seite widerlegt. Was der Präsident sagte, war jedenfalls eher eine Bestätigung als eine Widerlegung der Richter- schcn Kritik. Herr Singer aber schwieg, ein Beweis dafür, daß er dem Abg. Richter selbst Recht geben mutzte. Man wutztc, daß man wider die Geschäftsordnung handelte; aber zum größeren Ruhme der Sozialdemokratie ist alles er laubt. Der „Kotau vor der Sozialdemokratie", wie der Abg. vr. Arendt sich ausdrückte, erforderte auch einen Bruch der Geschäftsordnung. Der ganze Vorgang ist so charakteristisch, daß mir jetzt, wo der stcnograplstsche Bericht vorlicgt, darauf zurück kommen wollten, um die Scheinheiligkeit der Sozialdemo kraten ins rechte Licht zu stellen, wenn sie sich als Hüter der Geschäftsordnung aufsptclen. In Anwendung des Satzes, daß der Zweck die Mittel heiligt, sind die Sozialdemokraten unübertreffliche Meister. *) „Nachdem der Abg. Trimboru namens seiner Fraktion die eben gehörte Erklärung abgegeben hat, und unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, daß ich meinen Freuden für die dritte Beratung alles Vorbehalte, für den Fall, daß .... die Anträge nicht angenommen werden, . . . ziehe ich den Antrag auf namentliche Abstimmung zurück" — so sprach Singer. Deutsches Reich. -7- Berlin, 9. Mai. lDte Reform der Straf- gesetzgebung und die Wahlen.) Die beab sichtigte Reform der Strafgesetzgebung in Verbindung mit den bevorstehenden Wahlen zu bringen und für die Wahlagitation auszunutzen, ist ein gewisses Kunststück, das aber von der sozialistischen „Sächsischen Arbeiter zeitung" mit Schwung und Eleganz vollbracht wird. Das Blatt schreibt nämlich am Schlüsse eines Artikels über die Strafreform: „Fallen die Wahlen am 16. Juni bei weitem überwiegen- zu Gunsten der Sozialdemokratie aus, so wird dies den auf richtigen Menschenfreund mit Genugtuung auch insofern erfüllen, als damit der F o r t s ch ri t t a u f - e r Bahn einer humanen Strafvollstreckung, weiter der Verhütung von Verbrechen und Vergehen, ge währleistet würde." Worin diese Fortschritte be stehen würden, kann man aus dem Artikel des soziali stischen Blattes selbst entnehmen. Da wird zunächst „vor allem" für die Abschaffung der Todes st rase plädiert. Tas bedeutendste erziehliche Moment sei das Beispiel, und da müsse vor allem die Gesellschaft voran gehen: Blutvergießen um keinen Preis. Wenn das Beispiel, das die Strafvollstreckung gibt, ein so erziechtiches Moment wäre, so müßten in Italien, wo die Todesstrafe abgeschafft ist, die Mordtaten sehr viel seltener sein, als in Deutschland. Tatsächlich aber sind sie zehnmal so häufig wie bei uns. Das Blatt polemisiert dann weiter sehr entschieden gegen die angeblich „von unseren Reaktionären" begünstigte Strafart der Ver schickung in eine Strafkolonie. Die Depor tation ist im letzten Jahrzehnt mit großem Eifer eigent lich nur vou dem Breslauer Professor Bruck befür wortet worden, der unseres Wissens nicht einer „reak tionären" Partei angehürt. Kolvnialfreundliche Kreise, ohne Unterschied der Parteirichtung, haben sich gegen die Deportation mit Bestimmtheit erklärt; die Einführung derselben ist, einerlei wie die Zusammensetzung des neuen Reichstages ausfallen möge, vollständig aus geschlossen, schon um der enormen Kosten willen. Auch für die Bildung von Strafkolonien innerhalb Deutsch lands selbst dürste sich kaum jemals ein« Reichstagsmehr heit begeistern. Um also derartige Pläne hintanzuhalten, braucht die Wählerschaft keine Sozialdemokraten in den Reichstag zu entsenden. Im übrigen ist es überhaupt ausgeschlossen, daß der künftige Reichstag eine „den auf richtigen Menschenfreund mit Genugtuung erfüllende" Strafprozeßreform im Sinne der Sozialdemokratie durchführt. Zunäcksst gehört auch zu der Reform des materiellen und des prozessualen Strafrechts nicht nur der Reichstag, sondern auch die Regierung, und wenn der Reichstag wirklich das Strafrecht den Wünschen der Sozialdemokratie entsprechend umgestalten wollte, so würde garnichts zu stände kommen, währen- sonst eine vernünftige Reform wohl möglich ist. Zum zweiten ge hört der ganze Größenwahn der Sozialdemokratie dazu, um den Wählern vvrzuspiegeln, die Wahlen vom 16. Juni könnten „bei weitem überwiegend zu Gun sten -er Sozialdemokratie" ausfallen. „Bei weitem überwiegend zu Gunsten der Sozialdemokratie", das heißt in schlichtes Deutsch übersetzt, daß die Möglich keit einer sozialistischen Neichstagsmchrhcit gegeben wäre. Damit ist ein interessanter neuer Rekord sozial demokratischer Wahlphantasien ausgestellt; bisher ver stiegen sich die größten Phantasten nur zu der Behaup tung, daß die Sozialdemokratie in 158 Wahlkreisen mit einiger Aussicht auf Erfolg in den Wahlkampf eintreten könire. Nun, die Sozialdemokratie wird weder die Neichstagsmehrheit, also zum mindesten 199 Mandate, noch 158, noch auch nur 100 Mandate erhalten, sondern, wenn sie sehr viel Glück hat, möglicherweise 75. Das ist ja auch eine ganz stattliche Anzahl, und es soll gewiß nicht bestritten werden, daß 75 sozialistische Abgeordnete in Verbindung mit irgendwelchen Parteikonstellationen in der Lage sein könnten, eine ihnen unbequeme Strafrechts reform zu Falle zu bringen; eine Reform von sozialisti schen Gnaden aber werden wir keinesfalls haben. /S. Berlin, 9. Mai. (Zur internationalen Organisation des Anarchismus.) Nach einer öffentlichen Erklärung, die -er Anarchist Sy in der neuesten Nummer des Anarchisten blattes „Neues Leben" erläßt, macht die internatio nale Organisation des Anarchismus Fort schritte. Es hat sich in London eine „internationale Korrespondenzgruppe" gebildet, die den Anarchisten em pfiehlt, in jedem Lande eine Zentrale einzurichten, deren Obmann mit der Londoner Gruppe in Verbindung zu treten hat. Hierdurch werde es ermöglicht, eine voll ständige Uebersicht über den Gang der anarchistischen Be wegung zu erhalten und das Ergebnis in allen Sprachen zu veröffentlichen. Aus verschiedenen Ländern, nämlich aus Norwegen, Schweden, Deutschland, Frankreich, Spanien, Argentinien, Oesterreich, -en Bereinigten Staaten, sind bereits in London Korrespondenzen und Erklärungen eingelaufen, daß man mit der Londoner Gruppe Zusammenwirken wolle. Eine derartige inter nationale Organisation deS Anarchismus kann natürlich auch andere Dinge behandeln, als die Berichterstattung über den Gang der anarchistischen Agitation. * Berlin, 9. Mai. Die Verwaltung der Krankenkassen ist während der Beratung der No- velle zum Krankenkassengesetze mehrfach erörtert worden. Die Regierung hatte im Sinne, die Befugnisse der Ver waltungsbeamten der Kassen einzuschränken. Un- die Zentrumspartei, bei welcher die Entscheidung lag, zeigte nicht wenig Lust, der Regierung in ihren Absichten zu folgen. Ja, der Abgeordnete v. Savignn ging sogar noch viel weiter als die Regierung. In letzter Stunde wurden aber diejenigen Bestimmungen in der Regierungsvorlage, durch welche im wesentlichen -ie Stellung der Kasscnver- waltungen verändert werden sollte, gestrichen oder amen- diert. Aus den Erörterungen gelangt aber die „Boss. Ztg." zu folgendem Vorschläge: Man sollte der Beamtenkatcgorie der Kaffenangestellten mehr Beachtung schenken, als die- bisher gemeinhin geschehen ist. In Betracht kommen dabei die besoldeten Beamten, vor allem diejenigen in leitenden Stellungen. Es sind dies die „Rendanten". Die Bezeich. nung ist, was den Verwaltungsmeckmnismus der Kranken kassen angcht, vielfach irreführend. Der Rendant hat zu- meist nicht, wie man dies aus der Bezeichnung schließen sollte, die Finanzen zu leiten, die Einnahmen und AuS- gaben zu bewirken und zu buchen; sondern er ist in Wirk- lichkeit derjenige, der die gesammtcn Geschäfte der Kasse, nicht bloß deren Finanzen, verwaltet. Deshalb haben größere Kaffen auch, der wirklichen Sachlage entsprechend.
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