8o Marcel Beyer Riß im Bild. Dresden als Leseschule i Dresden, das sind mindestens zwei Städte. Da ist der konkrete Ort, den der Fremde mit dem Fin ger auf der Landkarte finden kann und trotzdem bis heute gern mit Leipzig verwechselt, weil er nicht das geringste mit ihm verbindet, schulterzuckend, unbedarft, was die Dresdner zusammen zucken läßt. Und da ist jenes andere Dresden - man könnte sagen, das Dresden der großen und kleinen Erzählungen, dessen Name noch immer eine solch magische Ausstrahlung hat, daß nie mand stutzt, wenn in einem 2005 erschienenen Roman erzählt wird, wie sich eine aus Dresden stammende Figur am Flughafen von New York vor einem Schalter in die Schlange stellt, um ein Flugticket nach Dresden zu erwerben - die Szene spielt im Mai 1963. 1 Einmal nach Dresden, bitte. Hin und zurück? Nein, einfacher Flug. New York - Dresden-Klotzsche, kein Problem, schon sieht man die Figur zum Flugsteig eilen. Denn Dresden, diese Geschichtenstadt, die Erzäh lungen nicht nur in sich birgt, sondern überall auf der Welt Erzählungen auch hervorbringt, ist offenbar von Kaltem Krieg und Mauerbau und Visumpflicht verschont geblieben, das magische Geschichtendresden liegt Anfang der sechzigerJahre nicht in der DDR. Und noch 2005, da sich kein Leser wundert, kein geschichtsbewanderter Literaturkritiker aufmerkt, hat dieses leuchtende Dresden niemals in der DDR gelegen, während die konkrete Stadt desselben Namens für viele wohl auf immer in einer dunkelgrauen DDR versunken bleibt. »Jetzt, da er sich wieder an seine Vermeer-Studie gemacht hatte«, heißt es bei Marcel Proust vom Liebhaber Odettes und Kunstliebhaber Swann, »hätte er allen Grund gehabt, wenigstens für ein paar Tage nach Den Haag, nach Dresden oder Braunschweig zu reisen.« 2 Doch Swann, wir wissen es, wird Dresden nicht besuchen, um Vermeers »Bei der Kupplerin« aus der Nähe zu betrachten, er wird sich weiterhin mit Reproduktionen begnügen, damit er, eifersüchtig, wie er ist, Odette nicht aus den Augen lassen muß. Mit einer Reise Swanns nach Dresden hätte womög lich eine ganz andere Geschichte angefangen. Der Name Dresden: ein Versprechen. Bei Viktor Schklowski etwa, dem großen Vertreter der russischen Formalen Schule, taucht es in einem Aufsatz plötzlich auf wie aus dem Nichts. Wir sind einer detailgenauen Analyse der Beziehung zwischen Alexander Block und Andrej Bely gefolgt, haben mit Schklowski die Entwicklung Belys nachvollzogen, da öffnet sich, ohne Ankün digung, mit einem Mal der Blick, der Raum: »Freunde, in Dresden ist’s schön. Einen hohen Berg gibt es dort, auf dem im Frühling die Kirschen blühen. Und unten Sachsens Felder. Sie sind blau, blau wie tagsüber, bei Sonnenlicht, Walddekorationen im Theater. Diese Dekorationen malt man nicht grün, sondern blau. So blau, schimmernd durch die Frühlingsluft, sind Deutschlands blaue